Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerpflegebedürftigkeit. Pflegegeld. Kinder. Kleinkind. Säugling. Stoffwechselstörung. zusätzlicher Pflegebedarf. Pflegemehrbedarf. Aufsicht. Aufsichtsbedarf. Anleitung. notwendige Feststellung. Zeitaufwand. Schätzung

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Schwerpflegebedürftigkeit (§ 53 SGB V) bei Kleinkindern.

 

Normenkette

SGB V §§ 53-54, 57; BSHG §§ 68-69; SGB XI §§ 15, 17 Abs. 2; ZPO § 287; PflRL (Fassung: 7.11.1994)

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 24.02.1994; Aktenzeichen L 5 K 44/93)

SG Speyer (Urteil vom 26.05.1993; Aktenzeichen S 3 K 227/92)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 1994 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt von der beklagten Krankenkasse (KK) Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit iS von § 53 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V).

Der im April 1991 geborene Kläger leidet an einer Galaktosämie (erbliche Störung des Galaktosestoffwechsels). Die Erkrankung macht eine milchzuckerfreie Diät erforderlich. Das Versorgungsamt hat einen Grad der Behinderung (GdB) um 50 vH festgestellt und das Merkzeichen H für Hilflosigkeit bei Kindern zugebilligt (Bescheid vom 13. Januar 1992). Dem Kläger wurde Pflegegeld nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) gewährt, da nach dem Gutachten des Gesundheitsamtes der mit der notwendigen strengen Diät verbundene Mehraufwand als so erheblich angesehen wurde, daß er dem Pflegeaufwand nach § 69 Abs 4 Satz 1 BSHG (Erforderlichkeit außergewöhnlicher Pflege) gleichzusetzen sei.

Unter Hinweis auf ärztliche Bescheinigungen des behandelnden Kinderarztes und einer Kinderklinik beantragte der Kläger im Januar 1992 die Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit für die Zeit ab 1. Mai 1991. Die Beklagte lehnte dies ab, da der erforderliche Mehraufwand gegenüber einem gleichaltrigen gesunden Kind nach dem Gutachten des medizinischen Dienstes eindeutig keine Schwerpflegebedürftigkeit begründen könne (Bescheid vom 10. Februar 1992; Widerspruchsbescheid vom 3. November 1992). Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 26. Mai 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1994).

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 53 Abs 1, 57 SGB V. Entgegen der Auffassung des LSG seien die Voraussetzungen von § 53 Abs 1 SGB V auch dann erfüllt, wenn ein in einzelnen Lebensbereichen erforderlicher außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand die gesamte Lebensführung des Versicherten präge. Dies sei beim Kläger der Fall. Als Hilfebedarf müsse auch die Anleitung zu den notwendigen Verrichtungen, die Förderung der körperlichen und geistigen Entwicklung sowie die Überwachung des Klägers durch die Pflegeperson berücksichtigt werden. Die Notwendigkeit einer strengen Diäteinhaltung beim Kläger erfordere von den Eltern außerordentliche Maßnahmen, um sicherzustellen, daß das Kind niemals mit verbotenen Lebensmitteln in Berührung komme. Kleinkinder hätte noch in keiner Weise die Einsichtsfähigkeit für die Notwendigkeit der Einhaltung einer strengen Diät. Bei Kindern müsse es allgemein für die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit ausreichen, daß die Voraussetzungen des Merkzeichens “H” nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) bzw der qualifizierten Pflegebedürftigkeit nach § 69 Abs 3 und 4 BSHG vorlägen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 26. Mai 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Mai 1991 Pflegegeld nach § 57 SGB V zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 1994 zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich (gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Rückverweisung begründet. Das LSG hat den Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern verkannt. Der Senat kann aufgrund der Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden, ob der Kläger schwerpflegebedürftig ist.

Nach § 53 Abs 1 SGB V ist als schwerpflegebedürftig anzusehen, wer nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedarf. “Schwerpflegebedürftigkeit” ist, wie der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des 1. und 4. Senats des BSG (SozR 3-2500 § 53 Nr 2 und 4) bereits wiederholt (SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994, 3/1 RK 7/93 und 44/93; Urteile vom 14. September 1994, 3/1 RK 19/93 und 3/1 RK 35/93) dargelegt hat, ein gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff.

Die insoweit bei erwachsenen Versicherten zu berücksichtigenden Tätigkeiten des täglichen Lebens hat das Bundessozialgericht (BSG), ausgehend von den Richtlinien der Spitzenverbände der KKn, in einem Katalog von insgesamt 18 Verrichtungen zusammengefaßt (vgl hierzu die Urteile des erkennenden Senats SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994, 3/1 RK 7/93 und 44/93). Der Katalog setzt sich zusammen aus 14 Verrichtungen des Grundbedarfs aus den Bereichen Mobilität, Körperpflege, Ernährung und Kommunikation sowie vier Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs.

Ergibt sich hierbei ein Hilfebedarf bei 14 oder mehr Verrichtungen, so ist Schwerpflegebedürftigkeit anzunehmen, ohne daß weitere Ermittlungen zur Intensität des jeweiligen Hilfebedarfs erforderlich sind. Den vom Gesetzgeber bewußt hoch angesetzten Maßstab (§ 53 Abs 1 SGB V: Hilfebedarf “in sehr hohem Maße”) für die Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit erfüllt eine derart hilflose Person ohne weiteres; denn sie kann sich – wie im Gesetzgebungsverfahren vorausgesetzt (BT-Drucks 11/2237, S 183) – in “nahezu allen Bereichen” nicht selbst versorgen. Besteht ein Hilfebedarf bei weniger als 14, aber mehr als 8 Verrichtungen, so kommt die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur in Betracht, wenn zusätzliche Umstände eine Gleichstellung des Hilfebedarfs mit demjenigen bei einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen rechtfertigen. Besteht ein Hilfebedarf nur bei weniger als 9 Verrichtungen, sind Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach §§ 53 ff SGB V nicht zu gewähren; auf den Umfang des Hilfebedarfs bei einzelnen Verrichtungen kommt es in diesen Fällen nicht an. Eine derart schematisierte Erfassung und Bewertung des Hilfebedarfs ist angesichts der Vielzahl von Betroffenen zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung unabdingbar (vgl hierzu BSGE 73, 146, 155 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4; BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 6).

Der im April 1991 geborene Kläger war im Mai 1991, dem Beginn des Zeitraums, für den er Pflegegeld begehrt, einen Monat alt und bei Erlaß des Berufungsurteils im Februar 1994 zwei Jahre und zehn Monate. Säuglinge und Kleinkinder bedürfen bei den Katalogtätigkeiten, unabhängig von ihrer Krankheit oder Behinderung, allein aufgrund ihres Lebensalters in vollem Umfang fremder Hilfe. Dabei werden als Säuglinge Kinder unter 12 Monaten und als Kleinkinder Kinder zwischen ein und drei Jahren bezeichnet (entsprechend den Begriffsdefinitionen im Säuglingsnahrungswerbegesetz vom 10. Oktober 1994 ≪BGBl I 2846≫).

Ein Gesetzeswille, Säuglinge und Kleinkinder generell von den Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit auszunehmen, kann weder den §§ 53 ff SGB V noch den Vorschriften des BSHG über Pflegegeld entnommen werden, wovon auch das LSG ausgeht.

Allerdings wurde zu den §§ 53 ff SGB V im Gesetzgebungsverfahren die Frage, nach welchen Kriterien Schwerpflegebedürftigkeit bei Säuglingen und Kleinkindern zu beurteilen ist, nicht erörtert. Dies berechtigt jedoch nicht zu dem Schluß, der Gesetzgeber habe stillschweigend Kinder während des Lebensabschnitts, in dem sie für die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen sowieso fremder Hilfe bedürfen, nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis gezählt, da er sonst die Kriterien erwähnt hätte. Denn ein Ausschluß der Säuglinge und Kleinkinder von den Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit widerspräche der Pflegegeldregelung im BSHG und wäre mit § 54 Abs 2 Satz 2 SGB V nicht vereinbar. In dieser Regelung werden die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen speziell für “versicherte Kinder” festgelegt. Wären hier nur Kinder ab einem bestimmten Alter gemeint, so wäre dies in der Begründung angesprochen worden. Außerdem spricht die Rechtsentwicklung des BSHG dafür, daß eine solche Altersgrenze nicht nur in der Begründung, sondern auch im Gesetzeswortlaut ihren Niederschlag gefunden hätte.

Bei der Hilfe zur Pflege iS der §§ 68, 69 BSHG sieht das Gesetz seit langem Altersgrenzen als Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld vor. Das ursprünglich auf die Vollendung des dritten Lebensjahres festgesetzte Mindestalter wurde im Zuge des Dritten Bundessozialhilfegesetz-ÄndG ≪3. BSHG-ÄndG≫ (vom 25. März 1974, BGBl I 777) auf die Vollendung des 1. Lebensjahres herabgesetzt; Kinder im ersten Lebensjahr blieben vom Bezug von Pflegegeld zunächst ausgeschlossen. Die Herabsetzung wurde mit der Erwägung begründet, daß sich etwa von diesem Zeitpunkt (Vollendung des ersten Lebensjahres) an die auf der Behinderung beruhende Pflegebedürftigkeit des Kindes so merklich von der Pflege eines nichtbehinderten Kindes abhebt, daß die Gewährung eines festen Pflegegeldes gerechtfertigt sei (BT-Drucks 7/308, S 16; Mergler/Zink, BSHG-Kommentar, ≪Stand: Juli 1987≫ § 69 RdNr 22; kritisch hierzu: Schellhorn, Kommentar zum BSHG, 14. Aufl 1993, § 69, RdNr 31, der bezweifelt, daß der erhöhte Betreuungsbedarf bei einem behinderten Kind mit dem Pflegeaufwand für einen pflegebedürftigen Erwachsenen gleichgesetzt werden kann). Nach Vollendung des ersten Lebensjahres muß auch für den sozialhilferechtlichen Pflegegeldanspruch der Pflegebedürftige so hilflos sein, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens (in erheblichem Umfang) der Wartung und Pflege dauernd bedarf. Durch das 6. BSHG-ÄndG (vom 10. Dezember 1990, BGBl I 2644) hat der Gesetzgeber einen Pflegegeldanspruch auch für Kinder vor Vollendung des ersten Lebensjahres eingeführt. Bei ihnen wird (gem § 69 Abs 3 Satz 1, zweiter Halbs BSHG) auf den Zeitpunkt abgestellt, von dem an die infolge Krankheit oder Behinderung erforderliche besondere Wartung und Pflege das Maß der einem gesunden Kind zu gewährenden Wartung und Pflege in erheblichem Umfang dauernd übersteigt. Auf diesen Maßstab wollte der Gesetzgeber, wie die Begründung zum Entwurf des 3. BSHG-ÄndG deutlich macht (BT-Drucks 7/308, S 16), offensichtlich auch bei denjenigen Kindern abstellen, die das erste Lebensjahr vollendet haben, obwohl sie nach dem Gesetzeswortlaut den für alle Pflegebedürftigen maßgebenden Voraussetzungen unterworfen werden (so auch: BVerwGE 80, 54, 61). Dies schließt es aus, Pflegebedürftigkeit iS von § 69 Abs 3 BSHG bei Kindern allein deshalb abzulehnen, weil die Hilfebedürftigkeit ohne Rücksicht auf das Bestehen von Krankheit oder Behinderung schon durch den Entwicklungsstand des Kindes begründet ist (BVerwGE 80, 54, 61).

Diese Erwägungen können ohne weiteres auf die Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern nach § 53 SGB V übertragen werden; denn diese Regelung hat insoweit wesentliche Elemente aus § 69 Abs 3 BSHG übernommen (vgl hierzu auch BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 2). Das nach den beiden Regelungen unterschiedliche Ausmaß des geforderten Hilfebedarfs spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.

Für die Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern ist danach der Mehraufwand gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend. Dies wird bestätigt durch die am 1. Januar 1995 in Kraft tretende (Art 68 Abs 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit – PflegeVG, vom 26. Mai 1994, BGBl I S 1014) Regelung in § 15 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – (SGB XI). Nach dessen Abs 1 sind pflegebedürftige Personen für die Gewährung von Leistungen einer von drei Pflegestufen zuzuordnen. Bei Kindern ist nach Abs 2 der Vorschrift der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind für die Zuordnung maßgebend. Die gemäß § 17 SGB XI iVm § 213 SGB V von den Spitzenverbänden der Pflegekassen beschlossenen Richtlinien über die Abgrenzung der Merkmale der Pflegebedürftigkeit und der Pflegestufen sowie zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit (Pflegebedürftigkeits-Richtlinien, vom 7. November 1994 – PflRl), die nach Genehmigung durch das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung gem § 17 Abs 2 SGB XI wirksam sind, kennzeichnen den maßgebenden Mehrbedarf wie folgt (Ziffer 4.2): “Bei kranken oder behinderten Kindern ist der zusätzliche Hilfebedarf zu berücksichtigen, der sich zB als Folge einer angeborenen Erkrankung, einer intensivmedizinischen Behandlung oder einer Operation im Bereich der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität ergibt und ua in gehäuften Mahlzeiten oder zusätzlicher Körperpflege bzw Lagerungsmaßnahmen bestehen kann”.

Abzustellen ist hierbei, wie bereits nach § 53 Abs 1 SGB V, auf den Hilfebedarf bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens. Der Anspruch des Klägers scheitert nicht schon daran, daß ein erhöhter Pflegebedarf nur bei der Ernährung und bei der Beaufsichtigung beim Essen, also nicht bei mindestens 50 vH der im Katalog aufgeführten Verrichtungen, in Betracht kommt. Die Prüfung, ob bei 80 vH bzw 50 vH der Katalogverrichtungen ein Hilfebedarf besteht, ist auf Säuglinge und Kleinkinder nicht anwendbar, weil sich bei ihnen der Umfang des Pflegebedarfs, der für die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit maßgebend ist, an Hand der im Katalog aufgeführten Verrichtungen nicht sachgerecht ermitteln läßt. Bei Kleinkindern und Säuglingen konzentrieren sich die nach § 53 Abs 1 SGB V maßgebenden “gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen” auf wenige Verrichtungen des Grundbedarfs. Die ergänzenden Arbeitshilfen des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern sowie bei Personen mit psychischen Störungen (WzS 1993, 280) vergleichen den Mehrbedarf an Hilfeleistungen bei Säuglingen und Kleinkindern nur in bezug auf die Verrichtungen Füttern bzw Nahrungsaufnahme, Wickeln bzw An- und Auskleiden und Körperpflege sowie (bei Kleinkindern:) “Auf den Topf setzen”. Die Empfehlung berücksichtigt damit zutreffend, daß diese Verrichtungen für den Lebensrhythmus eines Säuglings bzw Kleinkindes entscheidend sind. Sie setzt zutreffend eine Zäsur bei der Vollendung des dritten Lebensjahres. Behinderungen oder Krankheiten, die sich in diesen für die ersten drei Lebensjahre elementaren Bereichen durch vermehrt anfallende Hilfeleistungen der Pflegeperson auswirken, prägen die pflegerische Gesamtsituation des Kleinkindes maßgebend. Eine Einbeziehung auch solcher Verrichtungen, die von Kleinkindern aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch gar nicht oder allenfalls ansatzweise eigenständig ausgeführt werden, würde dagegen nicht zu sachgerechten Ergebnissen führen, da Schwerpflegebedürftigkeit nach dem von der Rechtsprechung entwickelten Konzept voraussetzt, daß der Betroffene bei einem bestimmten prozentualen Anteil der Verrichtungen einen (zusätzlichen) Hilfebedarf hat (80 vH: Schwerpflegebedürftigkeit ohne weitere Voraussetzungen; 50 vH: Schwerpflegebedürftigkeit bei Vorliegen von Gleichstellungssachverhalten). Bei Erwachsenen folgt zudem aus dem Umstand, daß sie zahlreiche Verrichtungen ohne Hilfe bewältigen, eine gewisse Leistungsfähigkeit. Bei Säuglingen und Kleinkindern stellt sich nicht die Frage, ob sie eine Verrichtung selbst oder nur mit Hilfe vornehmen können, sondern nur die Frage, ob bei den Katalogverrichtungen krankheitsbedingt ein Mehrbedarf besteht. Das Fehlen eines krankheitsbedingten Mehrbedarfs bei einer Katalogverrichtung erlaubt damit nicht den Rückschluß auf ein verbliebenes Leistungsvermögen. Bei Säuglingen und Kleinkindern ist deshalb nur zu prüfen, ob der (zusätzliche) Pflegebedarf täglich drei Stunden übersteigt.

Das LSG meint, bei Säuglingen und Kleinkindern genüge ein erhöhter oder auch hoher Pflegeaufwand im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kindern nicht, um Schwerpflegebedürftigkeit zu begründen, da die Betreuung von Kindern in den ersten Lebensjahren ohnehin besondere und aufgrund unterschiedlicher individueller Umstände mehr oder weniger schwankende natürliche Anforderungen an die Eltern stelle. Schwerpflegebedürftigkeit könne deshalb in diesem Lebensalter nur ausnahmsweise angenommen werden, etwa wenn sehr schwere Mehrfachbehinderungen vorlägen. Die kommt der in den PflRl vom 7. November 1994 (Ziff 4.2, 4. Satz) enthaltenen Formulierung nahe, daß im ersten Lebensjahr Pflegebedürftigkeit nur ausnahmsweise vorliegt. Sollten das LSG und die PflRl damit beim Fehlen einer schweren Mehrfachbehinderung auch einen täglichen Pflegemehrbedarf von mindestens drei Stunden als rechtlich unerheblich angesehen haben, so kann der Senat dem nicht folgen. Der bei Säuglingen und Kleinkindern bestehende behinderungsunabhängige normale Pflegebedarf rechtfertigt es nicht, den für die Beurteilung als “schwerpflegebedürftig” erforderlichen behinderungsbedingten täglichen Pflegemehrbedarf auf weit mehr als drei Stunden, zB auf 4 oder 5 Stunden festzusetzen, ein Bedarf, der möglicherweise nur bei schweren Mehrfachbehinderungen erreicht wird. Es kann den §§ 53 ff SGB V und auch den angeführten Vorschriften des BSHG kein Anhalt dafür entnommen werden, daß der behinderungsbedingte Pflegemehrbedarf nicht nur absolut sehr hoch, sondern auch stets größer als der behinderungsunabhängige Pflegebedarf sein muß.

Auf der anderen Seite ist aber auch der Ansicht des Klägers nicht zu folgen, daß ein zusätzlicher Pflegebedarf schon dann ausreicht, wenn dieser eine Berufstätigkeit der Mutter verhindert. Der Senat verkennt nicht, daß die Pflege eines gesunden Kleinkindes im Grundsatz auch bei der Berufstätigkeit beider Eltern möglich ist. Eine solche Lebensführung wird oft beide Eltern bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit belasten. Es liegt nahe, daß unter diesen Umständen schon ein geringer zusätzlicher Pflegebedarf von zB einer Stunde täglich, der bei fehlender Berufstätigkeit eines Elternteils keine gewichtige Umplanung erfordert, im Falle der beiderseitigen Berufstätigkeit zu einer Änderung der Lebensplanung zwingt. § 53 SGB V kann gleichwohl nicht dahin verstanden werden, daß diese Auswirkung neben Umfang und Intensität der erforderlichen Pflege berücksichtigt werden darf. Der Pflegebedarf kann nach dem Regelungszusammenhang nur nach seinem objektiven Ausmaß und damit unabhängig von den Lebensumständen der Pflegeperson beurteilt werden. Das Gesetz erlaubt es, daß der Pflegebedarf nicht von einer, sondern auch von mehreren Personen sichergestellt wird. Die Lebensumstände der Pflegenden können dabei höchst unterschiedlich sein, zB wenn von drei Pflegepersonen eine vollberufstätig, eine teilzeitbeschäftigt und die Dritte im Haushalt tätig ist. Diese Lebensumstände sind, wenn eine ausreichende Pflege sichergestellt ist (§ 57 Abs 2 SGB V), nach dem Gesetz nur zu berücksichtigen, soweit es um die Sozialversicherung der Pflegeperson geht. Überdies würde die Berücksichtigung der Berufsaufgabe auf eine Begünstigung der beiderseitigen Berufstätigkeit hinauslaufen. Sie würde, wenn, wie hier, die Pflege eines kleinen Kindes in Frage steht, der Zielsetzung des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) zuwiderlaufen, durch Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub die Betreuung kleiner Kinder durch einen Elternteil zu fördern.

Der Senat vermag den Feststellungen des LSG zu Art und Umfang des täglichen Pflegebedarfs nicht zu entnehmen, daß dieser täglich drei Stunden nicht übersteigt. Das LSG hat sich zum Pflegemehrbedarf der Beurteilung des SG angeschlossen. Es meint, die Behinderung des Klägers erfordere zwar einen “großen Aufwand”, dieser bewege sich aber “zweifellos” innerhalb der noch zumutbaren Grenzen. Das SG hat festgestellt, es erfordere einen “hohen zeitlichen Aufwand”, ausschließlich galaktosefreie Lebensmittel zuzubereiten und dem Kläger zu verabreichen. Das ist nach dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe auf die Beschaffung der Nahrungsmittel, deren Zubereitung und die Überwachung des Klägers zu beziehen. Damit werden im Hinblick auf die Formulierung des Gesetzes “in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen” diese in ihrer Auslegung streitigen Rechtsbegriffe zur Tatsachenfeststellung benutzt. Derartige Aussagen, die letztlich nur besagen, daß der zusätzliche Pflegebedarf “hoch”, aber nicht “sehr hoch” sei, reichen zur Feststellung des Sachverhalts nicht aus. Ein solches Vorgehen verlagert den Bereich der Rechtsanwendung in die Tatsachenfeststellung. Der zusätzliche Pflegebedarf ist ohne Rechtsbegriffe in seinem Umfang so genau zu beschreiben, daß er vom Revisionsgericht unter den gesetzlichen Tatbestand der Schwerpflegebedürftigkeit bei Säuglingen und Kleinkindern subsumiert werden kann. Dem Tatsachengericht steht es dabei frei, ob es den zeitlichen Umfang des zusätzlichen Pflegebedarf in der Weise ermittelt, daß es den Pflegebedarf eines gleichaltrigen gesunden Kindes von dem ganzen Pflegebedarf des behinderten Versicherten abzieht, oder ob es die zusätzlich erforderlichen Pflegeleistungen nach Art und zeitlichem Umfang ermittelt, was Feststellungen zum zeitlichen Umfang des normalen Pflegebedarfs erübrigt. Der Verzicht auf unbestimmte Gesetzesbegriffe wie “hoch” oder “sehr hoch” schließt es auch nicht aus, den erforderlichen täglichen Zeitaufwand für genau zu beschreibende zusätzliche Pflegeleistungen auf eine Höchst- oder Mindeststundenzahl zu schätzen (§ 202 SGG iVm § 287 Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫).

Der Senat hat allerdings im Falle eines an Diabetes mellitus Typ I erkrankten Kindes (vgl BSG Urteil vom 14. Dezember 1994 – 3/1 RK 65/93 –) dem Urteilszusammenhang die Feststellung eines Pflegebedarfs von weniger als drei Stunden täglich entnommen. In diesem Verfahren war jedoch festgestellt, daß der zusätzliche Pflegebedarf durch zwei Insulinspritzen täglich, Diät und eine fünfte Tagesmahlzeit jedenfalls keine 4 bis 5 Stunden täglich erfordere. Überdies war dem Urteil zu entnehmen, daß ein Verzicht auf Fertig-Lebensmittel nicht erforderlich war. Hier hat das LSG zu den Behauptungen des Klägers keine Feststellungen getroffen, bei Fertiglebensmitteln sei nie auszuschließen, daß diese Milch enthielten, selbst bei Brot; deshalb könnten keine fertigen Back- und Wurstwaren sowie keine fertigen Getränke und Süßigkeiten verwandt werden; diese Nahrungsmittel müßten jeweils selbst zubereitet werden; soweit in der Inhaltsangabe von Fertignahrungsmitteln keine Milch aufgeführt sei, bedürfe es beim Einkauf einer zeitaufwendigen Prüfung, ob die Inhaltsstoffe vollständig angeführt seien; die Diät bei Milchunverträglichkeit sei vergleichsweise viel aufwendiger als die bei Diabetes. Nach diesen Behauptungen erscheint es nicht ausgeschlossen, daß der Pflegemehrbedarf täglich drei Stunden erreicht, auch wenn dies nach dem bisherigen Vorbringen eher unwahrscheinlich ist. Der Rechtsstreit war deshalb an das LSG zurückzuverweisen, damit dieses den zeitlichen Umfang des täglichen Pflegebedarfs klärt.

Es liegt nahe, zunächst den Kläger aufzufordern, die täglich tatsächlich erfolgten behinderungsbedingten zusätzlichen Pflegeleistungen nach Art und Zeitaufwand zu umschreiben. Erreicht der dargelegte zusätzliche Pflegeaufwand täglich drei Stunden, so ist die Erforderlichkeit vom LSG zu beurteilen – soweit hierfür medizinische Zusammenhänge von Bedeutung sind – nach Einholung eines Gutachtens.

In den Angaben des Klägers zu den zusätzlich notwendigen Pflegemaßnahmen sind Formulierungen, die den zusätzlichen Pflegebedarf ausschließlich nach dem Gegenstand oder Sinn solcher Maßnahmen kennzeichnen, also zB die Angabe: “Aufsicht, daß keine milchhaltigen Nahrungsmittel gegessen werden – täglich drei Stunden”, zur Beschreibung unzureichend. Denn es genügt nicht, daß eine ohnehin altersgemäß erforderliche Beobachtung des Kindes zusätzlich darauf erstreckt wird, daß das Kind keine verbotene Nahrung ißt. Vielmehr muß die Beschreibung ergeben, daß das Kind öfters kontrolliert werden muß als ein gesundes Kind und welche Zeit hierfür erforderlich ist.

Insoweit ist zu beachten, daß sich der Pflegebedarf in der strittigen Zeit entsprechend dem Wachstum des Kindes mutmaßlich verändert hat. Solange das Kind ausschließlich mit Flaschennahrung ernährt wurde, ist die Zubereitung der Flaschennahrung zu schildern. Auch der Aufsichtsbedarf ist für diesen Zeitabschnitt besonders darzustellen.

Hinsichtlich des Pflegeaufwandes für spätere Zeitabschnitte ist zur Diät lediglich vorgetragen, welche Lebensmittel der Kläger nicht essen darf. Es fehlt die Darstellung, welche Nahrungsmittel statt der üblichen Kost zubereitet wurden, und welcher Zeitmehraufwand anfiel. Zum Mehraufwand beim Einkauf ist zu berücksichtigen, daß Fertiglebensmittel, die als Markenfabrikat erhältlich sind, nur bei der Erstbeschaffung zeitaufwendiger Prüfung bedürfen, nicht aber bei ihrer Wiederbeschaffung.

Zu den bisher noch nicht beschriebenen zusätzlichen Aufsichtsmaßnahmen ist anzumerken, daß zu den täglichen Verrichtungen nicht die einmalige Organisation der Nahrungsmittelaufbewahrung außerhalb der Reichweite des Kindes gehört. Erfaßt werden nur zusätzliche Aufsichtsmaßnahmen in der elterlichen Wohnung und in deren unmittelbarer Nähe, die regelmäßig wiederkehrend anfallen. Bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit kann nicht darauf abgestellt werden, ob das Kind in altersentsprechender Weise am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und etwa Verwandte, Nachbarn oder Freunde (der Eltern) ohne größere Komplikationen besuchen kann oder ob die Eltern derartige Kontakte wegen der größeren Gefährdung ihres Kindes in fremder Umgebung meiden. Die für die Eltern in diesem Lebensbereich auftretenden Einschränkungen ihrer Entfaltungsmöglichkeiten und die im Vergleich zu Eltern gesunder Kinder erheblich stärkere Bindung an die eigene Wohnung stellen keinen Hilfebedarf iS von § 53 Abs 1 SGB V dar.

Das LSG wird in der abschließenden Entscheidung auch über die Kosten im Revisionsverfahren zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 921728

Breith. 1995, 657

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