Beteiligte
Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. Mai 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab dem 23. Oktober 1992 wegen der Folgen der als Berufskrankheit (BK) nach Nr 1310 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) anerkannten allgemeinen Befindlichkeitsstörungen, insbesondere Mattigkeit und Schlafstörungen sowie die Anerkennung einer Polyneuropathie und von Potenzstörungen als weitere Folgen dieser BK.
Der im Jahre 1946 geborene Kläger war seit dem Jahre 1971 als Elektriker/Betriebselektriker bei der Firma C. H. B. in H. beschäftigt. Bei der ärztlichen Einstellungsuntersuchung fanden sich keine Auffälligkeiten. Nach Untersuchungen des Klägers in der Universität M. im Jahre 1985 und nach einem Gutachten des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität M. vom 29. April 1987 zeigte Prof. Dr. M. unter dem 23. Oktober 1992 der Beklagten an, daß beim Kläger eine BK nach Nr 1310 der Anlage 1 zur BKVO mit dadurch verursachter Polyneuropathie, Schlafstörungen, Magenbeschwerden und Mattigkeit bestehe. Die Beklagte zog verschiedene Untersuchungsbefunde bei und holte Gutachten der Ärzte für Neurologie und Psychiatrie Dr. R. vom 4. März 1994 sowie Dr. L. vom 6. Juli 1994 ein. Hierauf gestützt stellte sie mit Bescheid vom 28. Dezember 1994 idF des Widerspruchsbescheids vom 5. Oktober 1995 fest, daß beim Kläger allgemeine Befindlichkeitsstörungen, insbesondere Mattigkeit und Schlafstörungen als BK nach Nr 1310 der Anlage 1 zur BKVO vorliegen. Da die hierdurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) den Grad von 20 vH nicht erreiche, bestehe kein Anspruch auf Verletztenrente.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat nach Beiziehung von Stellungnahmen des Neurologen und Psychiaters Prof. Dr. W. durch Urteil vom 10. April 1997 die Klage abgewiesen. Im anschließenden Berufungsverfahren hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) im Termin zur mündlichen Verhandlung am 7. Mai 1998 den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. C. gehört. Dieser hat sein schriftlich vorbereitetes Gutachten verlesen und auf Befragen ergänzt. Unter Auswertung eines neurophysiologischen Zusatzgutachtens der Oberärztin Dr. P. vom 4. Mai 1998 kam der Sachverständige zu dem Ergebnis, daß nach den klinischen und neurophysiologischen Befunden eine Polyneuropathie nicht vorliege. Die Potenzstörungen könnten nicht auf die beruflich bedingten Einwirkungen zurückgeführt werden. Die MdE sei – wie bisher – mit 15 vH einzuschätzen.
Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung ua beantragt, den Rechtsstreit zu vertagen, um sich zum Ergebnis der Beweisaufnahme ärztlich beraten zu lassen. Die mündliche Verhandlung wurde von 10.10 Uhr bis 10.12 Uhr für eine Beratung des Klägers mit seinem Prozeßbevollmächtigten unterbrochen und um 10.12 Uhr geschlossen. Das Urteil wurde am Ende der Sitzung verkündet.
Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und sich dabei dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. C. angeschlossen. Zur Begründung hat es weiter ausgeführt, dem Kläger habe keine weitere Gelegenheit eingeräumt werden müssen, zur Aussage des Sachverständigen eine ärztliche Stellungnahme einzuholen. Das Sozialgerichtsgesetz (SGG) sehe als Normalfall und Abschluß des Verfahrens die mündliche Verhandlung mit medizinischer Beweisaufnahme und anschließender Entscheidung nach dem Beweisergebnis vor. Der Kläger und sein Prozeßbevollmächtigter seien hierauf in der Ladung hingewiesen worden. Sie hätten sich auf diese Vorgehensweise des Gerichts einstellen können und dies auch getan, indem sie sich von Prof. Dr. M. hätten begleiten lassen. Mit diesem hätten sie auch in einer Verhandlungspause Kontakt aufgenommen. Der Kläger verlange mit seinem Vertagungsantrag mehr prozessuale Möglichkeiten, als dem Gericht zustünden. Das SGG erlege dem Gericht auf, sich nach der Beweisaufnahme eine Meinung von der Überzeugungskraft der eingeholten Sachverständigengutachten zu bilden, ohne sich von weiteren sachverständigen Personen beraten zu lassen. In der gleichen Situation befänden sich die Beteiligten. Auch sie müßten Sachverständigengutachten aus dem Stand heraus würdigen. Sie könnten das auch, wenn sie – wie hier – mit juristischem Beistand in der mündlichen Verhandlung erschienen. Die Beweiswürdigung sei eine juristische Aufgabe. Nicht entscheidend, aber auch nicht zu übersehen seien prozeßökonomische Gesichtspunkte. Wolle man den Beteiligten gestatten, zu jedem mündlich erstatteten Gutachten eine ärztliche Stellungnahme einzuholen, käme ein Rechtsstreit schwer zu Ende. Denn anschließend müßte sich das Gericht wiederum medizinisch durch einen Sachverständigen beraten lassen. So zöge eine ärztliche Stellungnahme die andere nach sich. Von diesen Prinzipien des Gesetzes sei nur dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Grundsatz des rechtlichen Gehörs sie gebiete. Ein Grund für eine Vertagung hätte nur bestanden, wenn eine Überraschungsentscheidung zu befürchten gewesen wäre, insbesondere wenn der Rechtsstreit durch die Aussage von Prof. Dr. C. eine völlig neue Wendung genommen hätte oder wenn von diesem Arzt bisher unbekannte Feststellungen und Schlußfolgerungen vorgebracht worden wären. Das sei aber nicht der Fall gewesen. Im Ergebnis habe der Sachverständige keine neuen Gesichtspunkte hervorgekehrt, sondern lediglich die vorhandenen gutachterlichen Aussagen verdeutlicht, kritisch gewürdigt und zusammengefaßt. Auch die klinische Untersuchung des Klägers durch Prof. Dr. C. habe keine neuen Gesichtspunkte offenbart. Nach dem Akteninhalt habe der Kläger mit der Aussage des Sachverständigen rechnen müssen und sich auf eine abschließende Entscheidung am 7. Mai 1998 einstellen müssen. Es sei daher nicht erkennbar, daß dem Kläger das rechtliche Gehör versagt worden sei.
Mit seiner – vom Senat zugelassenen – Revision macht der Kläger geltend, das Berufungsurteil weiche von dem im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. März 1991 (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5) aufgestellten Rechtssätzen ab, nach denen dem Verlangen von Beteiligten, sich vor Abgabe einer Stellungnahme sachkundig beraten zu lassen, zu entsprechen sei, wenn gutachterliche Äußerungen eines Sachverständigen den Beteiligten erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gebracht werden. Das Verhalten des LSG, dem Vertagungsantrag nicht zu entsprechen, verletze ihn – den Kläger – zugleich in seinem prozessualen Grundrecht auf rechtliches Gehör. Nach ärztlicher Beratung wäre er in der Lage gewesen, die von Prof. Dr. C. aus seinen Meßergebnissen gezogenen Schlußfolgerungen zu widerlegen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. Mai 1998 und das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 10. April 1997 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 1994 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 5. Oktober 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei ihm eine Polyneuropathie und Potenzstörungen als weitere Folgen der anerkannten Berufskrankheit anzuerkennen sowie ihm Verletztenrente ab dem 23. Oktober 1992 zu zahlen, hilfsweise das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen, hilfsweise das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. Mai 1998 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil in verfahrens- und materiell-rechtlicher Hinsicht für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist, weil der geltend gemachte Verfahrensmangel vorliegt und die Entscheidung des LSG darauf beruhen kann.
Auf die Sachverständigengutachten von Prof. Dr. C. und Dr. P. durfte das LSG seine Entscheidung nicht stützen, weil es diese Gutachten unter Verstoß gegen den in den §§ 62, 128 Abs 2 SGG, Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes enthaltenen Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs in das Verfahren einbezogen und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat. Es hat dem Kläger keine ausreichende Gelegenheit gegeben, sich zu dem in der mündlichen Verhandlung erstatteten Gutachten des Prof. Dr. C. und des von ihm vorgelegten Zusatzgutachtens von Dr. P. zu äußern.
Der Anspruch auf rechtliches Gehör zählt zu den prozessualen Grundrechten. Er gewährt den Beteiligten ua das Recht, sich in bezug auf Tatsachen und Beweisergebnisse zu äußern. Ihnen ist Gelegenheit zu geben, sachgemäße Erklärungen abzugeben. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör ist daher nur genügt, wenn den Beteiligten für die Abgabe ihrer Erklärung eine angemessene Zeit eingeräumt wird (BSGE 11, 165, 166; BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG; BSG SozR 1500 § 117 Nr 2; BSG Urteil vom 30. März 1982 - 2 RU 4/81 – SozSich 1982, 324; BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Ob eine Äußerungsfrist angemessen ist oder nicht, richtet sich dabei nach dem Gegenstand der Beweisaufnahme. Handelt es sich – wie hier – zum einen um die Auswertung der Befunde und Ergebnisse eines ebenfalls neuen neurophysiologischen Zusatzgutachtens sowie zum anderen um die Bewertung komplexer und schwieriger medizinischer Befunde und Zusammenhänge durch einen medizinischen Sachverständigen und ist der betroffene Beteiligte medizinischer Laie, so kann dieser eine sachgerechte Äußerung zu den Beweisergebnissen naturgemäß erst abgeben, wenn er sich entsprechend sachkundig hat beraten lassen. Seinem dementsprechenden Verlangen hat das Gericht zu entsprechen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Gegenüber der Vorschrift, das gerichtliche Verfahren möglichst in einer mündlichen Verhandlung abzuschließen (§ 106 Abs 2 SGG), gebührt dem Erfordernis der Gewährung rechtlichen Gehörs aus rechtsstaatlichen Gründen der Vorrang (BSG SozR Nr 13 zu § 106 SGG). Es ist Sache des Gerichts, die mündliche Verhandlung durch rechtzeitige Einholung und Übermittlung von Sachverständigengutachten so vorzubereiten, daß die Streitsache ohne Vertagung verfahrensfehlerfrei erledigt werden kann (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Das LSG hätte daher dem Vertagungsantrag des Klägers stattgeben müssen.
Dem kann – wie das LSG im angefochtenen Urteil – nicht entgegengehalten werden, der Kläger habe für eine entsprechende sachkundige Beratung nach der Erstattung des Gutachtens durch Prof. Dr. C. Vorsorge getroffen, indem er sich von Prof. Dr. M. zur mündlichen Verhandlung habe begleiten lassen. Mit ihm hätte er auch in der Verhandlungspause Kontakt aufgenommen. Es kann dahingestellt bleiben, ob Prof. Dr. M. den Kläger in die mündliche Verhandlung am 7. Mai 1998 begleitet hatte, oder ob er nach dem Vortrag des Klägers lediglich als Zuhörer in der mündlichen Verhandlung anwesend war. Selbst wenn Prof. Dr. M. den Kläger in die mündliche Verhandlung begleitet und diesen dort beraten hätte, wäre die erfolgte Unterbrechung der Verhandlung, die laut der Sitzungsniederschrift nur zwei Minuten gedauert hat, nicht geeignet für eine ausreichende sachkundige ärztliche Beratung gewesen. Auch hat der Kläger nach Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung seinen Vertagungsantrag nicht zurückgenommen.
Ebenso unerheblich ist es für die Verpflichtung des LSG, die Entscheidung zu vertagen, ob der Rechtsstreit durch die Ausführungen des Prof. Dr. C. eine völlig neue Wendung genommen hat oder nicht. Für den Anspruch auf rechtliches Gehör spielt es keine Rolle, ob der ärztliche Sachverständige sich im Ergebnis und/oder in seiner Begründung einem bereits vorliegenden Gutachten eines anderen Sachverständigen angeschlossen hat, oder ob er zu einer abweichenden Beurteilung gelangt ist. Entscheidend ist allein, daß das Gericht eine – weitere – Beweisaufnahme für erforderlich gehalten und durchgeführt hat. Zu deren Ergebnis müssen sich die Beteiligten in angemessener Zeit äußern dürfen. Die Verpflichtung, dem betroffenen Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zum Beweisergebnis zu geben, hängt auch nicht davon ab, ob das Gericht das Beweisergebnis für eindeutig und deshalb für nicht mehr diskutabel hält. Handelt es sich – wie hier – um die Beurteilung gutachterlicher Ausführungen des Sachverständigen, die den Beteiligten erstmals im Termin zur mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gebracht werden, ist deren Verlangen, sich vor Abgabe einer Stellungnahme sachkundig beraten zu lassen, zu entsprechen (BSG SozR 3-1500 § 62 Nr 5). Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als zusätzlich ein neurophysiologisches Zusatzgutachten erstmals in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren einbezogen wurde.
Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen, denn eine medizinisch begründete Stellungnahme des Klägers hätte die Ausführungen von Prof. Dr. C. erschüttern und das LSG zu einer weiteren Beweiserhebung veranlassen können. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG aufgrund dann durchgeführter weiterer medizinischer Ermittlungen zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis hinsichtlich der Entschädigung der anerkannten BK und der Anerkennung weiterer Folgen gelangt wäre.
Der Rechtsstreit ist deshalb zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 542855 |
SozSi 2000, 362 |