Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 29.08.1994) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. August 1994 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen im Revisionsverfahren zu erstatten; im übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Der klagende Sozialhilfeträger erbringt für die 1952 geborene, geistig und körperlich schwerbehinderte Beigeladene Leistungen im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte. Er beantragte beim Versorgungsamt im Juli 1988 die Anerkennung eines Impfschadens der Beigeladenen als Folge einer im April 1953 durchgeführten Pockenschutzimpfung. Neben dem Kläger beantragten auch die Eltern der Beigeladenen als Betreuer Versorgungsleistungen nach dem Bundesseuchengesetz (BSeuchG). Die Versorgungsverwaltung lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 18. April 1989 ab: Die Hirnschädigung der Beigeladenen könne nach Auswertung der medizinischen Unterlagen und der versorgungsärztlichen Begutachtung nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Pockenschutzimpfung zurückgeführt werden. Eine Mehrfertigung dieses Bescheides übersandte der Beklagte zur Kenntnis an den Kläger. Nur der Kläger legte Widerspruch ein, den der Beklagte mit dem (an den Kläger adressierten) Widerspruchsbescheid vom 20. Februar 1990 als unzulässig zurückwies, da der Kläger als nicht am Verfahren Beteiligter nicht berechtigt sei, selbständig Widerspruch einzulegen.
Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Der Beklagte wurde zur Gewährung von Versorgung wegen eines Impfschadens nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH ab 1. Juli 1988 verurteilt (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 15. Mai 1992). Die Berufung des Beklagten wurde zurückgewiesen (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 29. August 1994). Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, § 91a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) räume dem Kläger eine gesetzliche Prozeßstandschaft ein, aufgrund der er befugt sei, im eigenen Namen alle Verfahrenshandlungen vorzunehmen, zu denen der Sozialhilfeempfänger selbst berechtigt sei. In der Sache habe das SG den Beklagten zu Recht zur Gewährung von Versorgung verurteilt.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung von § 91a BSHG und einen Verstoß gegen Beweisgrundsätze.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. August 1994 sowie des Sozialgerichts Karlsruhe vom 15. Mai 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger und die Beigeladene beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist nicht begründet.
Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß der Beklagte verpflichtet ist, der Beigeladenen Impfentschädigung zu gewähren. Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Klage nicht wegen fehlender Prozeßführungsbefugnis des Klägers unzulässig. Nach § 91a Satz 1 BSHG kann der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe die Feststellung einer Leistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen (vgl zur Entwicklung des § 91a BSHG ausführlich: BSG, Urteil vom 19. Dezember 1991 – 12 RK 24/90 – in BSGE 70, 72 = SozR 3-5910 § 91a Nr 1 mwN). Für die Vorgängervorschrift des § 91a BSHG, den § 1538 Reichsversicherungsordnung (RVO), hatte das Bundessozialgericht (BSG) bereits mit Urteil vom 11. Februar 1960 (BSGE 11, 295, 296 = SozR Nr 1 zu § 1538 RVO) entschieden, daß diese Vorschrift den Sozialhilfeträger ermächtigt, im eigenen Namen für den Sozialhilfeempfänger einen Rechtsstreit zu führen und alle diesem zustehenden Prozeßhandlungen auszuüben. Diese Auslegung des § 1538 RVO iS einer gesetzlichen Prozeßstandschaft ist in ständiger Rechtsprechung des BSG beibehalten worden (vgl BSGE 16, 44, 46 = SozR Nr 2 zu § 1538 RVO; BSGE 36, 267, 270 = SozR Nr 18 zu § 1290 RVO). An der Rechtsnatur dieser Vorschrift hat sich durch die Übernahme in das BSHG unter redaktioneller Überarbeitung nichts geändert. Auch § 91a BSHG räumt dem Sozialhilfeträger eine gesetzliche Prozeßstandschaft ein, aus der sich seine Klagebefugnis herleiten läßt.
§ 91a BSHG setzt voraus, daß die Leistung, deren Feststellung betrieben wird, eine Sozialleistung und der Sozialhilfeträger erstattungsberechtigt ist. Beide Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Bei der vom Kläger betriebenen Feststellung des Versorgungsanspruchs der Beigeladenen nach § 51 Abs 1 Satz 1 BSeuchG handelt es sich um die Feststellung einer Sozialleistung. Sozialleistungen sind nach der Legaldefinition des § 11 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – (SGB I) die in diesem Gesetzbuch vorgesehenen Dienst-, Sach- und Geldleistungen. Bis zu seiner endgültigen Einordnung in das SGB gilt nach Art II § 1 Nr 11 SGB I das Bundesversorgungsgesetz (BVG) als besonderer Teil des SGB; das gilt ebenso für das Impfschadensrecht, weil § 51 BSeuchG die entsprechende Anwendung der Leistungsvorschriften des BVG vorsieht (Art II § 1 Nr 11 Buchst d SGB I). Ob auch außerhalb des SGB vorgesehene soziale Leistungen, etwa nach dem Lastenausgleichsgesetz, von § 91a BSHG erfaßt werden, der Begriff der Sozialleistung hier also noch weiter zu verstehen ist (so Lehr- und Praxiskomm zum BSHG, § 91a Rz 3) kann offenbleiben. Die in § 1538 RVO und anfangs auch in § 91a BSHG noch enthaltene Beschränkung auf Leistungen aus der Sozialversicherung ist durch Art 26 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 (BGBl 1983 I 1532) entfallen.
Der Kläger ist auch erstattungsberechtigt iS des § 91a BSHG. Seine Erstattungsberechtigung folgt aus § 104 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – und dem Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe in § 2 Abs 1 BSHG, wonach Sozialhilfe nicht erhält, wer die erforderliche Hilfe von anderen, insbesondere von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Als solcher kommt nach § 51 Abs 1 BSeuchG iVm den Leistungsvorschriften des BVG der Träger der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden in Betracht. Dessen Leistungen, deren Umfang § 9 BVG bestimmt, haben Vorrang vor den Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem BSHG (vgl Knopp/Fichtner, BSHG-Komm, § 2 BSHG RdNr 2; Schellhorn/Jirasek/Seipp, Komm zum BSHG, § 2 RdNr 5).
Entgegen der Ansicht des Beklagten ist die Erstattungsberechtigung des Klägers nicht wegen des im sozialen Entschädigungsrecht geltenden Antragsprinzips zu verneinen. Zwar hängt die Erstattungsberechtigung davon ab, daß ein entsprechender Anspruch auf Versorgungsleistungen besteht, der einen Antrag voraussetzt (§ 51 Abs 1 BSeuchG). Es kann offenbleiben, ob auch der Kläger den Antrag wirksam stellen konnte. Die Frage, ob das Recht des Sozialhilfeträgers aus § 91a BSHG das im sozialen Entschädigungsrecht geltende Antragsprinzip durchbricht oder zumindest durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen begrenzt wird (vgl zum Antragsprinzip BSG SozR 3100 § 35 Nr 1 mwH auf frühere Rechtsprechung; BSG USK 80257; BSGE 61, 180 = SozR 3100 § 19 Nr 17; BSGE 63, 204 = SozR 3100 § 19 Nr 19; BSG Breith 1990, S 836; BSG USK 9218), ist hier nicht zu entscheiden. Denn im vorliegenden Rechtsstreit haben auch die Betreuer der Beigeladenen im Juli 1988 einen Versorgungsantrag gestellt. Sie haben diesen auch nicht – wie der Beklagte meint – dadurch zurückgenommen, daß sie gegen den ablehnenden Bescheid keinen Widerspruch erhoben haben. Als stillschweigende Rücknahme des ursprünglich gestellten Versorgungsantrages könnte ein rein passives Verhalten nicht einmal dann gedeutet werden, wenn es dabei geblieben wäre. Daraus ergäbe sich nur, daß die Beigeladene den ablehnenden Bescheid bindend werden lassen wollte. Hier folgt aber aus dem aktiven Verhalten der Beigeladenen – Einverständnis mit körperlicher Untersuchung und mit Akteneinsicht durch den Kläger –, daß sie mit dem weiteren Betreiben des Verfahrens durch den Kläger einverstanden war.
Aufgrund der vom LSG im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen, die der Beklagte nicht mit zulässigen Verfahrensrügen angegriffen hat und die deshalb für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), hat das LSG zu Recht die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung von Versorgung an die Beigeladene bestätigt.
Wenn nach Auffassung des Beklagten „insbesondere die Art der Beweiswürdigung zu rügen” ist, ist dies revisionsrechtlich nur insoweit beachtlich, als eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG geltend gemacht wird. Das LSG hat indessen die im Versorgungsrecht geltenden Beweisgrundsätze beachtet. Es ist in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl BSGE 60, 58 mwN
= SozR 3850 § 51 Nr 9) davon ausgegangen, daß sich der Zusammenhang einer Hirnschädigung mit einer Pockenschutzimpfung nur dann mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit bejahen läßt, wenn im nahen zeitlichen Abstand von wenigen Wochen nach der Impfung Krampfanfälle aufgetreten sind, die vorher nicht beobachtet worden sind. Wenn das LSG nach Auswertung aller vorhandenen Unterlagen aufgrund der Angaben der Eltern gegenüber der Kinderklinik Freiburg im Jahre 1954 und ihrer Angaben während des gesamten Verfahrens einen solchen Geschehensablauf als nachgewiesen angesehen hat, hat es damit die dem Tatrichter gezogenen Grenzen der freien richterlichen Überzeugungsbildung nicht überschritten. Das LSG durfte sich bei seiner Überzeugungsbildung, daß Krampfanfälle erstmalig in der Inkubationszeit aufgetreten sind, auf die Aussage der Eltern der Beigeladenen stützen. Es war nicht auf einen Urkundenbeweis beschränkt, der das Vorhandensein einschlägiger ärztlicher Dokumente voraussetzte. Dem Urkundenbeweis ist zwar im Vergleich zu anderen Beweismitteln in der Regel höhere Beweiskraft beizumessen. Deshalb ist er bisweilen gesetzlich zwingend vorgeschrieben (vgl zB § 165 Zivilprozeßordnung über die Beweiskraft des Protokolls). Im sozialen Entschädigungsrecht bestehen solche Beweisvorschriften nicht. Es kommen vielmehr alle üblichen Beweismittel in Betracht, deren jeweils eigener Beweiswert zu beachten ist. Die Glaubwürdigkeit von Aussagen zu beurteilen, gehört zum Kern tatrichterlicher Beweiswürdigung, die einer revisionsgerichtlichen Überprüfung entzogen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen