Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegezulage. Pflegestufe. Blinder. Hinzutritt weiterer Gesundheitsstörungen. automatische Höherstufung. Mindestpflegezulage. individueller Gesamthilfebedarf. Neufeststellung
Leitsatz (amtlich)
Die Pflegezulage blinder Beschädigter (mindestens nach Stufe III) ist bei Hinzutritt weiterer Gesundheitsstörungen wegen gestiegenen Hilfebedarfs nicht automatisch zu erhöhen, sondern nach dem tatsächlich bestehenden individuellen Gesamthilfebedarf zu bemessen.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1; BVGVwV § 35 Nr. 8
Beteiligte
Landesversorgungsamt Baden-Württemberg |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Dezember 1999 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der kriegsblinde Kläger streitet um eine höhere Pflegezulage.
Der Beklagte hat die mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH bewerteten Schädigungsfolgen 1984 wie folgt neu festgestellt:
„Verlust des linken Auges, Linsenlosigkeit und Nachstar mit Sehverschlechterung sowie röhrenförmiger Gesichtsfeldeinengung am rechten Auge, Einlagerungen von Fremdkörpern und Narben in der Hornhaut des rechten Auges, Weichteilstecksplitter im Bereich der rechten Gesichtsseite sowie der Stirn und Scheitelgegend rechts.”
Er stellte den Kläger einem Blinden gleich und bewilligte Pflegezulage nach Stufe III des § 35 Abs 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Nach nicht schädigungsbedingtem Verlust seiner linken Niere beantragte der Kläger 1988 eine höhere Pflegezulage (nach Stufe V). Diesen Antrag lehnte der Beklagte ab, weil der Verlust einer Niere den Hilfebedarf nicht gesteigert habe. Klage, Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde blieben ohne Erfolg.
Der Beklagte lehnte auch den 1993 gestellten Zugunstenantrag auf höhere Pflegezulage ab (Bescheid vom 11. August 1993; Widerspruchsbescheid vom 9. Januar 1995). Der Erstbescheid sei rechtmäßig.
Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. November 1998). Durch die Nierenerkrankung seien keine zusätzlichen Hilfeleistungen notwendig geworden, die das Pflegebedürfnis in einem Ausmaß erhöhten, welches die Zuerkennung einer höheren Pflegezulage rechtfertige. Das Landessozialgericht (LSG) hat diese Entscheidung bestätigt (Urteil vom 9. Dezember 1999).
Der Kläger macht mit der Revision geltend, das LSG habe § 35 BVG verletzt. Bei einem Blinden sei die Pflegestufe III als gesetzlich festgelegtes Minimum zu betrachten. Erhöhe sich der Hilfebedarf eines Blinden durch weitere Leiden, so sei zwangsläufig Pflegezulage nach einer höheren Stufe als III zu gewähren. Der Hilfebedarf des Klägers sei wegen des Nierenverlustes wesentlich erhöht. Er müsse eine besonders zuzubereitende Diät einhalten, seinen vermehrten Flüssigkeitsbedarf kontrolliert trinken und zusätzliche Medikamente korrekt einnehmen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Dezember 1999 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 10. November 1998 sowie den Bescheid des Beklagten vom 11. August 1993 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Januar 1995 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, unter Zurücknahme des Bescheides vom 24. November 1988 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 1989 dem Kläger ab 1. Januar 1989 höhere Pflegezulage als nach Stufe III zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung begründet. Nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen läßt sich nicht abschließend entscheiden, ob der bindende (Erst-)Bescheid vom 24. November 1988, mit dem der Beklagte die begehrte Erhöhung der Pflegezulage abgelehnt hat, rechtswidrig ist und der Kläger deshalb Anspruch auf diese Leistung nach einer höheren Stufe als III hat.
Nach § 44 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Der Kläger behauptet, der Beklagte habe bei Erlaß des Erstbescheides das Recht unrichtig angewandt, indem er trotz eines infolge des Nierenverlustes gestiegenen Hilfebedarfs die Pflegezulage nicht erhöht habe. Da die Blindheit allein schon zur Pflegezulage nach Stufe III führe, sei bei jedwedem zusätzlich auftretenden Hilfebedarf die Pflegezulage jedenfalls auf die Stufe IV anzuheben. Diese Auffassung trifft nicht zu.
Der Kläger hat nach dem System der gestuften Pflegezulage des § 35 Abs 1 BVG Anspruch auf eine Leistung, die dem Grad seiner Hilfebedürftigkeit entspricht. Entscheidend ist sein gesundheitlicher Gesamtzustand. Dieser wird im wesentlichen durch die schädigungsbedingte Blindheit bestimmt, daneben durch den schädigungsunabhängigen Nierenverlust mit mäßiger Funktionseinschränkung der Restniere.
Zu Recht haben die Instanzgerichte deshalb nicht zwischen schädigungsbedingten und schädigungsunabhängigen Gründen für die Hilflosigkeit unterschieden. Denn entgegen älterer Rechtsprechung (BSGE 30, 45, 47 = SozR Nr 38 zu § 62 BVG) hat der Senat entschieden, daß eine Pflegezulage auch dann neu festzustellen ist, wenn die wehrdienstbedingten Gesundheitsstörungen und die auf ihnen beruhende MdE zwar unverändert geblieben sind, die Schädigung aber im Zusammenwirken mit veränderten schädigungsunabhängigen Umständen noch annähernd gleichwertig die gesteigerte Hilflosigkeit verursacht hat (BSGE 41, 80, 82 ff = SozR 3100 § 35 Nr 2). Daraus läßt sich die vom Kläger begehrte höhere Pflegezulage aber noch nicht herleiten, weil auch einem durch das schädigungsunabhängige Nierenleiden etwa gestiegenen Hilfebedarf mit Pflegestufe III möglicherweise ausreichend Rechnung getragen ist. Anders wäre ohne Ermittlung des hier tatsächlich bestehenden Hilfebedarfs nur zu entscheiden, wenn – wie der Kläger es wünscht – jeder noch so geringe zusätzliche Hilfebedarf eines Blinden jedenfalls zur Pflegestufe IV führen würde. Eine solche automatische Höherstufung gibt es nicht.
Zwar kann sich der Kläger anscheinend auf Nr 8 der Verwaltungsvorschriften (VV) zu § 35 BVG berufen. Dort heißt es: „Bei Blinden mit weiteren anerkannten Gesundheitsstörungen, die das Pflegebedürfnis erhöhen, ist die Pflegezulage nach Stufe IV zu gewähren, wenn nicht nach Nr 5 oder 6 Pflegezulage nach Stufe V oder VI zusteht.” Diese VV steht mit dem Gesetz nicht in Einklang, und sie wäre selbst dann unverbindlich, wenn die Verwaltung sie in ständiger Praxis anwenden sollte (vgl BSGE 7, 75, 77 f; s auch zum – ausnahmsweisen – Rechtsnormcharakter der VV Nr 4 ≪jetzt: Nr 5≫ zu § 30 BVG BSGE 29, 41, 42 f = SozR § 30 BVG Nr 35; Kummer, SGb 1977, 387, 392 und zum Rechtscharakter von Richtlinien im Krankenversicherungsrecht BSGE 78, 70, 74 ff = SozR 3-2500 § 92 Nr 6; BSGE 81, 73, 80 ff = SozR 3-2500 § 92 Nr 7). Einerseits widerspricht es – wie oben ausgeführt – der Regelung in § 35 BVG, eine Erhöhung des Pflegebedarfs nur durch „anerkannte” Gesundheitsstörungen zu berücksichtigen (vgl BSGE 41, 80, 82 ff = SozR 3100 § 35 Nr 2). Andererseits führt die zwingende Anhebung der Pflegezulage bei weiteren, den Pflegebedarf Blinder erhöhenden Gesundheitsstörungen zu einer vom Gesetz nicht mehr gedeckten Besserstellung dieses Personenkreises gegenüber anderen Kriegsbeschädigten.
Die Sonderstellung Blinder im Recht der Pflegezulage hat Tradition. Ihre herausgehobene Position beruhte zunächst auf begünstigenden Ausnahmebestimmungen in Ausführungs- und Durchführungsvorschriften zum Reichsversorgungsgesetz (≪RVG≫; vgl zur Entwicklung: Kommentar von Reichsversorgungsbeamten zum RVG, 2. Aufl 1929, § 31 Anm 27). Mit § 31 Abs 1 Satz 2 RVG (idF des Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1927 ≪RGBl I, 487≫) wurde die Sonderstellung gesetzlich verfestigt. An diese Vorschrift knüpfte das BVG (bei Pflegezulagen von 75, 100, 125 oder 150 DM) zunächst wie folgt an: „Blinde erhalten in der Regel die Pflegezulage von 100 Deutschen Mark” (§ 35 Abs 1 Satz 2 BVG idF vom 20. Dezember 1950 ≪BGBl I 1950, 791≫). Die Hilflosigkeit Blinder wurde danach als Voraussetzung des Anspruchs auf Pflegezulage zwar unwiderleglich vermutet, nicht aber in einem gesteigerten Grad. Das änderte sich mit dem Zweiten Neuordnungsgesetz vom 21. Februar 1964 (BGBl I 1964, 85). Durch Art I Nr 31 wurde § 35 Abs 1 Satz 3 BVG wie folgt gefaßt: „Blinde erhalten mindestens die Pflegezulage nach Stufe III”. Diese verstärkte Privilegierung blinder Beschädigter, für die sich in den Gesetzesmaterialien keine Begründung findet (vgl BT-Drucks IV/1831, S 7 und 21), hat notwendig zur Folge, daß Pflegezulage nach Stufe III auch dann zu gewähren ist, wenn die Auswirkungen der Blindheit im Einzelfall nur eine niedrigere Pflegestufe rechtfertigen würden (vgl dazu Rösner, MEDSACH 1988, 88, 94).
Die VV Nr 8 zu § 35 BVG geht über diese Privilegierung noch hinaus. Sie führt ein besonderes Verfahren bei der Einschätzung des Hilfebedarfs blinder mehrfach – oder zusätzlich schädigungsfremd auf Hilfe angewiesener – Beschädigter ein. Maßstab für die Zuordnung zu einer der Pflegestufen sollen nicht mehr Umfang und Grad des gesamten (blindheitsbedingten und blindheitsunabhängigen) Hilfebedarfs im Einzelfall sein. Vielmehr sei zunächst ohne Rücksicht auf den tatsächlich durch die Blindheit hervorgerufenen Hilfebedarf die Pflegestufe III als Sockel zugrunde zu legen und hierauf eine – mindestens zur Stufe IV führende – Gesamtbewertung aufzubauen. Diese Auffassung entspricht nicht dem Gesetz. Es gibt für die Gesamtbeurteilung des Hilfebedarfs blinder Beschädigter die Pflegestufe III lediglich als Mindestergebnis vor. Die Regelung schützt den betroffenen Personenkreis, wenn eine höhere Pflegezulage als nach der Stufe III begehrt wird, weder vor einer realistischen Einschätzung seines tatsächlichen (Gesamt-) Hilfebedarfs noch vor einer darauf gründenden Einordnung in das System der gestuften Pflegezulage. Das macht schon der Wortlaut des § 35 Abs 1 Satz 4 BVG deutlich. Danach ist die Pflegezulage „je nach Lage des Falles unter Berücksichtigung des Umfangs der notwendigen Pflege auf … zu erhöhen.” Diese Anweisung des Gesetzgebers gilt grundsätzlich auch für Blinde, allerdings mit der in § 35 Abs 1 Satz 5 BVG enthaltenen Einschränkung, daß einem Blinden mindestens die Pflegezulage nach der Pflegestufe III zu gewähren ist.
In diesem Sinne legen auch die vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herausgegebenen – insoweit allerdings nicht rechtsnormähnlichen – Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (Ausgabe 1996) das BVG aus. Sie bestimmen in Nr 50 Abs 11 Satz 2 – anders als noch in der Ausgabe 1983 – zu Recht, daß Blinden eine höhere Pflegezulage (als nach Stufe III) erst zu gewähren ist, wenn zur Blindheit Gesundheitsstörungen hinzutreten, die bei der gebotenen Gesamtbetrachtung das Pflegebedürfnis über den tatsächlichen Bedarf der Pflegestufe III hinaus erhöhen.
Dem angegriffenen Urteil läßt sich der sachliche und zeitliche Umfang des beim Kläger aus der Blindheit und dem Zustand nach Nierenverlust insgesamt folgenden Hilfebedarfs nicht entnehmen. Das LSG wird ihn im wiedereröffneten Berufungsverfahren festzustellen und auf dieser tatsächlichen Grundlage darüber zu entscheiden haben, ob der beim Kläger individuell vorliegende Grad der Hilfebedürftigkeit eine höhere Pflegezulage als nach Stufe III rechtfertigt.
Das LSG wird außerdem über die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 743323 |
BSGE 87, 63 |
BSGE, 63 |
FEVS 2001, 106 |
SozR 3-3100 § 35, Nr. 10 |