Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 21.11.1991; Aktenzeichen L 16 Kr 97/91)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1991 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beklagte wendet sich – unter Rüge eines Verfahrensfehlers – gegen ihre Verurteilung zur Zahlung einer Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Der Kläger bezog Knappschaftsrente wegen EU auf Zeit bis zum 31. Dezember 1987. Sein Weitergewährungsantrag blieb ohne Erfolg (Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 1987, Widerspruchsbescheid vom 9. Mai 1988).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte zur Weitergewährung der Zeitrente wegen EU bis zum 30. April 1993 verurteilt; ein neurologisch-psychiatrischer Sachverständiger hatte den Kläger ua wegen der Folgen einer Bandscheibenoperation für nur noch halb- bis untervollschichtig einsetzbar gehalten, nennenswerte Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit hingegen nicht gesehen (der orthopädische Sachverständige hatte keine zeitliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit angenommen). Das Landessozialgericht (LSG) holte im Berufungsverfahren ein chirurgisches Gutachten ein; dieses gelangte zu der Auffassung, der Kläger könne zwar noch „theoretisch” leichteste körperliche Arbeiten „wie Hilfskraft im Büro und Labor, Pförtner oder Arbeiter in einem Kleinteilemagazin”) vollschichtig verrichten:

„Für solche Tätigkeiten dürfte er aber nicht in Frage kommen, weil er während seines bisherigen Arbeitslebens nur einfachste körperliche Arbeiten ausgeführt hat. Ich meine auch, daß er sich auf eine solche Tätigkeit gar nicht mehr umstellen kann.”

Daraufhin hat das LSG die Beklagte verurteilt, dem Kläger Dauerrente wegen EU zu gewähren. Es folgte dem chirurgischen Gutachter, ließ jedoch offen, ob die zeitliche Einsatzfähigkeit beschränkt sei. Ein Arbeitseinsatz als Pförtner oder auch als Hilfsarbeiter im Büro oder im Labor bzw einem Kleinteilemagazin scheitere daran, daß er diesen Tätigkeiten geistig nicht gewachsen sei. Das Gericht folge dem chirurgischen Gutachter, auch wenn der Nervenarzt ausgeführt habe, daß die geistige Leistungsfähigkeit nicht eingeschränkt sei. Aus dem bisherigen Berufsleben ergebe sich jedoch, daß der Kläger nur mit allereinfachsten, ausschließlich körperlichen, Arbeiten beschäftigt gewesen sei, er habe zudem seit August 1983 nicht mehr gearbeitet und sei über 50 Jahre alt. Es leuchte unter solchen Umständen ein, wenn der chirurgische Sachverständige zu dem Ergebnis gelangt sei, daß sich der Kläger auf eine ihm völlig ungewohnte Arbeit in einem fremden gewerblichen Umfeld nicht mehr umstellen könne. Insgesamt ergebe sich aus den einzelnen Gutachten eine verbrauchte Gesamtverfassung, wodurch die psychisch-mentale Umstellungsfähigkeit – wie auf der Hand liege – ebenfalls einschränkend beeinflußt werde. Weiterer medizinischer Aufklärung hierzu habe es nicht bedurft. Der chirurgische Sachverständige sei dem Senat aus einer Vielzahl von Streitsachen bekannt. Er verfüge über große Erfahrungen und einen sicheren Blick auch für die Bedingungen der Arbeitswelt; er vermöge einzuschätzen, ob ein Versicherter diesen Bedingungen noch gewachsen sei. Der Senat habe daher dem Antrag der Beklagten, ein psychiatrisches, notfalls ein berufskundliches, Gutachten einzuholen, nicht stattgegeben, zumal spezielle psychiatrische Probleme beim Kläger nicht zu diskutieren seien. Andere Tätigkeiten, die der Kläger angesichts seiner Leistungsbeeinträchtigungen noch verrichten könne, sehe der Senat nicht, sie seien auch von den Sachverständigen nicht aufgezeigt worden.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Angesichts der unterschiedlichen Beurteilungen durch das im SG-Verfahren eingehaltene neurologisch-psychiatrische Gutachten einerseits und das chirurgische Gutachten andererseits hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, weitere Beweiserhebungen – etwa durch Einholung eines psychiatrischen oder berufskundlichen Gutachtens -durchzuführen. Auf diesem Verfahrensverstoß könne das Urteil auch beruhen, da das LSG der Auffassung gewesen sei, von seinem körperlichen Leistungsvermögen her sei der Kläger noch in der Lage, die genannten Verweisungstätigkeiten auszuüben.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1991 sowie das Urteil des SG Detmold vom 22. Mai 1990 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 28. Dezember 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Mai 1988 abzuweisen, hilfsweise das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1991 aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision gegen das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. November 1991 zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SGG).

Die zulässige Revision der Beklagten ist auch begründet. Das Berufungsurteil beruht auf einer Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Denn dem LSG hätte sich auch von seinem Rechtsstandpunkt die Notwendigkeit weiterer Beweiserhebung aufdrängen müssen.

Zwar genügt es in der Regel, wenn der in den meisten Fällen ohnehin gehörte medizinische Sachverständige zur Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit des Versicherten Stellung nimmt. Nur beim Vorliegen bestimmter Anhaltspunkte wird insoweit eine weitergehende Beweiserhebung erforderlich sein (so Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 28. Juni 1979, SozR 2200 § 1246 Nr 45 S 135 f). Im vorliegenden Fall aber durfte das LSG sich deshalb nicht mit der chirurgischen Äußerung zufrieden geben, da das hiervon abweichende Gutachten eines Neurologen und Psychiaters vorlag, der gerade keine Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit festgestellt hatte. Überdies gibt schon das chirurgische Gutachten selbst Anlaß zu Zweifeln an seiner Aussagekraft. Denn der Sachverständige kennzeichnet seine Äußerungen zur Umstellungsfähigkeit des Klägers erkennbar als nur persönliche Auffassung und gerade nicht als Feststellungen auf der Grundlage seines medizinischen Sachverstandes. Dies ergibt sich aus Wendungen wie: „dürfte”, „ich meine”.

Das LSG wird damit weitere Ermittlungen zur Umstellungsfähigkeit des Klägers anzustellen haben. Am ehesten bietet sich insoweit die Einholung eines psychologischen Gutachtens an, wie auch vom BSG (aaO) ausgeführt. Zutreffend hat das LSG darauf hingewiesen, daß sich beim Kläger kein spezifisches Krankheitsbild auf psychiatrischem Gebiet ergeben habe. Die alleinige Einholung eines berufskundlichen Gutachtens, das die Beklagte beantragt hatte, dürfte zur Umstellungsfähigkeit des Klägers kaum mehr ergeben als die Darlegung bloßen „Alltagswissens”, wie es die Beklagte dem chirurgischen Gutacher zugute hält. Berufskundliche Ermittlungen könnten allerdings die allgemeinen geistigen Voraussetzungen für die dem Kläger aufgrund seiner körperlichen Leistungsfähigkeit noch zugänglichen Arbeitsplätze klären und somit die Grundlage dafür schaffen, daß ein Psychologe zur konkreten Einsatzfähigkeit des Klägers Stellung nimmt.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174675

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