Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfolgter. deutscher Sprach- und Kulturkreis

 

Orientierungssatz

Ein Festhalten am bzw Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum kann von einem Verfolgten, der sich wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgekehrt hatte, nicht verlangt werden, so daß unter dieser Voraussetzung die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgung ausreicht.

 

Normenkette

WGSVG § 20 Abs 2, § 19 Abs 2 Buchst a; FRG §§ 15-16

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 08.09.1987; Aktenzeichen L 12 An 82/85)

SG Berlin (Entscheidung vom 26.06.1985; Aktenzeichen S 6 An 3623/83)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Herstellung einer Versicherungsunterlage für die Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) sowie um die Höhe des Altersruhegeldes.

Der 1916 in Ruginoasa, Bezirk Jassy (Rumänien) geborene, dann in Falticeni (Rumänien) wohnhaft gewesene Kläger war von Geburt an rumänischer Staatsbürger; 1970 wanderte er nach Israel aus, dessen Staatsangehörigkeit er seitdem besitzt.

Im Oktober 1981 beantragte der Kläger (sinngemäß) bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Anerkennung von Versicherungszeiten nach dem FRG. Er gab an, nach der Schulzeit von 1936 bis 1946 das Polytechnikum in Jassy besucht, zwischenzeitlich verfolgungsbedingt von Juni bis September 1941 in Falticeni Zwangsarbeit geleistet und sich danach bis August 1944 in Konzentrationslagerhaft in Turcoaia-Tulcea befunden zu haben. Während der Folgezeit bis 1970 sei er als Ingenieur bei der rumänischen Eisenbahn beschäftigt und in Bukarest wohnhaft gewesen. Für die deutsche Sprache habe er eine Privatlehrerin gehabt. Sein persönlicher Sprachgebrauch im Herkunftsland sei Rumänisch und Deutsch gewesen, der berufliche daneben auch Französisch. Sein Vater, rumänischer Herkunft, habe im persönlichen Bereich Rumänisch und Deutsch gesprochen. Die Muttersprache seiner aus der Bukowina stammenden Mutter mit ursprünglich österreichischer Staatsangehörigkeit sei Deutsch gewesen. Seine Ehefrau, die er im Mai 1946 geheiratet habe, habe Rumänisch, im Beruf auch Französisch gesprochen.

Ein Verfahren nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) wurde nicht durchgeführt; der Kläger erhielt in Israel wegen der Verfolgung aus dem Härtefond für Einzelfälle 1983 einen Betrag von 5.000,-- DM.

Durch Bescheid vom 8. September 1983/Ergänzungsbescheid vom 3. November 1983 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil der Kläger kein Vertriebener sei und auch nicht nach § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) einem Vertriebenen gleichgestellt werden könne. Schon die Verfolgteneigenschaft (§ 1 BEG) sei nicht glaubhaft gemacht; es fehle aber auch an der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK). Die von der Beklagten veranlaßte Sprachprüfung durch das israelische Finanzministerium kam am 12. Oktober 1983 zu dem Ergebnis, daß der Kläger von seiner Mutter ein deutsches Sprachelement auf seinen späteren Lebensweg übernommen habe und ihm daher attestiert werden könne, insbesondere in seiner Jugend unter dem Einfluß des deutschen Sprach- und Kulturkreises gestanden zu haben.

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage abgewiesen. Nachdem während des Berufungsverfahrens die Beklagte aufgrund nachentrichteter freiwilliger Beiträge mit Bescheid vom 30. Dezember 1986 Altersruhegeld für die Zeit ab 1. Juli 1982 gewährt hatte, ist durch das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Berlin (LSG) vom 8. September 1987 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Klage gegen den Altersruhegeldbescheid abgewiesen worden. Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt: Der Bescheid vom 8. September 1987 sei in entsprechender Anwendung des § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden. Der Kläger könne aber nicht gemäß § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) iVm §§ 15, 16 FRG die Herstellung von Versicherungsunterlagen für die von ihm in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten verlangen und daher auch nicht deren Berücksichtigung bei der Rentenberechnung. Er sei einem Vertriebenen nicht gemäß § 20 Satz 2 WGSVG gleichzustellen. Hierzu wäre erforderlich, daß er im Zeitpunkt des Verlassens Rumäniens dem dSK angehört habe, wofür der Gebrauch der deutschen Sprache von ausschlaggebender Bedeutung sei. Unter Würdigung der bekannten Tatsachen und insbesondere der Angaben des Klägers im Sprachprüfungsprotokoll könne nicht als überwiegend wahrscheinlich angenommen werden, daß er jedenfalls noch im Zeitpunkt seiner Auswanderung zum dSK gehört habe. Allenfalls ergebe sich daraus eine Zweisprachigkeit im Elternhaus, ohne daß sich jedoch der überwiegende Gebrauch des Deutschen objektiv feststellen lasse. Aber auch wenn dies der Fall gewesen sei, hätte sich der Kläger später von der deutschen Sprache gelöst, weil er 1946 eine Frau mit rumänischer Muttersprache und rumänischer Schulbildung geheiratet habe und die Umgangssprache in der Ehe ebenso wie die Muttersprache seines Kindes Rumänisch gewesen sei. Außerdem habe er damals in einer vollständig rumänisch-sprachigen Umgebung gelebt, und für einen umfangreichen deutschsprachigen Bekannten- und Freundeskreis seien keinerlei Anhaltspunkte vorhanden. Zwar hätte die denkbare Zugehörigkeit zum dSK nicht unmittelbar mit der Eheschließung 1946 geendet, sondern wäre noch für eine Übergangszeit erhalten geblieben; eine solche Übergangszeit sei aber jedenfalls 1970 verstrichen gewesen (Hinweis auf BSG SozR 5070 § 20 Nr 3).

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt Verletzung der §§ 20, 19 Abs 2 Buchst a WGSVG. Seine deutschsprachige Mutter habe als "prägender Elternteil" im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zugleich seine Muttersprache bestimmt. Das LSG habe verkannt, daß dem Verfolgungsdruck bis 1945 Bedeutung für die Frage zukomme, welche Anforderungen an die Zugehörigkeit zum dSK im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes zu stellen seien. Vertriebenenrechtlich bestimme sich die Zugehörigkeit zum dSK nach den tatsächlichen Lebensverhältnissen vor Beginn der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen, weil es insoweit unzumutbar sei, auf ein späteres Verhalten abzustellen. Jedenfalls sei der nicht mehr überwiegende Gebrauch der deutschen Sprache im Auswanderungszeitpunkt unschädlich, wenn die Abwendung vom deutschen Sprachgebrauch auf Verfolgung beruhe. Er - der Kläger - habe die ihm verbliebenen Möglichkeiten, Deutsch zu sprechen, genutzt; mehr könne angesichts der nach der Verfolgung bestehenden Verhältnisse nicht verlangt werden. Sofern man auf einen "Übergangszeitraum" abstelle, sei zu bedenken, daß seine Mutter bis 1964 ebenfalls in Falticeni gelebt und die Übergangszeit deshalb nur sechs Jahre betragen habe. Da die Frage der glaubhaft gemachten Fremdbeitragszeiten noch offen sei, könne nur die Zurückverweisung beantragt werden.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 8. September 1987 und des Sozialgerichts Berlin vom 26. Juni 1985 sowie die Bescheide der Beklagten vom 8. September 1983 und 3. November 1983 aufzuheben, den Bescheid vom 30. Dezember 1986 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, über die von ihm in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten Versicherungsunterlagen herzustellen und diese Zeiten bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung sei der Kläger Verfolgter, der ursprünglich dem dSK angehört habe. Sie räumt ein, daß er deswegen und weil er zu dem Zeitpunkt, als sein Heimatgebiet unter nationalsozialistischen Einfluß geriet (6. April 1941) das 16. Lebensjahr vollendet gehabt und später ein Vertreibungsgebiet verlassen habe, ab 1. Juli 1990 zu dem nach § 17a FRG berechtigten Personenkreis gehöre. Demgegenüber müßte nach § 20 WGSVG die dSK- Zugehörigkeit noch bis zur Aussiedlung fortbestanden haben, woran es hier fehle.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Sachentscheidung nicht aus.

Nach § 11 Abs 2 VuVO sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des FRG Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Da der Kläger nicht zum Personenkreis des § 1 FRG gehört und der zum 1. Juli 1990 in Kraft getretene § 17a FRG (Art 15 Abschn A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 des Rentenreformgesetzes 1992 -RRG 1992- vom 18. Dezember 1989 - BGBl I S 2261) im Verhältnis zu § 20 WGSVG nachrangig ist, könnten Versicherungszeiten, die der Kläger in Rumänien zurückgelegt haben will, nach den §§ 15, 16 FRG nur dann nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RRG 1992) stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) "vertriebene Verfolgte" gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Die Anwendung des FRG auf den Kläger hängt demnach unter der Voraussetzung, daß seine Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG (noch) festgestellt wird, davon ab, ob er "vertrieben" worden ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebener anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer "als deutscher Volkszugehöriger" nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Rumänien verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger im Sinne des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu bestimmt § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG, daß § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat.

Der Senat hat bereits in seiner Entscheidung vom 15. November 1988 - 4 RA 14/88 (SozR 5070 § 20 Nr 13) ausgeführt, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum dSK eine "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; SozR aaO Nrn 2, 4, 5 jeweils mwN). Denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprach-, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich (so BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8), der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat (BSG SozR aaO Nr 4 S 14; BSGE 50, 279, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8; Nr 13 S 50; BSG Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Eine freiwillige, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Abkehr von der überwiegenden Verwendung der deutschen Sprache im persönlichen Bereich zieht danach den Verlust der Zugehörigkeit zum dSK nach sich (vgl zu allem Urteil des Senats vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88).

Eine generelle Ausnahme von dem Erfordernis der Zugehörigkeit zum dSK und damit auch von der Notwendigkeit, die deutsche Sprache im persönlichen Bereich überwiegend zu verwenden, hat die Rechtsprechung jedoch für den Fall angenommen, daß ein vertriebener Verfolgter sich vom deutschen Volkstum wegen der Verfolgungsmaßnahmen abgekehrt hatte, da insoweit ein Festhalten am bzw ein Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum nicht verlangt werden könne. Ausreichend sei vielmehr insoweit, daß die Zugehörigkeit zum dSK bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgung bestanden habe (Urteil des Senats vom 28. Juni 1990 S 6 unter Hinweis auf BSG SozR 5070 § 20 Nr 2 S 5; Nr 9, S 32; vgl auch Giessler, Das Bundesentschädigungsgesetz, Erster Teil, 1981, S 83f mwN).

Ausgehend von diesen Grundsätzen der Rechtsprechung des BSG reichen die Feststellungen des Berufungsgerichts weder für die Zuerkennung des geltend gemachten Anspruchs (dem Grunde nach) noch für dessen Ablehnung aus. Das LSG hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - offengelassen, ob der Kläger (wie von der Beklagten in der Revisionserwiderung angenommen) Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Es hat aber auch letztlich nicht entschieden, ob der Kläger ursprünglich (was von der Beklagten in dem erwähnten Schriftsatz ebenfalls bejaht wurde) dem dSK angehört hatte. So heißt es auf S 13 des Urteils: "Auch der Senat kann es unter Würdigung der ihm bekannten Tatsachen und insbesondere der eigenen Angaben des Klägers im Sprachprüfungsprotokoll nicht als überwiegend wahrscheinlich ansehen, daß der Kläger (jedenfalls noch) im Zeitpunkt seiner Auswanderung dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat." Zwar fährt das Berufungsgericht dann fort, daß schon nicht angenommen werden könne, er habe in seinem Elternhaus überwiegend Deutsch gesprochen, es ergebe sich allenfalls eine Zweisprachigkeit; der folgende Absatz (S 14 des Urteils) leitet dann jedoch auf die eigentlich tragende Begründung über ("Aber selbst wenn der Kläger im Elternhaus noch überwiegend deutsch gesprochen hätte, wäre später eine Lösung von dieser Sprache eingetreten"), und die Tatsachenbewertung und rechtliche Würdigung schließt ab (S 16 aaO): "Kann es der Senat danach aber nicht zumindest als überwiegend wahrscheinlich ansehen, daß der Kläger beim Verlassen Rumäniens dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hat, sind die Voraussetzungen des § 20 WGSVG ... nicht erfüllt." Wortlaut, Aufbau und Schwerpunkt der Begründung deuten also darauf hin, daß die ursprüngliche Zugehörigkeit zum dSK vom LSG zwar in Frage gestellt, aber nicht abschließend verneint, sondern darauf abgehoben worden ist, der Kläger habe im Zeitpunkt der Auswanderung aus Rumänien im persönlichen Bereich nicht (mehr) überwiegend die deutsche Sprache gebraucht.

Auf eine abschließende Prüfung und Entscheidung, ob der Kläger ursprünglich dem dSK angehört hat, kann aber nicht verzichtet werden, wenn die bisher vom LSG ausdrücklich offengelassene Frage der Verfolgteneigenschaft iS von § 1 BEG zu bejahen ist (verneinendenfalls schieden ohnehin §§ 19, 20 WGSVG als Anspruchsgrundlage aus). Gehörte nämlich der Kläger zunächst einmal dem dSK an, so kann ein Anspruch aus § 20 Abs 1 Satz 2 WGSVG (in der seit dem 1. Januar 1990 geltenden Fassung) iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG nicht schon deshalb abgelehnt werden, weil zum Zeitpunkt der Auswanderung aus Rumänien diese Zugehörigkeit nicht mehr bestand. Denn ein Festhalten am bzw Wiederzuwenden zum deutschen Volkstum kann - wie oben ausgeführt - von einem Verfolgten, der sich wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgekehrt hatte, nicht verlangt werden, so daß unter dieser Voraussetzung die Zugehörigkeit zum dSK bis zum Beginn der individuellen oder allgemeinen Verfolgung ausreicht. Das Urteil des Berufungsgerichts enthält keine Ausführungen, ob eine solche Fallgestaltung hier vorgelegen hat. Aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen kann dies jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, zumal dem Revisionsgericht die Tatsachenbewertung verwehrt ist und überdies die rechtliche Würdigung eines bisher von der Tatsacheninstanz nicht erörterten Komplexes insbesondere unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs prozessual zumindest bedenklich wäre. Schon deshalb muß der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden, damit im Zusammenhang mit der angesprochenen Problematik weitere Ermittlungen durchgeführt und Feststellungen zum Zwecke der abschließenden Bewertung getroffen werden können. Gleichzeitig könnte und sollte, was die Frage der Einordnung in den dSK anlangt, noch untersucht werden, ob der Umstand, daß die Mutter des Klägers österreichischer Herkunft war (zur Einbeziehung der österreichischen Volksgruppe in den dSK vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 12 S 40 mwN) und Deutsch gesprochen hat, dessen Muttersprache bestimmt hat, zumal der Vater des Klägers neben Rumänisch auch die deutsche Sprache gebraucht haben soll. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß - in den Gründen des angefochtenen Urteils ohne Erörterung geblieben - nach den Angaben des Klägers sich ein deutsches Kindermädchen im elterlichen Haushalt befunden habe. Andererseits wird zu prüfen sein, ob deshalb, weil der Kläger an einer rumänischen Schule gewesen ist, negative Schlüsse hinsichtlich des dSK gezogen werden können; dies wäre dann nicht möglich, wenn es am Wohnort und in der näheren Umgebung keine deutsche Schule gegeben hätte.

Ergibt sich, daß der Kläger Verfolgter ist, ursprünglich dem dSK angehört und sich vom deutschen Volkstum auch nicht wegen Verfolgungsmaßnahmen abgekehrt, sondern in seinem persönlichen Lebensbereich Deutsch als Muttersprache verwendet hat, so hätte er gleichwohl die Zugehörigkeit zum dSK nicht bereits unmittelbar mit dem Zeitpunkt verloren, von dem an der Gebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwog (BSGE 50, 279, 281 = SozR 5070 Nr 3 S 9; Nr 13, S 48; ebenso nunmehr auch der 1. Senat im Urteil vom 19. April 1990).

Der 1. Senat hat nunmehr entschieden (Urteil vom 19. April 1990, aaO), daß für die Dauer der Übergangsfrist neben den subjektiven, persönlichen Gründen auch die objektiven Lebensverhältnisse erheblich sein können, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind. Es kann danach für den Fortbestand der Zugehörigkeit eines Verfolgten zum dSK nicht ohne Bedeutung sein, wenn er aufgrund der verfolgungsbedingten Lebensverhältnisse objektiv außerstande gewesen ist, auch im persönlichen Bereich seine deutsche Muttersprache weiter zu gebrauchen. Eine indizielle Bedeutung für eine "freiwillige" Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten - auch im persönlichen Bereich - um so weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben.

Der Senat schließt sich - wie schon im Urteil vom 28. Juni 1990 - der Entscheidung des 1. Senats an. Auch nach seiner Auffassung kann offenbleiben, ob - wie von der Revision vertreten - in bestimmten Fällen nach geltendem Recht generell eine Ausnahme von dem Erfordernis, dem dSK auch noch im Zeitraum der Aussiedlung angehören zu müssen, geboten ist. Gegen eine derartige Auslegung des § 20 Abs 2 WGSVG iVm § 19 Abs 2a WGSVG könnte die - neue - Regelung des § 17a FRG sprechen, die gerade diejenigen Verfolgten erfassen soll, die in der Zeit bis zur Ausreise aus ihren Heimatgebieten die Zugehörigkeit zum dSK verloren haben (vgl Bericht des BT-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks 11/5530, S 65 zu Nr 3a). Der Sachverhalt bietet, jedenfalls soweit er den Feststellungen des LSG entnommen werden kann, keinen Anhalt für die Annahme, der Kläger sei verfolgungsbedingt, bezogen auf den dSK, "vereinsamt"; er hat von 1944 an in Bukarest gewohnt und gleichzeitig dort seine langjährige Tätigkeit als Ingenieur bei der rumänischen Eisenbahn begonnen. Soweit nach den genannten Urteilen des 1. Senats vom 19. April 1990 und des erkennenden Senats vom 28. Juni 1990 dem Verfolgten eine "Übergangszeit" von bis zu 13 1/2 Jahren, gerechnet von der Eheschließung mit einer Rumänin bis zur Auswanderung, zugestanden worden ist, kann dies auf den vorliegenden Sachverhalt nicht übertragen werden. Denn hier betrug die entsprechende Zeit, worauf bereits das LSG hingewiesen hat, über 20 Jahre, nämlich etwa 24 Jahre. Dieser Zeitraum ist sowohl absolut zu lang, um noch als "Übergangszeit" angesehen zu werden, und er ist auch (relativ) länger als die Hälfte des Zeitraums, in dem der Kläger überwiegend Deutsch gesprochen hat. Der Einwand des Klägers, seine Mutter habe noch bis 1964 in Falticeni gelebt, vermag am Ergebnis nichts zu ändern, zumal die Annahme der Revisionsschrift, Falticeni sei der "Wohnort des Klägers und seiner Ehegattin", nicht zutrifft; wie vom LSG festgestellt, wohnte der Kläger schon vor und seit der Eheschließung in - dem von Falticeni weit entfernten - Bukarest.

Ob der Kläger dann, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG nicht erfüllt sind, ab 1. Juli 1990 einen Anspruch gemäß § 17a FRG auf Anerkennung der geltend gemachten Beitrags- und Beschäftigungs- zeiten hat, brauchte der Senat wegen der Nachrangigkeit des Anspruches nach § 17a FRG im Verhältnis zu dem des § 20 WGSVG nicht zu entscheiden.

Die Revision des Klägers mußte iS der Zurückverweisung der Streitsache an das LSG Erfolg haben, wobei das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666836

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