Entscheidungsstichwort (Thema)
Versorgung mit Hilfsmitteln. Behinderungsausgleich. Oberschenkelprothese. Kniegelenksystem C-Leg
Leitsatz (redaktionell)
- Solange ein Ausgleich der Behinderung im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen nicht vollständig erreicht ist, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend.
- Deutliche Gebrauchsvorteile des neuartigen Hilfsmittels (hier: C-Leg) reichen bereits aus, um einen Anspruch des Versicherten zu begründen.
- Gebrauchsvorteile sind dann wesentlich, wenn sie sich allgemein im Alltagsleben auswirken und sich nicht bloß auf einen besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken.
Normenkette
SGB V § 33 Abs. 1 S. 1, § 12
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. Dezember 2003 und des Sozialgerichts Mannheim vom 21. November 2002 geändert sowie der Bescheid der Beklagten vom 31. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2002 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit einer Oberschenkelprothese mit dem Kniegelenksystems C-Leg und dem Fußsystem 1C40 zu versorgen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten.
Tatbestand
I
Es ist streitig, ob die beklagte Krankenkasse (KK) den Kläger mit einer Oberschenkelprothese mit dem Kniegelenksystem C-Leg (mikroprozessorgesteuertes Einachskniegelenk mit hydraulischer Standphasensicherung und Schwungsphasensteuerung) zu versorgen hat.
Bei dem 1967 geborenen, bei der Beklagten krankenversicherten Kläger musste als Folge einer Arterienverletzung im Mai 1997 das linke Bein in Höhe des Oberschenkels amputiert werden. Er ist mit einer konventionellen Prothese mit 3R80-Kniegelenk der Firma B.… und CAT-CAM-Oberschenkelschaft versorgt. Als Spätaussiedler aus Kasachstan hat er die Ausbildung zum Orthopädiemechaniker im April 2004 erfolgreich abgeschlossen.
Im Februar 2001 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Verordnung des Orthopäden Dr. J.… die Versorgung mit einer Oberschenkelprothese mit C-Leg-Kniegelenk und 1C40-Fußsystem, die nach dem Kostenvoranschlag eines Sanitätshauses 45.134,81 DM kosten sollte. Die Beklagte lehnte nach Einholung fachkundiger Stellungnahmen den Antrag ab, weil der Kläger mit der vorhandenen herkömmlichen Prothese ausreichend und zweckmäßig versorgt sei; die C-Leg-Prothese biete demgegenüber keine Vorteile, die die hohen Kosten rechtfertigten (Bescheid vom 31. März 2001, Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2002).
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 21. November 2002 abgewiesen. Die vorhandene konventionelle Prothetik sei ausreichend. Die Beklagte sei nicht verpflichtet, dem Kläger die bestmögliche Versorgung zur Verfügung zu stellen, solange es nicht um die Vermeidung einer erheblichen Gefährdung gehe. Das sei derzeit nicht zu erkennen. Auch im Rahmen seiner Ausbildung zum Orthopädiemechaniker sei der Kläger nicht auf die Optimalversorgung angewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers mit Urteil vom 12. Dezember 2003 zurückgewiesen: Es sei zwar davon auszugehen, dass das Kniegelenksystem C-Leg im Vergleich zu einem herkömmlichen Kniegelenksystem erhebliche Gebrauchsvorteile biete und das Grundbedürfnis des Gehens, Laufens und Stehens nach dem gegenwärtigen Stand der Technik soweit wie möglich decke. Die Gebrauchsvorteile bestünden darin, dass das C-Leg ein nahezu physiologisches Gangbild ermögliche, welches kaum von dem eines Nichtamputierten zu unterscheiden sei; außerdem werde durch die elektronische Steuerung die Sturz- und Stolpergefahr erheblich reduziert, was insbesondere beim Treppabgehen sowie beim Überwinden unebenen Geländes eine Rolle spiele. Dies führe jedoch nicht dazu, dass die KKn sämtliche Versicherte, die ähnlich beeinträchtigt seien wie der Kläger, generell mit einem C-Leg auszustatten hätten. Der Gebrauchsvorteil dieser Ausstattung hänge nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (SozR 3-2500 § 33 Nr 44) maßgeblich von den körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Prothesenträgers und seiner persönlichen Lebensgestaltung ab, weshalb nicht jeder derart Betroffene in der Lage sei, die speziellen Gebrauchsvorteile des C-Leg auch tatsächlich zu nutzen. Im Einzelfall fehle es dann an der Erforderlichkeit für dieses spezielle Hilfsmittel. Demnach könne nur derjenige die Versorgung mit einem C-Leg beanspruchen, der im Alltagsleben hierdurch “deutliche Gebrauchsvorteile” habe. Diese Voraussetzung habe das BSG in dem erwähnten Verfahren im Falle einer Mutter zweier zwei und sieben Jahre alter Kinder bejaht und zur Begründung im Wesentlichen darauf abgestellt, dass der im Vergleich zu der bisher von ihr verwendeten Prothese deutlich verminderten Sturzgefahr gerade im Umgang mit ihren kleinen Kindern erhebliche Bedeutung beizumessen sei. Dass sich über die “allgemeinen Vorteile” hinaus, die sich jedem ähnlich betroffenen Versicherten gleichermaßen bieten, im Alltagsleben für den Kläger zusätzliche “deutliche Gebrauchsvorteile” ergeben, sei nicht ersichtlich. Insbesondere sei nicht erkennbar, dass die begehrte Versorgung dem Kläger im Vergleich zu der ihm derzeit zur Verfügung stehenden Versorgung deutliche Gebrauchsvorteile im Rahmen seiner Ausbildung zum Orthopädiemechaniker biete.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 33 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Die Vorinstanzen hätten ihre ablehnenden Entscheidungen zu Unrecht auf das BSG-Urteil vom 6. Juni 2002 – B 3 KR 68/01 R – (SozR 3-2500 § 33 Nr 44) gestützt. Bei zutreffender Interpretation des Urteils hätte der Klage stattgegeben werden müssen, weil die festgestellten erheblichen Gebrauchsvorteile des C-Leg-Systems sich im gesamten Alltagsleben auswirkten und deshalb ausreichten, die Anspruchsvoraussetzungen des § 33 SGB V zu erfüllen. Eine der Situation einer Mutter mit zwei beaufsichtigungsbedürftigen Kindern vergleichbare besondere Lebenslage müsse nicht vorliegen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 12. Dezember 2003 und des SG Mannheim vom 21. November 2002 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 31. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihn mit einer Oberschenkelprothese mit dem Kniegelenksystem C-Leg und dem Fußsystem 1C40 zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Entscheidung der Beklagten, den Antrag des Klägers auf Versorgung mit einer mikroprozessorgesteuerten Oberschenkelprothese (C-Leg) abzulehnen, ist rechtswidrig.
Versicherte haben nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V idF des Art 5 Nr 9 iVm Art 67 des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkasse nicht bewilligen (§ 12 Abs 1 SGB V).
Die Beklagte zieht nicht in Zweifel, dass der Kläger nach § 33 SGB V wegen seiner Amputation im Oberschenkel Anspruch auf Ausstattung mit einer Beinprothese hat, weil dies zum Ausgleich der Behinderung erforderlich ist. Sie hat ihn seit 1997 mit herkömmlichen Beinprothesen versorgt. Damit ist aber dem Anspruch des Klägers auf den erforderlichen und nach dem Stand der Medizintechnik möglichen Behinderungsausgleich (vgl § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) nicht Rechnung getragen worden. Solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig erreicht ist im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen, kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend.
Das LSG hat festgestellt, dass die C-Leg-Prothese des Herstellers B.… wegen der Steuerung durch Mikroprozessortechnik deutliche Gebrauchsvorteile gegenüber den bisher üblichen, allein mechanisch gesteuerten Prothesen aufweist, und zwar durch die Ermöglichung eines nahezu natürlichen Gangbildes und einer erheblichen Reduzierung der Sturzgefahr. Diese Feststellungen werden von der Beklagten nicht angegriffen und sind daher für den Senat nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindend.
Zu Unrecht stellt das LSG jedoch darauf ab, der Kläger könne die Gebrauchsvorteile des C-Leg nicht in einem solchen Maße nutzen, wie es der Senat in seinem Urteil vom 6. Juni 2002 – B 3 KR 68/01 R – (SozR 3-2500 § 33 Nr 44) für anspruchsbegründend gehalten habe. Dieser von den Vorinstanzen und der Beklagten vertretenen Rechtsauffassung liegt eine unrichtige Auslegung dieser Entscheidung zu Grunde. Das LSG hat festgestellt, dass der Kläger von seinen körperlichen und geistigen Voraussetzungen her in der Lage ist, die Gebrauchsvorteile der Prothese voll zu nutzen. Er nutze diese tatsächlich auch in seinem Alltag in allen Lebenslagen, die das Gehen (einschließlich Treppensteigen) bzw das Laufen erfordern. Bei der intensiven Nutzung der Prothese profitiere er in besonderem Maße durch die deutlich verminderte Sturzgefahr. Zudem ermögliche die Prothese einen physiologischen Bewegungsablauf, der dem Gangbild eines Nichtamputierten nahe komme. Diese verfahrensfehlerfrei festgestellten deutlichen Gebrauchsvorteile des C-Leg reichen bereits aus, um den Anspruch des Klägers zu begründen.
Auf Grund der festgestellten Tatsachen ist die Einschätzung des LSG, dass die mit der C-Leg-Versorgung für den Kläger verbundenen Vorteile gegenüber der bisherigen Versorgung dennoch iS des § 33 SGB V nicht erheblich seien, verfehlt. Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 6. Juni 2002 – B 3 KR 68/01 R – (SozR 3-2500 § 33 Nr 44), in der – ebenso wie hier – die von der Tatsacheninstanz festgestellten allgemeinen Gebrauchsvorteile nicht angegriffen und deshalb für den Senat bindend festgestellt waren, ausgeführt, dass die Gebrauchsvorteile dann wesentlich sind, wenn sie sich allgemein im Alltagsleben auswirken und sich nicht auf einen bloß besseren Komfort im Gebrauch oder eine bessere Optik beschränken. In dem damals entschiedenen Fall wurde der wesentliche Gebrauchsvorteil darin gesehen, dass die betroffene Versicherte bei der Beaufsichtigung ihrer kleinen Kinder von der Verringerung der Sturzgefahr besonders profitierte. Dass dies nicht nur ein Lebensbereich am Rande, sondern ein solcher von zentraler Bedeutung ist, hat der Senat auch unter Hinweis auf die besondere Erwähnung der Belange behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages in § 9 Abs 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) betont. Den Ausführungen kann aber keineswegs entnommen werden, dass nur behinderte Mütter oder Väter zur Erfüllung ihres Erziehungsauftrags Anspruch auf eine C-Leg-Versorgung haben, oder dass es zumindest ein Lebensbereich sein müsse, der in ähnlicher Weise vom Gesetz besonders hervorgehoben werde. Dies hat das LSG verkannt und deshalb die deutlichen Gebrauchsvorteile des C-Leg im normalen Alltag des Klägers zu Unrecht als nicht erheblich gewertet.
Die Versorgung mit der C-Leg-Prothese verstößt trotz der erheblichen Mehrkosten gegenüber einer herkömmlichen Prothese von rund 10.000,00 € auch nicht gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs 1 SGB V). Eine Kosten-Nutzen-Erwägung ist hier nicht anzustellen. Erhebliche Mehrkosten sind nur dann beachtlich, wenn die zusätzlichen Gebrauchsvorteile eines neuen Hilfsmittels im Alltagsleben eher als gering und die dafür anfallenden Kosten im Vergleich zu einem bisher als ausreichend angesehenen Versorgungsstandard als unverhältnismäßig hoch einzuschätzen sind (stRspr, so auch zuletzt Urteil vom 6. Juni 2002 – B 3 KR 68/01 R – SozR 3-2500 § 33 Nr 44). Ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weil sich die mit dem Einsatz des C-Leg verbundenen Gebrauchsvorteile allgemein im Alltagsleben des Klägers und nicht nur in Randbereichen auswirken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen