Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 03.11.1989) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. November 1989 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Tätigkeit der Klägerin in der DDR gemäß § 107 Satz 1 Nr 3 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) als anwartschaftsbegründend angerechnet werden kann.
Die Klägerin ist ungarische Staatsangehörige. Sie heiratete 1967 einen Deutschen mit der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und zog in die DDR. Sie lehnte es indes ab, die DDR-Staatsbürgerschaft anzunehmen, um die Vorteile der ungarischen Staatsbürgerschaft nicht zu verlieren (größere Ausreisemöglichkeiten). Am 26. Juli 1987 begab sich ihr Ehemann in die Bundesrepublik Deutschland und fand dort Aufnahme. Ihm wurde ein Flüchtlingsausweis C ausgestellt. Die Klägerin reiste kurz darauf am 29. Juli 1987 in die Bundesrepublik ein. Am 10. Oktober 1987 beantragte sie die Einbürgerung. Am 5. April 1989 erhielt sie eine Einbürgerungszusicherung.
Am 3. August 1987 meldete sich die Klägerin arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Sie gab an und belegte, daß sie in der DDR von 1971 bis 27. Juli 1987 als Absatzdisponentin bzw Absatzplanerin gearbeitet habe. Das Arbeitsamt lehnte die Bewilligung von Alg ab (Bescheid vom 26. Januar 1988). Ihr Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. Februar 1988), weil die Klägerin die Anwartschaftszeit nicht erfüllt habe. Sie sei nicht Deutsche im Sinne des Art 116 Abs 1 des Grundgesetzes (GG). Deshalb komme eine Anrechnung ihrer Beschäftigungszeit in der DDR nach § 107 Satz 1 Nr 3 AFG nicht in Betracht.
Klage und Berufung blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Mainz -SG- vom 17. November 1988; Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz -LSG- vom 3. November 1989). Das LSG hat sich der Auffassung der Beklagten angeschlossen, Deutsche iS des Art 116 Abs 1 GG seien nur deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige sowie die Ehegatten und Abkömmlinge deutscher Volkszugehöriger, nicht jedoch Ehegatten und Abkömmlinge deutscher Staatsangehöriger, die eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen.
Mit der Revision macht die Klägerin geltend, sie habe gemäß Art 116 Abs 1 GG schon während der Zeit ihrer Tätigkeit in der DDR als Deutsche gegolten. Es sei anerkannt, daß auch die ausländischen Ehegatten deutscher Staatsangehöriger als Deutsche anzusehen seien, wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft nicht ablehnten. Dies habe sie zu keiner Zeit getan. Sie habe kurz nach ihrem Eintreffen in der Bundesrepublik einen Einbürgerungsantrag gestellt. Die DDR-Staatsbürgerschaft habe sie lediglich abgelehnt, um sich nicht den damit verbundenen Zwängen auszusetzen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. November 1989 und des Urteils des Sozialgerichts Mainz vom 17. November 1988 sowie des Bescheides vom 26. Januar 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1988 die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 3. August 1987 Arbeitslosengeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verweist auf das Urteil des LSG.
Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit ohne mündliche Verhandlung entschieden wird (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Sache ist unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.
Zutreffend hat das LSG angenommen, daß § 107 Satz 1 Nr 3 AFG keine Rechtsgrundlage dafür bietet, die Beschäftigungszeit der Klägerin in der DDR als anwartschaftsbegründende Zeit anzurechnen.
Eine Anrechnung ist nur möglich, wenn die Klägerin während ihrer Tätigkeit in der DDR Deutsche war oder einer Deutschen gleichzustellen ist. Letzteres vermag der Senat anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend zu entscheiden.
Die historische Entwicklung und auch der Zweck des § 107 Satz 1 Nr 3 AFG lassen erkennen, daß die Anrechnung einer Zeit der Beschäftigung im Gebiet der DDR nur in Betracht kommt, wenn der Arbeitslose bereits im Zeitpunkt der Beschäftigung Deutscher war. Dies war in der Vorläufer-Bestimmung des § 86 AVAVG schon nach dem Wortlaut klar. Dort wurde nur angerechnet „eine Beschäftigung Deutscher (Artikel 116 des Grundgesetzes)”. Was den Gesetzgeber veranlaßt hat, die Wortfassung zu ändern, ist nicht ersichtlich. Jedenfalls kann nicht angenommen werden, daß damit eine sachliche Ausdehnung auf den Personenkreis bezweckt war, dem die Klägerin angehört.
Dagegen spricht, daß § 107 Satz 1 Nr 3 AFG mit dem Begriff „Deutscher iS des Art 116 GG” nicht nur der Gleichstellung von Vertriebenen und Flüchtlingen dient. Er erfaßt vielmehr die Tätigkeit jedes Deutschen, die er außerhalb des Geltungsbereichs des AFG im ehemaligen Reichsgebiet ausgeübt hat. Die Ausdehnung dieser Gleichstellung auf Personen, die erst nach ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutsche geworden sind, wäre eine so erhebliche Ausweitung, daß ein dahingehender Wille des Gesetzgebers nur dann unterstellt werden könnte, wenn eine entsprechende Diskussion voraufgegangen wäre, oder die Materialien einen dahingehenden Willen erkennen ließen. Beides ist aber nicht der Fall.
Während ihrer Tätigkeit in der DDR war die Klägerin nicht Deutsche im Sinne des § 116 GG. Sie war in dieser Zeit allein ungarische Staatsangehörige und hatte die Staatsbürgerschaft der DDR ausdrücklich nicht angenommen.
Die Klägerin ist auch nicht, wie sie in diesem Verfahren geltend macht, Status-Deutsche gewesen. Gemeint sind damit Vertriebene und Flüchtlinge deutscher Volkszugehörigkeit und deren Ehegatten, die eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Ihr Ehemann war während der Dauer des gemeinsamen Aufenthalts in der DDR weder Vertriebener noch Flüchtling, so daß sie als Ehefrau in keinem Fall über Art 116 GG die Eigenschaft als Deutsche erlangt haben kann, selbst wenn man – was naheliegt – auch die ausländischen Ehefrauen von Vertriebenen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, als Deutsche iS von Art 116 GG ansieht.
Wer Vertriebener oder Flüchtling ist, bestimmt sich auch für den Bereich des Art 116 GG nach den §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Auch zu dem hier erfaßten Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Die §§ 3 und 4 BVFG betreffen Übersiedler aus dem ehemaligen Gebiet der DDR (im Sprachgebrauch des Gesetzes noch „Sowjetzonenflüchtlinge”). Sie fanden keine Anwendung, solange der Ehemann der Klägerin noch in der DDR wohnte. Die §§ 1 und 2 BVFG betreffen dagegen nur Personen, die aus den Gebieten des ehemaligen Deutschen Reiches außerhalb der DDR vertrieben worden sind.
Aus dem Ergebnis, daß § 107 Satz 1 Nr 3 AFG auf die Klägerin keine Anwendung findet, folgt aber noch nicht, daß ihr die geltend gemachten Beschäftigungszeiten nicht angerechnet werden können. Es bleibt vielmehr zu prüfen, ob sie unmittelbar aufgrund der Gleichstellungsvorschrift des § 90 Abs 1 BVFG verlangen kann, daß ihre Beschäftigungszeit in der DDR anwartschaftsbegründend berücksichtigt wird.
Der 7. Senat des BSG hat zu der geplanten, aber damals noch nicht in Kraft getretenen Vorschrift des § 86 AVAVG, nämlich zu § 59a des Entwurfs zur großen Novelle zum AVAVG, entschieden, daß diese (dem jetzigen § 107 Satz 3 Nr 3 AFG entsprechende) Vorschrift kein Ausführungsgesetz zur Gleichstellung im Sinne des § 90 Abs 3 BVFG ist und deshalb die unmittelbare Anwendung von § 90 Abs 1 BVFG nicht ausschließt (BSGE 4, 102, 106; BSGE 10, 103, 105; vgl auch LSG Baden-Württemberg 14.12.1990 – L 5 Ar 838/88 –). Dem ist auch unter der Geltung des AFG zu folgen.
Die neuere Entwicklung der Gesetzgebung gibt keinen Anlaß zu der Annahme, daß der Gesetzgeber die frühere Regelung verändert hat. Die Einfügung von § 90a durch Art 1 Nr 1 des Gesetzes vom 2. Dezember 1985 (BGBl I, 2138) in das BVFG betrifft nur die Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung für die Fälle, in denen der Antragsteller gehindert worden ist, als Arbeitnehmer tätig zu sein (zum Wirkungsumfang dieser Vorschrift: BSG SozR 4100 § 134 Nr 40; BSG 13. März 1990 – 11 RAr 23/88 –). Im übrigen läßt diese Gesetzgebungstechnik gerade nicht den Schluß zu, der Gesetzgeber sei davon ausgegangen, die Ansprüche der Vertriebenen aus der Arbeitslosenversicherung wären ausschließlich im AFG geregelt, das einen Rückgriff auf das BVFG ausschließe. Denn bei diesem Ausgangspunkt hätte er die in § 90a BVFG erfolgte Modifizierung in das AFG einfügen müssen.
Allerdings fällt auf, daß weder im Gesetz zur Anpassung von Eingliederungsleistungen für Aussiedler und Übersiedler vom 22. Dezember 1989 (BGBl I, 2398), das ua § 107 Satz 1 Nr 3 AFG gestrichen hat, dafür aber vor allem in den §§ 62a ff AFG Neuregelungen für Übersiedler trifft, noch im Gesetz zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 25. Juni 1990 (BGBl II, 518), das mit dem (inzwischen wieder aufgehobenen) § 241b AFG den hier einschlägigen Bereich neu geregelt hat, noch in dem Gesetz vom 23. September 1990 zu dem Vertrag vom 31. August 1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands und der Vereinbarung vom 18. Dezember 1990 (BGBl II, 885) besondere Bestimmungen enthalten sind, die erkennen lassen, daß von der Weitergeltung des § 90 BVFG neben § 107 AFG auszugehen ist. Dies erklärt sich aber daraus, daß es wegen der veränderten politischen Verhältnisse Flüchtlinge iS von §§ 3 und 4 BVFG beim Inkrafttreten dieser Gesetze nicht mehr geben konnte.
§ 90 BVFG bestimmt, daß Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge unter anderem in der Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des Gesetzes gleichgestellt werden. Das BSG hat wiederholt entschieden, aus § 90 BVFG sei unmittelbar abzuleiten, daß die Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge so gestellt würden, als hätten sie ihr bisheriges Berufsleben im Geltungsbereich des Gesetzes zugebracht (vgl BSG SozR 2200 § 200a Nr 2 und § 165 Nr 72).
Mag die unmittelbare Anwendung von § 90 Abs 1 BVFG auch ausgeschlossen sein, soweit der Gesetzgeber gemäß § 90 Abs 3 BVFG das Nähere durch ein Bundesgesetz geregelt hat, ist dem 7. Senat des BSG aber doch dahin zu folgen, daß die heute in § 107 Satz 1 Nr 3 enthaltene Regelung „für Deutsche” kein den § 90 Abs 1 BVFG ausschließendes Gesetz ist. In der Begründung zu dem § 107 Satz 1 Nr 3 AFG vorausgegangenen § 86 AVAVG (§ 95a des Entwurfs) ist zwar hervorgehoben worden, daß mit der Vorschrift dem § 90 Abs 1 BVFG entsprochen werde (BT-Drucks II/1274 S 125 f). Ihr wesentlicher Regelungsgehalt liegt aber darin, über die Gleichstellungsvorschrift des § 90 BVFG hinaus allen im ehemaligen Reichsgebiet beschäftigten Deutschen die Gleichstellung zu vermitteln ohne dabei in irgendeiner Weise die Gleichstellung der sonstigen Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge einzuschränken.
Für die Frage der Gleichstellung nach § 90 BVFG kommt es somit im Gegensatz zu § 107 AFG nicht auf die Vertriebeneneigenschaft im Zeitpunkt der Beschäftigung an, sondern darauf, ob die Klägerin im Zeitpunkt der Antragstellung Sowjetzonenflüchtling im Sinne der §§ 3 oder 4 BVFG war.
Ob das der Fall war, vermag der Senat anhand der bisherigen Feststellungen nicht zu entscheiden. Die Klägerin könnte den Status eines Sowjetzonenflüchtlings nach § 3 Abs 3 BVFG iVm § 1 Abs 3 BVFG haben. Nach § 1 Abs 3 BVFG gilt als Vertriebener auch, wer ohne selbst deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger zu sein, als Ehegatte eines Vertriebenen seinen Wohnsitz im ehemaligen Reichsgebiet genommen hat. Diese Vorschrift ist auf Sowjetzonenflüchtlinge „sinngemäß” anzuwenden (§ 3 Abs 3 BVFG).
Zum Begriff „sinngemäße Anwendung” hat das BVerwG im Zusammenhang mit der Parallelbestimmung des § 4 Abs 2 BVFG (an der Rückkehr gehinderte Personen) entschieden, daß er sich nicht in einer Gleichstellung der Ehegatten erschöpfe (wie § 1 Abs 3 BVFG), sondern weitere materielle Anforderungen stelle. Jedenfalls sei zu prüfen, ob eventuell andere Gründe als die Ehe dazu geführt haben, daß die Ehefrau das Flüchtlingsschicksal teilt (BVerwGE 60, 62; 57, 222). Zu § 3 Abs 3 BVFG hat sich das BVerwG bisher nicht geäußert. Vom Sinn der Vorschrift her war der ausländische Ehegatte dann als Sowjetzonenflüchtling anzuerkennen, wenn er zum Zwecke der Erhaltung der Ehe seinem flüchtenden deutschen Ehegatten gefolgt ist, und andere Gründe hierfür nicht maßgebend waren. Die Gleichstellung der Ehegatten soll nämlich nur dazu dienen, die Ehe der Vertriebenen und Flüchtlinge zu schützen, nicht aber andere Fluchttatbestände (zB kriminelle Gründe; s dazu v. Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 3 BVFG Anm 10) begünstigen. Die dazu erforderlichen Feststellungen müssen nunmehr getroffen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen