Entscheidungsstichwort (Thema)

Altersübergangsgeld. Arbeitslosengeld. Unterhaltsgeld. Leistungssatz. Leistungstabelle. Leistungsverordnung. Verordnungsgeber. gewöhnlicher Abzug. Pauschalierung. Typisierung. Lohnsteuer. Tariffreibetrag. Beitrag. Bemessungsgrenze. Krankenversicherung. Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Für das Altersübergangsgeld sind im AFG keine besonderen Leistungssätze vorgesehen, bei denen die im Beitrittsgebiet geltenden – zum Teil niedrigeren – gesetzlichen Abzüge zu berücksichtigen sind. Das ist verfassungsrechtlich auch insoweit nicht zu beanstanden, als Beitragsabzüge zur Krankenversicherung bis zu der in den alten Bundesländern geltenden – höheren – Beitragsbemessungsgrenze und ein Kirchensteuerabzug einbezogen werden (Anschluß und Weiterführung von BSGE 73, 195 = SozR 3-4100 § 249 e Nr. 3 und BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr. 5).

 

Normenkette

GG Art. 3, 14; AFG §§ 111, 249c Abs. 10, § 249e Abs. 3

 

Verfahrensgang

LSG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 16.06.1993; Aktenzeichen L 2 (1) Ar 50/92)

SG Dessau (Entscheidung vom 17.09.1992; Aktenzeichen S 3 a Ar 45/92)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 16. Juni 1993 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob bei der Bemessung des Altersübergangsgeldes (Alüg) hinsichtlich der Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, Steuer- und beitragsrechtliche Besonderheiten im Beitrittsgebiet zu berücksichtigen sind.

Der am 3. Februar 1937 geborene Kläger, der keiner kirchensteuererhebenden Religionsgemeinschaft angehört, war bis Ende März 1992 in Bitterfeld beschäftigt. Im Dezember 1991 bezog er ein Bruttoarbeitsentgelt von 4.141,00 DM und von Januar bis März 1992 von Jeweils 4.450,00 DM. Die Beklagte bewilligte ihm ab 1. April 1992 Alüg in Höhe von 447,00 DM. Dabei legte sie der Leistungsberechnung eine Nettolohnersatzquote von 65 vH, die Leistungsgruppe C und ein Bemessungsentgelt von 1.000,00 DM zugrunde, das sie aus den Verdiensten der Monate Dezember 1991 bis Februar 1992 errechnete (Bescheid vom 6. März 1992). Der Widerspruch des Klägers, mit dem er die Berücksichtigung eines höheren Bemessungsentgelts – entsprechend den Verdiensten in den Monaten Januar bis März 1992 – geltend machte, hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14. April 1992).

Während des Klageverfahrens erteilte die Beklagte Änderungsbescheide zum 31. August und 1. September 1992, hob in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) am 17. September 1992 diese Bescheide sowie den Ausgangsbescheid vom 6. März 1992 auf und bewilligte dem Kläger mit dem Bescheid vom 17. September 1992 rückwirkend ab 1. April 1992 Alüg in Höhe von 458,40 DM wöchentlich unter Zugrundelegung des – vom Kläger mit dem Widerspruch geltend gemachten – höheren Bemessungsentgelts von 1.030,00 DM. Der Kläger begehrte nunmehr höheres Alüg unter Außerachtlassung eines Kirchensteuerabzugs, eines Teils der Beitragsabzüge zur gesetzlichen Krankenversicherung und eines Teils des Lohnsteuerabzugs.

Das SG hat die Beklagte verurteilt, bei der Festsetzung des Alüg ab 1. April 1992, ausgehend von einem Bemessungsentgelt von 1.030,00 DM, als gewöhnlich anfallende gesetzliche Abzüge einen besonderen steuerlichen Tariffreibetrag für Arbeitnehmer im Beitrittsgebiet, einen Beitragsanteil zur gesetzlichen Krankenversicherung in Höhe von nur 6,4 vH bis zur Beitragsbemessungsgrenze im Beitrittsgebiet sowie keinen Kirchensteuerabzug zu berücksichtigen (Urteil vom 17. September 1992). Im Berufungsverfahren hat die Beklagte für Leistungszeiträume ab 1. Oktober 1992 weitere Änderungs- und Dynamisierungsbescheide erteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Juni 1993). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, für die Berücksichtigung beitrags- und steuerrechtlicher Besonderheiten im Beitrittsgebiet bestehe keine gesetzliche Grundlage. Das Alüg des Klägers sei unter Anwendung der AFG-LeistungsVOen 1992 und 1993 zu berechnen und von der Beklagten zutreffend berechnet worden. Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) sei nicht verletzt.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 249 e Abs. 3 Satz 1 Nr. 2, 111 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sowie des Art. 3 Abs. 1 und 3 GG, § 249 e AFG bestimme in Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 selbständig, wie das Netto-Arbeitsentgelt als Berechnungsgrundlage des Alüg errechnet werde. Eine Heranziehung der für die alten Bundesländer geltenden AFG-LeistungsVOen sei mangels einer direkten Verweisung auf § 111 Abs. 2 AFG nicht zulässig. Vielmehr sei das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) ermächtigt worden, entsprechend § 111 Abs. 2 AFG für das Alüg eine eigene LeistungsVO zu erlassen, in der nur die im Beitrittsgebiet bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallenden gesetzlichen Abzüge berücksichtigt würden. Das folge schon daraus, daß das Alüg eine ausschließlich auf das Beitrittsgebiet begrenzte Leistung sei. Bei den Leistungssätzen für das Beitrittsgebiet könne die Kirchensteuer keine Berücksichtigung finden, weil im Beitrittsgebiet lediglich 30 bis 35 vH der Bevölkerung einer Religionsgemeinschaft angehörten, die vom Kirchensteuereinzug erfaßt würden. Eine andere Auslegung verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 GG. Gegebenenfalls sei der Rechtsstreit auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gemäß Art. 100 GG vorzulegen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat vom Statistischen Bundesamt, vom BMA, vom Bundesministerium der Finanzen, von der Evangelischen Kirche in Deutschland und von der Deutschen Bischofskonferenz Auskünfte eingeholt und den Beteiligten einschließlich der Anlagen übermittelt.

Im Revisionsverfahren hat der Kläger seine Klage auf die Überprüfung des Bescheides vom 17. September 1992 beschränkt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Ihm steht ab 1. April 1992 kein höheres Alüg zu als ihm von der Beklagten mit Bescheid vom 17. September 1992 gewährt worden ist. Dieser Bescheid, der gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist, ist allein Gegenstand des Revisionsverfahrens, weil der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundessozialgericht (BSG) sein Begehren ausdrücklich auf die Überprüfung dieses Bescheides und damit auf den Leistungszeitraum bis zum 30. September 1992 beschränkt hat.

Zutreffend hat das LSG entschieden, daß bei der Ermittlung des für die Leistungsbemessung maßgeblichen Netto-Arbeitsentgelts nicht auf beitrags- und steuerrechtliche Besonderheiten im Beitrittsgebiet abgestellt werden darf. Insbesondere kann der Kläger nicht verlangen, daß ein Abzug an Kirchensteuer unterbleibt.

Die Höhe des Alüg, dessen Anspruchsgrundlagen im vorliegenden Fall offenbleiben können, ergibt sich aus § 249 e Abs. 3 AFG in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 21. Juni 1991 (BGBl I 1306). Nach dessen Eingangssatz sind auf das Alüg die Vorschriften über das Arbeitslosengeld (Alg) mit weiteren Maßgaben entsprechend anzuwenden; ua bestimmt Nr. 2 dieser Vorschrift, daß die Höhe des Anspruchs 65 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts iS des § 112 AFG beträgt. Aufgrund der vorgenannten Generalverweisung (BSGE 73, 195, 198 = SozR 3-4100 § 249 e Nr. 3) sind die §§ 111 bis 113 AFG – abgesehen von der Nettolohnersatzquote und damit abweichend von § 111 Abs. 1 AFG – auch für die Bemessung des Alüg anzuwenden (einschließlich der sie ergänzenden Überleitungsvorschriften). Danach bestimmt sich die Höhe des Alüg unter Berücksichtigung das Bemessungsentgelts (§ 112 AFG) und der Lohnsteuerklasse (§ 113 AFG) nach der jeweiligen LeistungsVO, die das BMA aufgrund der gesetzlichen Ermächtigung in § 111 Abs. 2 AFG für das Kalenderjahr, in das der Leistungsbezug fällt, erstellt hat.

Hiernach ist das Alüg des Klägers zutreffend berechnet worden. Bei einem Arbeitsentgelt von wöchentlich 1.030,00 DM, das die Beklagte entsprechend dem Widerspruch des Klägers nachträglich mit dem Bescheid vom 17. September 1992 als Bemessungsentgelt zugestanden hat, entspricht das Alüg des Klägers nach der AFG-LeistungsVO 1992 (vom 19. Dezember 1991 – BGBl I 2239) in der günstigsten, der Steuerklasse III entsprechenden Leistungsgruppe C dem bewilligten Betrag von 458,40 DM wöchentlich. Dabei konnte, soweit die LeistungsVO 1992 noch keine Leistungssätze für das Alüg enthielt, auf die Leistungstabellen für das Unterhaltsgeld (Uhg) zurückgegriffen werden, weil dieses nach der gleichen Nettolohnersatzquote von 65 vH bemessen wurde. Dies hat der 11. Senat des BSG bereits mehrfach entschieden (BSGE 73, 195, 198 ff = SozR 3-4100 § 249 e Nr. 3; BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr. 2; Urteile vom 26. Juli 1994 – 11 RAr 103/95- und 26. Oktober 1994 – 11 RAr 87/93–, beide unveröffentlicht). Der 7. Senat hat sich dieser Rechtsansicht angeschlossen (BSGE 76, 156, 158 = SozR 3-4100 § 249 e Nr. 7; Urteile vom 10. März 1994 – 7 RAr 20/93 – und 6. Mai 1994 – 7 RAr 90/93 –, beide unveröffentlicht).

Entgegen der Meinung des Klägers brauchten besondere Leistungssätze für Arbeitslose im Beitrittsgebiet nicht vorgesehen zu werden. Ausdrücklich schreibt § 249 c Abs. 10 AFG vor, daß bei der Anwendung des § 111 Abs. 2 AFG, dh bei der Bildung der Leistungssätze nach dieser Vorschrift, Besonderheiten hinsichtlich der gewöhnlichen Abzuge, die infolge der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands in den ersten Jahren der Einheit im Beitrittsgebiet gelten, grundsätzlich nicht (Nr. 1) bzw nur schrittweise (Nrn 2 und 3) zu berücksichtigen sind. Daraus ergibt sich, daß die Leistungssätze für das Alg bundeseinheitlich gelten; der Verordnungsgeber ist weder berechtigt noch gar verpflichtet, für Teile des Bundesgebietes unterschiedlich hohe Leistungssätze zu bestimmen. Da § 111 Abs. 2 iVm § 249 c Abs. 10 AFG aufgrund der Generalverweisung in § 249 e Abs. 3 AFG auch für das Alüg gilt, sind auch für diese Leistung die Leistungssätze nur bundeseinheitlich zu bestimmen (grundlegend: BSGE 73, 195, 198 = SozR 3-4100 § 249 e Nr. 3).

Die Notwendigkeit besonderer Leistungssätze für das Beitrittsgebiet läßt sich entgegen der Ansicht des Klägers auch nicht daraus herleiten, daß das Alüg eine auf das Beitrittsgebiet beschrankte Leistungsart sei. Das trifft nur insoweit zu, als der Zugang zum Alüg nur Arbeitnehmern eröffnet war, die aus einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung von mindestens 90 Kalendertagen im Beitrittsgebiet ausgeschieden sind und dort in den letzten 90 Kalendertagen der Beschäftigung ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatten. Daraus läßt sich nicht herleiten, daß die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, allein nach den im Beitrittsgebiet bestehenden Verhältnissen bestimmt werden dürften. Der Kläger verkennt, daß der Bezug von Alüg nicht davon abhängig ist, daß der Leistungsempfänger seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet beibehält. Das Alüg kann vielmehr – wie das Alg – weiterbezogen werden, wenn der Leistungsempfänger seinen Wohnsitz aus dem Beitrittsgebiet in das Gebiet der alten Bundesländer oder den Westen Berlins verlegt. Im Hinblick auf den bundesweit möglichen Leistungsbezug ist es gerade bei Lohnersatzleistungen, die nicht nur vergangenheits-, sondern auch zukunftsbezogene Bewertungsmerkmale aufweisen (vgl. hierzu Gemeinschaftskommentar zum AFG, Stand August 1996. § 111 RdNr. 1) geboten, bundeseinheitliche Maßstäbe anzulegen, wie sie in § 111 Abs. 2 iVm § 249 c Abs. 10 AFG im einzelnen vorgegeben sind. Dadurch wird auch für das Alüg gewährleistet, daß bei gleichem Bemessungsentgelt bundesweit einheitliche Leistungen gewährt werden.

Deshalb durfte – anders als das SG dies gesehen hat – bei der Bemessung des Alüg des Klägers nicht berücksichtigt werden, daß im Beitrittsgebiet in den Veranlagungszeiträumen 1991 bis 1993 ein besonderer Lohnsteuer-Tariffreibetrag für Arbeitnehmer bestand (§ 32 Abs. 8, § 52 Abs. 21 c und § 60 Einkommensteuergesetz ≪EStG≫ idF des Steueränderungsgesetzes 1991 vom 24. Juni 1991 – BGBl I 1322). Daß dieser Freibetrag bei der Festsetzung der Leistungssätze nicht berücksichtigt werden durfte, folgt nicht (erst) aus § 249 c Abs. 10 Nr. 1 AFG, sondern schon unmittelbar aus § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AFG, wonach hinsichtlich der gewöhnlich anfallenden Lohnsteuerabzüge in den Buchst. a) bis e) jeweils nur auf die allgemeinen Lohnsteuertabellen abgestellt und damit die Berücksichtigung sonstiger Steuervergünstigungen, einschließlich eines nur in bestimmten Bundesländern geltenden Freibetrages, ausgeschlossen wird (vgl. hierzu BSGE 76, 207, 214 mwN; Gemeinschaftskommentar zum AFG, aaO, § 111 RdNrn. 225, 226).

Ebensowenig ist zu beanstanden, daß in der LeistungsVO 1992 als gewöhnlich anfallende gesetzliche Abzüge hinsichtlich der Beitrage zur gesetzlichen Krankenversicherung ein bundeseinheitlich gebildeter Beitragssatz zu berücksichtigen ist. Maßgeblich ist nach § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AFG die Hälfte des gewogenen Mittels der am 1. Juli des Vorjahres geltenden allgemeinen Beitragssätze, wobei nach § 249 c Abs. 10 Nr. 3 AFG erstmals für die LeistungsVO 1992 auch die Beitragssätze der gesetzlichen Krankenversicherung im Beitrittsgebiet zu berücksichtigen sind. Daß ein derart pauschalierter Beitragsabzug in den Leistungstabellen bis zu der in den alten Bundesländern geltenden – höheren – Beitragsbemessungsgrenze berücksichtigt wird (1992: 5.100,00 DM = 75 vH der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung und zugleich Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung; vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 1, § 223 Abs. 3 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung ≪SGB V≫, § 3 Abs. 2 Sozialversicherungs-RechengrößenVO 1992 vom 18. Dezember 1991 – BGBl I 2331), während die im Beitrittsgebiet geltende niedrigere Grenze (1992: 3.600,00 DM; vgl. § 309 Abs. 1, § 313 Abs. 2 Satz 1 SGB V iVm § 2 Satz 1 Nr. 1 der Dritten RentenanpassungsVO vom 19. Dezember 1991 – BGBl I 2344) unberücksichtigt bleibt, ergibt sich aus § 249 c Abs. 10 Nr. 1 AFG. Auch insoweit gewährleistet diese Regelung, daß bei gleichem Bemessungsentgelt bundesweit einheitliche Leistungen gewährt werden.

Daß § 249 c Abs. 10 AFG, soweit er für das Alg bundeseinheitliche Leistungssätze vorschreibt, nicht gegen die Verfassung (Art. 3 Abs. 1, 4 und 14 Abs. 1 GG) verstößt, ist bereits vom 11. Senat des BSG eingehend dargelegt worden (BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr. 5). Insbesondere ist der Gleichheitssatz nicht verletzt. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet nämlich nicht, unter allen Umständen Ungleiches ungleich zu behandeln, sondern ist erst dann verletzt, wenn der Regelung ein vernünftiger Grund fehlt. Insoweit kann aber nicht beanstandet werden, daß der Gesetzgeber beim Alg an dem das AFG-Leistungsrecht bestimmenden Grundsatz einheitlicher Leistungssätze für das gesamte Bundesgebiet festgehalten und Sonderregelungen im Beitrittsgebiet, die dort vorübergehend zu niedrigeren gewöhnlichen gesetzlichen Abzügen vom Arbeitsentgelt führen, unberücksichtigt gelassen hat. Dadurch wird einerseits die Verwaltung durch verfassungsrechtlich zur Bewältigung von Massenerscheinungen ohnehin gerechtfertigte Typisierungen und Pauschalierungen entlastet (vgl. BVerfGE 63, 119, 128 = SozR 2200 § 1255 Nr. 17); zum anderen entspricht die Regelung dem seit 1975 bestehenden Bemessungssystem, das ua gewährleistet, daß bei gleichem Bemessungsentgelt im gesamten Bundesgebiet gleich hohe Leistungen bezogen werden. Daß dabei Arbeitslose mit Wohnsitz im Beitrittsgebiet für eine Übergangszeit insoweit „systemwidrig” behandelt werden, als der Beitragsabzug zur Krankenversicherung nach § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 AFG bis zur Beitragsbemessungsgrenze-West erfolgt, während sie als Arbeitnehmer bei einem die Beitragsbemessungsgrenze-Ost überschreitenden Arbeitsentgelt keine Beiträge mehr zu entrichten hatten, ist hinzunehmen. Insoweit hat der 11. Senat zutreffend darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber bei der Bewältigung historischer Ausnahmesituationen wie der Herstellung der Einheit Deutschlands einen besonders weiten Entscheidungsspielraum hat (vgl. BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr. 5 mwN). Damit ist jedenfalls keine Schlechterstellung gegenüber Arbeitslosen in den alten Bundesländern verbunden, weil beide bei gleichem Bemessungsentgelt gleich hohe Leistungen erhalten.

Was aber für das Alg gilt kann für das Alüg nicht anders sein. Ist der Gesetzgeber beim Alg verfassungsrechtlich nicht gehalten, für Leistungsempfänger im Beitragsgebiet besondere Leistungssätze vorzusehen, in denen lediglich die im Beitrittsgebiet gewöhnlich anfallenden gesetzlichen Abzüge berücksichtigt werden, kann aufgrund der systematischen Zusammenhänge zwischen Alg und Alüg für letzteres nichts anderes gelten. Das 1990 eingeführte Alüg sollte (wahlweise) anstelle des Alg in Anspruch genommen werden können, um den Arbeitsmarkt zu entlasten um einen Anreiz für die Inanspruchnahme dieser Leistung zu bieten, ist es sowohl hinsichtlich der Dauer als auch hinsichtlich der Nettolohnersatzquote günstiger als das Alg ausgestattet worden, das sonst in der Regel hätte geleistet werden müssen. Das Alüg ist insoweit ein „höheres und verlängertes Alg” (BSG aaO). Hingegen ist eine weitere Besserstellung der Alüg-Bezieher gegenüber den Alg-Beziehern hinsichtlich der Höhe der Leistung nicht beabsichtigt gewesen Auch beim Alüg war der Gesetzgeber nach der Verfassung also nicht gehalten, für die Leistungsempfänger im Beitrittsgebiet besondere Leistungssätze vorzusehen, die lediglich diejenigen gesetzlichen Abzüge berücksichtigen, die bei Arbeitnehmern im Beitrittsgebiet gewöhnlich anfallen.

Schließlich beanstandet der Kläger zu Unrecht, daß als gesetzliche Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, vom Verordnungsgeber auch die hier vornehmlich streitige Kirchensteuer zu berücksichtigen ist. Maßgebend ist insoweit der im Vorjahr in den Ländern geltende niedrigste Kirchensteuer-Hebesatz (§ 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG). Dabei sind die im Beitrittsgebiet geltenden Kirchensteuer-Hebesätze erst später, nämlich erstmals bei der AFG-LeistungsVO für das dritte Kalenderjahr nach Einführung der Kirchensteuern in diesem Gebiet, also noch nicht 1992, zu berücksichtigen (§ 249 c Abs. 10 Nr. 2 AFG). Aus dieser Regelung ergibt sich zugleich, daß der Gesetzgeber die Kirchensteuer zu den bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallenden Abzügen zählt, und zwar ohne Rücksicht darauf, daß sie sich dieser Belastung durch Kirchenaustritt entledigen können.

Auch zum Kirchensteuerabzug hat der 11. Senat des BSG bereits entschieden, daß der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht gehalten war, Besonderheiten im Beitrittsgebiet, insbesondere dem dort geringeren Anteil von Kirchenmitgliedern unter den Arbeitnehmern, Rechnung zu tragen. Dies gilt nicht nur für die Bemessung des Alg, sondern auch für diejenige des Alüg, obwohl die Zugangsvoraussetzungen für das Alüg auf Beschäftigung und Wohnsitz im Beitrittsgebiet abstellen. Auch insoweit hat es keiner besonderen Leistungssätze für das Beitrittsgebiet bedurft. Der 11. Senat hat zutreffend darauf hingewiesen, daß die mit der Herstellung der Einheit Deutschlands gebotene zügige Bewältigung der Umstellung auf eine neue staatliche und soziale Ordnung nicht nur neue Leistungen wie das Alüg erforderlich gemacht hat, sondern es zu ihrer Umsetzung auch geeigneter Regelungen bedurft hat, die der Verwaltung eine alsbaldige Aufgabenerfüllung ermöglicht haben. Daß der Gesetzgeber dabei für das Alüg an das Bemessungssystem des Alg angeknüpft hat, ist sachgerecht. Deshalb durfte der Gesetzgeber den geringen Anteil von Kirchenmitgliedern an der Erwerbsbevölkerung im Beitrittsgebiet vernachlässigen, zumal sich der – fiktive – Kirchensteuerabzug bei der Aufstellung der Leistungssätze und damit bei der Höhe der Leistung wirtschaftlich nur unerheblich auswirkt (BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr. 5).

Der Gesetzgeber war aber auch nicht aus Verfassungsgründen gehalten, bei der Regelung des § 111 Abs. 2 AFG selbst und damit bei den bundeseinheitlich zu bildenden Leistungssätzen für das Alg von einem Kirchensteuerabzug überhaupt abzusehen. Das BVerfG hat in seinem Beschluß vom 23. März 1994 (BVerfGE 90, 226 = SozR 3-4100 § 111 Nr. 6) entschieden, daß es mit dem GG vereinbar ist, auch bei Arbeitslosen, die keiner Kirche angehören, bei der Berechnung des maßgebenden Nettoentgelts einen Kirchensteuer-Hebesatz zu berücksichtigen. Dadurch sei weder Art. 3 noch Art. 4 oder Art. 14 GG verletzt. Im Zusammenhang mit Art. 14 Abs. 1 GG ist ausgeführt worden, der Gesetzgeber sei von Verfassungs wegen nicht gehindert, bei der Berechnung des Nettolohns auch Abgaben zu berücksichtigen, die an die individuelle Entscheidung des Arbeitnehmers anknüpften, einer Kirche anzugehören, solange er sich in den Grenzen zulässiger Typisierung halte. Dies sei der Fall, wenn er aufgrund statistischer Erkenntnisse davon ausgehen könne, daß die überwiegende Mehrheit der Arbeitnehmer die Abgabe zu zahlen habe und deren Abzug nicht stark ins Gewicht falle. Diese Voraussetzungen hätten zu dem im Ausgangsfall maßgeblichen Zeitpunkt – 1983 – vorgelegen.

Allerdings hat das BVerfG darauf hingewiesen, daß es mit § 111 Abs. 2 AFG und seiner Zielsetzung nicht vereinbar wäre, die Kirchensteuer auch dann noch als „gewöhnlich” anfallenden gesetzlichen Abzug in Ansatz zu bringen, wenn die Zugehörigkeit zu einer steuererhebenden Kirche nicht mehr als für Arbeitnehmer typisch angesehen werden könne. Zu einer Überprüfung durch den Gesetzgeber dürfe Anlaß bestehen, weil ein großer Teil der Arbeitnehmer im Beitrittsgebiet keiner Kirche angehöre die Kirchensteuer erhebe dies könne dazu geführt haben, daß im gesamten Bundesgebiet nicht mehr eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer kirchensteuerpflichtig sei.

Es kann dahinstehen, ob dann, wenn bereits vor 1992 offen zutage gelegen hätte, daß keine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern einer steuererhebenden Kirche angehört, § 111 Abs. 2 Nr. 2 AFG wegen veränderter Verhältnisse verfassungswidrig geworden wäre, auch wenn der Gesetzgeber damals aufgrund des Hinweises des BVerfG noch keine Prüfung hätte durchführen können oder von einer solchen abgesehen hätte. Denn jedenfalls bisher – und damit für das streitige Jahr 1992 – ist dies nicht feststellbar. Ungeachtet der Prüfungspflicht des Gesetzgebers liegt jedenfalls auch jetzt nicht offen zutage, daß eine deutliche Mehrheit von Arbeitnehmern den steuererhebenden Kirchen nicht mehr angehört. Weder nach den Ermittlungen des 11. Senats noch denjenigen des erkennenden Senats im anhängigen Verfahren besteht eine Evidenz, die zu der Annahme zwingt, daß § 111 Abs. 2 Nr. 2 AFG vor 1995 und damit in dem hier relevanten Jahr 1992 verfassungswidrig geworden sein könnte.

Der 11. Senat hat für die Jahre 1991 bis 1994 bereits entschieden, daß die Berücksichtigung eines Kirchensteuer-Hebesatzes nicht zu beanstanden sei (für das Jahr 1991 Urteil vom 26. Juli 1994 – 11 RAr 103/93–, unveröffentlicht: für das Jahr 1992 BSG SozR 3-4100 § 249 e Nr. 5; für die Jahre 1991 bis 1993 Urteil vom 26. Oktober 1994 – 11 RAr 87/93 –, unveröffentlicht, und für das Jahr 1994 Urteil vom 27. Juni 1996 – 11 RAr 1/96 –, unveröffentlicht). Auch die vom erkennenden Senat durchgeführte Sachaufklärung erlaubt keine abweichende Wertung.

Von allen eingeholten, den Beteiligten zugänglich gemachten Auskünften sind lediglich die Angaben des BMA im Schreiben vom 28. Juni 1996 für die hier streitige Frage relevant obwohl sich auch aus diesen Angaben Schlußfolgerungen im Sinne der Revision nicht ziehen lassen. Diese Angaben basieren bezüglich der alten Bundesländer auf den Ergebnissen der Volkszählung 1987 und bezüglich des Beitrittsgebiets auf einem Abgleich der Daten der Kirchen mit den Daten der Einwohnermeldeämter über die Religionszugehörigkeit. Die so erhaltenen Daten sind jährlich fortgeschrieben worden. Danach gehörten am 31. Dezember 1994 68,8 vH der deutschen Bevölkerung der evangelischen oder katholischen Kirche an, also den beiden größten Religionsgemeinschaften, die zur Erhebung der Kirchensteuer berechtigt sind. Nicht ausgeschlossen wurde, daß der Anteil der Arbeitnehmer, die keiner Kirche angehören, etwas höher ist als der entsprechende Anteil an der Bevölkerung. 1987 betrug der Unterschied 2,3 Prozentpunkte in den alten Bundesländern. Der Senat kann offenlassen, ob diese Daten zwingend darauf schließen lassen, daß Ende 1994 – und damit wohl auch in den Jahren 1992/93 – der Anteil der kirchensteuerpflichtigen Arbeitnehmer an der Gesamtzahl der Arbeitnehmer im Bundesgebiet etwa knapp zwei Drittel betragen hat und damit noch eine „deutliche” Mehrheit im Sinne des BVerfG darstellen könnte. Auch wenn Zweifel an der Aussagekraft dieser Daten geltend gemacht werden könnten, würde dadurch eine Verfassungswidrigkeit des § 111 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 AFG nicht offen zutage liegen. Bloße Zweifel am Fortbestehen bestimmter Zahlenverhältnisse rechtfertigen noch nicht den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit. Auch wenn der Anteil der Kirchenangehörigen unter den Arbeitnehmern geringer sein dürfte als zwei Drittel, besteht derzeit jedenfalls keine Evidenz dafür, daß die genannte Vorschrift mit dem vom Gesetzgeber gewählten Ansatz zur Typisierung nicht mehr vereinbar ist.

Da mithin die Berechnung des Alüg im Bescheid vom 17. September 1992 zutreffend ist, konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

SozSi 1997, 318

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