Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 19.04.1989) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. April 1989 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Bewilligung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (§§ 1247, 1246 Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫). Streitig ist in diesem Zusammenhang, ob der Kläger, falls er seinen letzten versicherungspflichtigen Beruf als Postzusteller nicht mehr ausüben kann, Berufsschutz als Facharbeiter genießt.
Der am 29. Oktober 1931 geborene Kläger, der keinen nach dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) anerkannten Ausbildungsberuf erlernt hat, war ab 22. November 1951 bei der Deutschen Bundespost im Briefzustelldienst versicherungspflichtig beschäftigt. Er ist in seine Tätigkeit nur für wenige Tage eingewiesen worden. In der Zeit vom 16. bis zum 28. November 1959 nahm er an einem Dienstlehrgang zur Vorbereitung auf die Prüfung für den einfachen Postdienst teil und bestand diese Prüfung am 5. Dezember 1959. Zuletzt war er, wegen der Wahrnehmung eines Dienstpostens der Besoldungsgruppe A2, in die Lohngruppe IV des Tarifvertrags für Arbeiter der Deutschen Bundespost eingestuft. Am 21. Dezember 1959 wurde er als Postschaffner (Besoldungsgruppe A2) in das Beamtenverhältnis übernommen und am 30. September 1984 als Postbetriebsassistent (Besoldungsgruppe A5) wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt.
Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Versichertenrente wegen Berufs-/Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. September 1984 ab. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Darmstadt ≪SG≫ vom 26. Februar 1986; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 19. April 1989).
Das LSG hat entschieden, der Kläger habe trotz der festgestellten Beschränkung seines Leistungsvermögens auf leichte Arbeiten keinen Anspruch auf Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO. Seinen Beruf als Postzusteller könne er zwar,
zumindest bezogen auf die Verhältnisse, wie sie zum Zeitpunkt bis zu seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis gegeben waren, nicht mehr ausüben, denn hierbei handele es sich um eine mittelschwere Arbeit. Da er jedoch nur der Gruppe der Angelernten, wenn auch – wegen seines Arbeitsplatzes mit Beamtentätigkeiten -deren oberem Bereich, zugeordnet werden könne, sei er noch objektiv und subjektiv zumutbar auf die Tätigkeiten eines Pförtners, einer Büro-/Verwaltungshilfskraft oder eines Mitarbeiters in der Poststelle eines Betriebes oder einer Behörde zu verweisen. Es handele sich hierbei um körperlich leichte, aber nicht ganz einfache Tätigkeiten der Vergütungsgruppen BAT IX oder VIII, die dem Kläger deshalb auch möglich seien.
Die Zuordnung des Klägers zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters hat das LSG mit der Begründung abgelehnt, er habe zum Zeitpunkt seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis trotz der Entlohnung nach Lohngruppe IV des Tarifvertrags für Arbeiter der Deutschen Bundespost nicht über diejenigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügt, die etwa denen einer Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb entsprechen würden.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1246 Abs 2, 1247 Abs 2 RVO. Die Auffassung des LSG, er verfüge nicht über die Kenntnisse und Fähigkeiten einer Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb und könne daher keinen Berufsschutz als Facharbeiter genießen, stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG- (Urteil vom 27. Februar 1990 – 5 RJ 12/88 –).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG und das Urteil des SG abzuändern sowie die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 3. Oktober 1984 zu verurteilen, ihm ab 1. Juli 1984 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Kläger sei nicht berufsunfähig, da er den Beruf des Postzustellers noch ausüben könne. Dieser Beruf sei heute eine leichte Tätigkeit.
Bei der Prüfung von Verweisungsberufen sei er nicht einem Facharbeiter gleichzustellen. Seit Einführung der Ausbildung zur Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb am 28. Februar 1979 sei die Qualifikation an diesem Beruf zu messen. Durch die Rechtsprechung des 5. Senats des BSG werde der Postzusteller im Vergleich zu anderen Berufen, bei denen sich die Einstufung in das Mehrstufenschema in erster Linie nach der Ausbildungsdauer richte und die wegen der Kürze ihrer Ausbildung lediglich als Anlernberufe qualifiziert würden (BSG vom 11. Juli 1985 – 5b RJ 88/84 –; vom 9. September 1986 – 5b RJ 82/85 –) ohne überzeugende Rechtfertigung bevorzugt.
Schließlich könne der Kläger auf die ihm vom LSG genannten Tätigkeiten zumutbar verwiesen werden, und zwar auch dann, wenn er als Facharbeiter einzustufen sei. Die subjektive Zumutbarkeit folge daraus, daß entsprechende Beamtentätigkeiten den Besoldungsgruppen A4 bzw A5 zuzuordnen seien und die Wahrnehmung solcher Beamtendienstposten tariflich entsprechend höher eingestuft werde, als die Tätigkeit, die der Kläger 1959 ausgeübt habe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG hat die Fähigkeit des Klägers, seinen bisherigen Beruf weiter auszuüben, nach den Anforderungen im Jahre 1959 beurteilt. Maßgebend ist jedoch, ob der Kläger in dem Zeitraum ab Antragstellung in der Lage war und ist, in seinem Beruf zu arbeiten. Dafür sind die aktuellen Anforderungen bestimmend. Bestätigt sich, daß er seinen bisherigen Beruf auch nach den Verhältnissen ab 1984 nicht mehr ausüben kann, so sind noch weitere Ermittlungen und Feststellungen dazu erforderlich, ob der Kläger Berufsschutz als Facharbeiter genießt, und falls dies der Fall ist, auf welche Tätigkeiten im Rahmen des ihm verbliebenen Leistungsvermögens und der vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten er dann noch zumutbar verwiesen werden kann.
Gemäß § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist.
Dafür ist aber nicht der Grad der Minderung körperlicher oder geistiger Kräfte maßgebend, sondern der Umfang der verbliebenen Fähigkeit, mit dem Restleistungsvermögen Verdienste zu erzielen.
Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt dabei alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist bei Prüfung der Berufsunfähigkeit Ausgangspunkt der Beurteilung der „bisherige Beruf” des Versicherten (vgl BSG vom 24. März 1983 – 1 RA 15/82 -SozR 2200 § 1246 Nr 107). Dieser ist zuerst zu ermitteln und sodann zu prüfen, ob der Versicherte ohne wesentliche Einschränkungen weiterhin zu seiner Ausübung in der Lage ist. Ist der Versicherte nämlich in seinem Beruf noch ausreichend erwerbsfähig iS des § 1246 Abs 2 Sätze 1 und 2 RVO, so ist er nicht berufsunfähig, ohne daß es auf seine Erwerbsfähigkeit in weiteren sog Verweisungstätigkeiten ankommt (vgl BSG vom 18. Februar 1981 – 1 RJ 124/79 – mwN; BSG vom 13. Dezember 1984 – 11 RA 72/83 -SozR 2200 § 1246 Nr 126 zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 23 Abs 2 Satz 1 und 2 AVG).
„Bisheriger Beruf” iS des § 1246 Abs 2 RVO ist, wie das BSG in zahlreichen Entscheidungen (vgl BSG vom 30. Oktober 1985 – 4a RJ 53/84 – SozR 2200 § 1246 Nr 130 mwN; BSG vom 27. April 1989 - 5/5b RJ 78/87 – SozR 2200 § 1246 Nr 164 mwN) ausgesprochen hat, in der Regel die letzte, nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Dabei ist unerheblich, ob zwischen dem Ende dieser versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit und dem (behaupteten) Versicherungsfall ein längerer Zeitraum liegt (vgl BSG vom 3. April 1986 – 4a RJ 27/84 –), wenn das Pflichtversicherungsverhältnis durch Übertritt in eine versicherungsfreie Beschäftigung endete (vgl BSG vom 1. Februar 1984 – 5b RJ 80/83 – SozR 2200 § 1246 Nr 116).
Hiernach ist das LSG bei seinen Überlegungen zutreffend davon ausgegangen, daß „bisheriger Beruf” des Klägers iS des § 1246 Abs 2 RVO die vor seiner Übernahme in das Beamtenverhältnis ausgeübte Tätigkeit des Postzustellers war (Lohngruppe IV; BSG vom 3. April 1986 – 4a RJ 27/84 –). Rechtlich zu beanstanden und von den tatsächlichen Feststellungen her nicht ausreichend sind jedoch die Ausführungen des LSG bezüglich der Fähigkeit des Klägers, diesen Beruf weiterhin auszuüben.
Das LSG hat seiner Beurteilung, ob der Kläger noch im Postzustelldienst einsatzfähig ist, das Anforderungsprofil dieser Tätigkeit zum Zeitpunkt bis zur Übernahme in das Beamtenverhältnis, dh bis 21. Dezember 1959, zugrundegelegt. Es ist hierbei, gestützt auf die Auskunft des Postamts M. … 2 vom 7. Mai 1987, zu dem Ergebnis gelangt, die Postzustelltätigkeit sei damals als körperlich mittelschwer anzusehen gewesen. Es hätte jedoch, wie die Beklagte zu Recht rügt, bei der Beurteilung des Leistungsvermögens von den Verhältnissen ab 1984 (Rentenantragstellung) ausgehen müssen.
Die Möglichkeit, einem Beruf noch (oder wieder) nachzugehen, richtet sich allein nach den gegenwärtigen Anforderungen, die in diesem Beruf gestellt werden. Dies wird auch vom LSG nicht in Zweifel gezogen, wo es die Anforderungen sonstiger Tätigkeiten prüft, auf die der Kläger noch zumutbar verwiesen werden könnte. Das Gesetz unterscheidet insoweit jedoch nicht zwischen verschiedenen zeitlichen und sachlichen Bereichen möglicher Erwerbstätigkeit, sondern sieht (einheitlich) vor, daß der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit zu beurteilen ist, sich auf alle Tätigkeiten erstreckt, die ihm zugemutet werden können.
Für eine Berufsunfähigkeitsrente ist vom Grundgedanken des Berufsschutzes her kein Raum, solange der bisherige Beruf noch ausgeübt werden kann (sei es auch nur in anderer Form); dies gilt auch dann, wenn die Ausübung des Berufs nur dadurch ermöglicht wird, daß parallel zum Nachlassen der körperlichen Belastbarkeit auch die körperlichen Anforderungen in diesem Beruf zurückgegangen sind.
Ob der Kläger der Tätigkeit des Postzustellers unter den ab dem Zeitpunkt des Rentenantrags herrschenden Bedingungen allerdings noch gewachsen ist, wie die Beklagte meint, kann anhand der Ausführungen des LSG noch nicht gesagt werden. Nach den von den Beteiligten nicht angegriffenen und daher für den erkennenden Senat gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen steht lediglich fest, daß der Kläger ganztags nur noch leichte Arbeiten in wechselnder Körperhaltung und ohne Zeitdruck auszuüben in der Lage ist.
Bestätigen die weiteren Ermittlungen, daß der Kläger die Tätigkeit des Postzustellers auch nach den Verhältnissen ab 1984 nicht mehr ausüben konnte, so sind weitere Feststellungen dazu erforderlich, ob der Kläger Berufsschutz als Facharbeiter genießt.
Die Rechtsprechung des BSG hat zur Berufsunfähigkeit iS von § 1246 Abs 2 RVO die Berufe der Versicherten nach ihrer Wertigkeit in verschiedene Gruppen eingeteilt. Die jeweilige Einstufung in dieses Raster bestimmt die Berufstätigkeit, auf die der Versicherte verwiesen werden kann. Die von der Rechtsprechung hierfür zugrunde gelegten Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung, die die Ausbildung für die Qualität eines Berufs hat, gebildet worden. Sie sind charakterisiert durch den Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters. Bei der Anwendung dieses Schemas auf konkrete Berufstätigkeiten stand bisher in der Regel die Frage im Vordergrund, welche Dauer eine rechtlich vorgeschriebene Fachausbildung haben muß, um auf ihrer Grundlage einem Versicherten den Status des Facharbeiters zuerkennen zu können. Dabei wurde als gedankliche Voraussetzung von der Annahme ausgegangen, daß die Dauer einer Ausbildung gleichbedeutend mit dem Maß an beruflicher Qualifikation ist, das die Ausbildung dem Versicherten vermittelt.
Von allen Senaten des BSG, die für die Arbeiterrentenversicherung zuständig und an der Entwicklung des Vierstufenschemas beteiligt waren, ist aber immer wieder deutlich gemacht worden, daß ausschlaggebend für die Zuordnung einer bestimmten Tätigkeit zu einer der Gruppen des Schemas allein die Qualifikationsanforderungen der verrichteten Arbeit sind, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Grundlage für die Bestimmung der Qualität einer Arbeit in diesem Sinn sind die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmale der Dauer und des Umfangs der Ausbildung sowie des bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit. Es kommt also auf das Gesamtbild an.
In diesem Rahmen hat das BSG zwei Gesichtspunkten Bedeutung beigemessen: zum einen der abstrakten – „tarifvertraglichen” -Klassifizierung der Tätigkeit (iS eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrags (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164), zum anderen der – „tariflichen” – Zuordnung der konkreten, zuletzt ausgeübten Tätigkeit des Versicherten zu einer Berufssparte und hierüber zu einer bestimmten Tarifgruppe des jeweils geltenden Tarifvertrages durch den Arbeitgeber (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 168, 169). In beiden Bereichen sind die Folgerungen für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch verschieden.
Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in einer Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164). Denn die Tarifpartner als die unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligten nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in Bezug auf die nach § 1246 Abs 2 RVO maßgeblichen Merkmale entspricht. Demgemäß läßt die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, die hinsichtlich der Qualität der in ihr aufgeführten Arbeiten durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist. Der hierauf zielenden ständigen Rechtsprechung des 5. Senats des BSG (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 111, 116, 122, 123, 164) schließt sich der erkennende Senat an. Von dem Grundsatz, daß von der tarifvertraglichen Einstufung einer Berufsart auszugehen ist, werden in der Rechtsprechung des BSG Ausnahmen bisher nur anerkannt, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 101, 123 und Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der tariflichen Zuordnung des einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber kommt demgegenüber eine andere Bedeutung zu. Sie ist zwar ein Indiz dafür, daß die vom Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihren Merkmalen und ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird, wenn der Arbeitgeber ihn einer im Tarifvertrag genannten Berufsgruppe zuordnet. Die Richtigkeit dieser tariflichen Einstufung kann insoweit aber durchaus widerlegt werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 77; Urteil vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 29/89 –).
Diese Grundsätze hat der 5. Senat des BSG in mehreren Entscheidungen bestätigt, bei denen es um die Berufsunfähigkeit von Arbeitnehmern ging, die bei der Deutschen Bundespost auf Beamtendienstposten tätig waren und deren Tätigkeit deshalb in eine Facharbeitergruppe eingestuft war. Der 5. Senat des BSG hat entschieden, daß diese Einstufung, dh die Einordnung dieser Beamtentätigkeiten (soweit sie von Arbeitnehmern ausgeübt werden) in eine Facharbeitergruppe, den Arbeitnehmern, die diese Tätigkeit ausüben, Berufsschutz als Facharbeiter vermittele, da die Einstufung weder wegen äußerer Belastungen, noch aus sozialen Erwägungen erfolge, sondern durch die Art und Qualität der Tätigkeit bestimmt sei, welche die Wahrnehmung dieses Beamtendienstpostens mit sich bringe. Für den qualitativen Wert der Postzustellertätigkeit eigentümlich seien die hohe Verantwortung für die Wahrung des Brief- und Postgeheimnisses und der ständige Umgang mit höheren Geldbeträgen sowie die damit verbundenen Anforderungen an Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit, physische Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit. Diese Merkmale hätten von den Tarifpartnern eine Bewertung erfahren, die derjenigen von Handwerkern entspreche, die bei der Bundespost beschäftigt werden (vgl Urteile vom 24. Juni 1983 – 5b RJ 74/82 – ≪Briefzusteller≫; vom 28. März 1984 – 5b RJ 16/83 – ≪Posthalterin≫; vom 3. Oktober 1984 – 5b RJ 20/84 – und – 5b RJ 28/84 – SozR 2200 § 1246 Nrn 122, 123 ≪Postzusteller/in≫; Beschluß vom 14. März 1985 – 5b S 1/85 – ≪Postzusteller≫; Urteil vom 27. Februar 1990 – 5 RJ 12/88 – SGb 1991, 110 ≪Briefzustellerin≫; Urteil vom 11. September 1991 – 5 RJ 33/90 – ≪Postzusteller≫). Denselben Grundsätzen folgte zunächst auch der 4. Senat des BSG in seiner Entscheidung zur Berufsunfähigkeit eines Postzustellers (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 46). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat im Grundsatz an.
Allerdings haben der 4. Senat des BSG in seinen nachfolgenden Entscheidungen und auch der 1. Senat des BSG zur Einstufung von Post(Brief-)sortierern/-zustellern auf Beamtendienstposten deren Zuordnung zur Gruppe der Facharbeiter abgelehnt (Beschluß vom 29. November 1984 – 4 RJ 19/84 –; Urteile vom 3. April 1986 – 4a RJ 27/84 –, vom 21. Februar 1985 – 4 RJ 33/84 -≪Briefsortiererin≫, vom 7. Oktober 1987 – 4a RJ 167/87 – sowie Urteil vom 3. November 1982 – 1 RJ 32/82 – ≪Paketsortiererin≫). Der erkennende Senat ist durch diese entgegenstehende Rechtsprechung des 1. und 4. Senats des BSG jedoch nicht gehindert, sich der Rechtsprechung des 5. und der älteren Rechtsprechung des 4. Senats des BSG anzuschließen, da sowohl der 4. als auch der 1. Senat des BSG für Arbeiterrentenversicherung nicht mehr zuständig sind.
Die abweichende Rechtsprechung des 4. Senats des BSG basierte auf der Überlegung, daß einem Facharbeiter nur gleichgestellt werden könne, wer über die Kenntnisse und Fähigkeiten einer ausgebildeten Dienstleistungsfachkraft im Sinne der Verordnung über die Berufsausbildung der Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb vom 28. Februar 1979 (BGBl I, 242) verfüge. Dem kann der erkennende Senat jedoch aus mehreren Gründen nicht folgen. Zum ersten ist darauf hinzuweisen, daß der Berufsschutz allein in der Zeit vor dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht erworben wurde. Er kann deshalb auch nur nach den damaligen Verhältnissen beurteilt werden und nicht nach den erst später formulierten Anforderungen an den neu gebildeten Beruf der Dienstleistungsfachkraft. Es geht bei der Beurteilung des Berufsschutzes nicht – wie oben bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit – um Möglichkeiten des Tätigwerdens, sondern um den erworbenen Status. Dieser kann nur durch die bisherige versicherungspflichtige Tätigkeit begründet worden sein und richtet sich deshalb danach, welchen Stellenwert im Berufsgefüge der Beruf des Klägers zur Zeit seiner Ausübung hatte (siehe auch BSG SozR 2200 § 1246 Nr 41; Urteil vom 28. November 1980 – 5 RJ 78/79 –).
Zum zweiten aber kann der erkennende Senat sich auch generell nicht der Auffassung anschließen, daß im Bereich des Postdienstes der Berufsschutz als Facharbeiter stets den Ausbildungsstand einer ausgebildeten Dienstleistungsfachkraft voraussetzt. Auch im Postdienst werden unabhängig vom Ablegen der Facharbeiterprüfung wegen der unterschiedlichen Anforderungen häufig einzelne Berufsgruppen durch tarifvertragliche Einordnung in Facharbeitergruppen den Facharbeitern gleichgestellt. Dem ist in der Regel auch für das Rentenrecht zu folgen (siehe oben). Gerade der vorliegende Fall verdeutlicht einerseits die unterschiedliche Bedeutung, andererseits das Zusammenspiel von tariflicher Einstufung und Ausbildungsordnung. Bei dem inzwischen gebildeten Facharbeiterberuf „Dienstleistungsfachkraft im Postbetrieb”
(Ausbildungdauer mehr als zwei Jahre) begründet der erfolgreiche Abschluß und die Beschäftigung in dem betreffenden Berufsfeld allein schon Berufsschutz als Facharbeiter. Ebenso genießen Versicherte, die, ohne eine ordnungsgemäße Ausbildung durchlaufen zu haben, in vollem Umfang über die Kenntnisse und Fähigkeiten eines entsprechenden Facharbeiters mit ordnungsgemäßem Berufsabschluß verfügen, den Berufsschutz als Facharbeiter, wenn sie (zu Recht) in eine Facharbeitergruppe des Tarifvertrages eingruppiert waren. (Diese Wege scheiden hier aus, weil es den genannten Facharbeiterberuf noch nicht gab, als der Kläger in das Beamtenverhältnis überwechselte). Aber auch Arbeitnehmer, die einen anerkannten sonstigen Ausbildungsberuf ausüben, wie zB Arbeitnehmer im Postdienst, die die Prüfung für den einfachen Postdienst nach der Ausbildungsregelung von 1954 bestanden haben – Ausbildungsdauer unter zwei Jahren (und selbst Arbeitnehmer, die eine geregelte Ausbildung nicht durchlaufen haben) – können als Facharbeiter Berufsschutz genießen. Voraussetzung hierfür ist, daß der von ihnen ausgeübte Beruf als solcher wegen seiner qualitativen Wertigkeit in einer Facharbeitergruppe des Tarifvertrages genannt und der einzelne Arbeitnehmer (zu Recht) nach dieser Gruppe entlohnt wird.
Das LSG durfte sich nach alledem nicht damit begnügen, die Zuordnung des Klägers zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters allein wegen der kurzen Ausbildungsdauer zu verneinen. Es wird bei seiner erneuten Entscheidung zunächst festzustellen haben, ob und wie die vom Kläger zuletzt nach Ablegung der Prüfung für den einfachen Postdienst ausgeübte Tätigkeit (ihrer Art nach) tarifvertraglich eingestuft war. Danach wird zu prüfen sein, ob diese Tarifgruppe von dem Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist. Falls dies zu bejahen ist, ist grundsätzlich davon auszugehen, daß der Kläger im Rahmen des Mehrstufenschemas dieser Gruppe zuzuordnen ist, sofern er (zu Recht) nach dieser Lohngruppe entlohnt wurde.
Eine abweichende qualitative Beurteilung kommt nur dann in Betracht, wenn die Einordnung der Berufsgruppe in das Tarifgefüge auf qualitätsfremden Merkmalen beruht (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 102 und 129). Führen die Feststellungen zum Tarifvertrag dazu, daß die Gruppe der Postzusteller mit Prüfung für den einfachen Postdienst einer Facharbeitergruppe des Tarifvertrages zugeordnet ist, hat das Gericht, sofern sich in dieser Hinsicht irgendwelche Anhaltspunkte ergeben, deshalb darüber hinaus noch zu prüfen, ob diese Einordnung auf qualitätsfremden Merkmalen beruht. Der 5. Senat des BSG hat bisher entschieden, daß hierzu die Höherstufung wegen äußerer Belastungen (Schmutz, Geruch, Witterungseinflüsse usw) sowie die Höherstufung aus sozialen Gründen gehöre; weitere Gründe habe die Rechtsprechung nicht zugelassen (s zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 122 S 382 sowie Nr 123 S 389; Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 –). Der erkennende Senat hat indes Bedenken, ob der Begriff „qualitätsfremde Merkmale” so weit eingeengt werden kann. Er hält es für möglich, daß die einzelne tarifvertragliche Einordnung eines Berufs auch noch von anderen Gesichtspunkten bestimmt sein kann, die ebenfalls als qualitätsfremd angesehen werden müssen. Der gegenwärtige Stand des Verfahrens gibt aber noch keinen Anlaß, diese Frage abschließend zu entscheiden, da keine Feststellungen des LSG vorliegen, die Zweifel an einer qualitätsorientierten Einordnung der Berufsgruppe erkennen lassen.
Sofern die tarifvertragliche Einstufung der Postzustellertätigkeit nicht aus qualitätsfremden Gründen erfolgt ist, kann der Kläger als Facharbeiter anzusehen sein; denn die konkrete tarifliche Einstufung des Klägers in die Gruppe der Arbeiter, die Beamtentätigkeiten verrichten, bietet ein Indiz dafür, daß die von dem Kläger ausgeübte Postzustellertätigkeit in ihren Merkmalen und ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entsprach, nach der er bezahlt wurde. Nur wenn Anlaß zu Zweifeln besteht, ob diese Einstufung zutreffend erfolgt ist, sind insoweit weitere Ermittlungen erforderlich, in welche Tarifgruppe der Kläger nach der Art seiner Tätigkeit richtigerweise hätte eingestuft werden müssen.
Sollten die noch erforderlichen weiteren Ermittlungen zu dem Ergebnis führen, daß der Kläger Berufsschutz als Facharbeiter genießt, wird eine zusätzliche Sachaufklärung darüber notwendig, auf welche sonstigen Tätigkeiten der Kläger zumutbar verwiesen werden könnte. Tätigkeiten der Vergütungsgruppe BAT IX kämen hierfür dann jedenfalls nicht in Betracht (BSG, Urteil vom 12. September 1991 – 5 RJ 34/90 –). Es wird aber ua zu prüfen sein, inwieweit es – wie die Beklagte meint – Beamtendienstposten gibt, die der Kläger auch noch nach der Pensionierung als Arbeitnehmer wahrnehmen könnte und auf die er wegen der damit verbundenen Verantwortung und hohen tariflichen Einstufung zumutbar verwiesen werden könnte.
Wegen dieser auf verschiedenen Ebenen noch erforderlichen Feststellungen war die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1173088 |
NZA 1992, 768 |