Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsausschluß. Kostenerstattung. einmalige Leistung. Berufungszulassung. Verfahrensmangel im sozialgerichtlichen Verfahren. Einholung eines Gutachtens der Rechtsanwaltskammer
Orientierungssatz
1. Die Kostenerstattung nach § 63 SGB 10 ist eine einmalige Geldleistung iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG (vgl BSG vom 25.10.1984 11 RA 29/84 = SozR 1500 § 144 Nr 27 mwN).
2. Erforderlich ist, daß sich aus dem Wortlaut des Urteils ergibt, daß das Gericht, nicht nur der Kammervorsitzende, die Zulassung der Berufung beschlossen hat. Eine formularmäßige Belehrung über Anfechtungsmöglichkeiten genügt nicht. Deswegen muß sich die Zulassung der Berufung aus dem Urteilsausspruch, zumindest aber aus den Entscheidungsgründen oder einem eindeutigen Zusatz zu der formularmäßigen Rechtsmittelbelehrung ergeben. Hat das SG hingegen in einer Rechtssache, in der die Berufung nach §§ 144 bis 149 SGG unzulässig ist, die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung formularmäßig irrigerweise dahin erteilt, daß die Berufung zulässig ist, so eröffnet diese unrichtige Rechtsmittelbelehrung keine Anfechtungsmöglichkeit (vgl BSG vom 29.6. 1977 11 RA 94/76 = SozR 1500 § 161 Nr 16).
3. Verfahrensmangel im Sozialgerichtsprozeß ist nur ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. § 12 Abs 2 BRAGebO, nach dem das Gericht im Rechtsstreit ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer einzuholen hat, regelt nicht das Verfahren vor dem SG, sondern betrifft ausschließlich den Rechtsstreit zwischen dem Auftraggeber und dem Bevollmächtigten über die Höhe einer nach § 12 Abs 1 S 1 BRAGebO vom Bevollmächtigten aus einem gesetzlichen Rahmen bemessenen Gebühr. § 12 Abs 2 BRAGebO gilt insbesondere nicht in einem Rechtsstreit, der zwischen dem Gebührenschuldner und dem Erstattungspflichtigen um die Höhe der Erstattung geführt wird, wofür die Höhe der Gebühr lediglich eine Vorfrage ist. Deswegen braucht das SG im Erstattungsstreit ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer nach § 12 Abs 2 BRAGebO nicht einzuholen (vgl BSG vom 7.12.1983 9a RVs 6/82 = SozR 1300 § 63 Nr 2 S 11).
Normenkette
SGG § 144 Abs 1 Nr 1, § 150 Nr 1 Halbs 1, § 150 Nr 2; BRAGebO § 12 Abs 1 S 1; BRAGebO § 12 Abs 2; SGB 10 § 63
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 09.03.1989; Aktenzeichen L 7 An 46/87) |
SG Landshut (Entscheidung vom 07.01.1987; Aktenzeichen S 8 An 100/86) |
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des Anspruchs auf Erstattung der Kosten eines Widerspruchsverfahrens, dem ein gerichtliches Verfahren nicht gefolgt ist.
Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) hatte in einem Kontenklärungsverfahren dem Widerspruch des Klägers gegen den Vormerkungsbescheid vom 27. September 1985 mit Bescheid vom 24. Januar 1986 durch Anerkennung weiterer Ausfallzeiten teilweise abgeholfen und entschieden, die durch die erforderliche Zuziehung eines Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren entstandenen notwendigen Aufwendungen würden auf Antrag zu drei Vierteln erstattet. Der Bevollmächtigte des Klägers, ein Rechtsbeistand, stellte daraufhin der BfA ua eine Gebühr in Höhe von 150,-- DM (drei Viertel von 200,-- DM) in Rechnung. Mit dem streitigen Bescheid vom 6. Juni 1986, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 26. August 1986, erstattete die BfA ua eine Gebühr nur in Höhe von 105,-- DM (drei Viertel von 140,-- DM), weil die vom Bevollmächtigten des Klägers in Ansatz gebrachte Gebühr unbillig iS von § 12 Abs 1 Satz 2 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (BRAGO) sei.
Der Kläger hat vor dem Sozialgericht (SG) Landshut die Verurteilung der Beklagten zur Erstattung einer Gebühr in Höhe von drei Vierteln der Mittelgebühr von 165,-- DM, hilfsweise die Zulassung der Berufung beantragt. Das SG hat die Klage durch Urteil vom 7. Januar 1987 abgewiesen. In der formularmäßigen Rechtsmittelbelehrung heißt es, das Urteil könne mit der Berufung angefochten werden. Auf die Berufung des Klägers hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 9. März 1989 das Urteil des SG aufgehoben, den streitigen Bescheid geändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger weitere 25,50 DM nebst 14 vH Mehrwertsteuer zu zahlen. Es hat ausgeführt: Die Berufung des Klägers sei nach § 150 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, weil er zu Recht gerügt habe, das SG habe es verfahrensfehlerhaft unterlassen, gemäß § 12 Abs 2 BRAGO ein Gutachten der Rechtsanwaltskammer zur Frage der Billigkeit der vom Bevollmächtigten des Klägers festgesetzten Gebühr einzuholen. Die Berufung sei auch begründet, weil der Ansatz der Mittelgebühr von 165,-- DM nach dem vom LSG eingeholten Gutachten der Rechtsanwaltskammer nicht unbillig sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 150 Nr 2 SGG, weil § 12 Abs 2 BRAGO nicht das sozialgerichtliche Verfahren regele, sondern nur Streitigkeiten zwischen dem Bevollmächtigten und seinem Auftraggeber vor den ordentlichen Gerichten betreffe (Hinweis auf Bundessozialgericht -BSG- SozR 1300 § 63 Nr 2).
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG Landshut vom 7. Januar 1987 als unzulässig zu verwerfen.
Der Kläger ist durch keinen zur Prozeßvertretung vor dem BSG zugelassenen Bevollmächtigten vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 7. Januar 1987 ist unzulässig, so daß das LSG über die Berufung nicht sachlich-rechtlich hätte entscheiden dürfen, sondern das Rechtsmittel durch Prozeßurteil als unzulässig hätte verwerfen müssen.
Nach § 143 SGG ist die Berufung gegen ein Urteil des SG statthaft, soweit sich aus den §§ 144 ff SGG nichts Abweichendes ergibt. Hier folgt der Ausschluß der Berufung aus § 144 Abs 1 Nr 1 SGG. Danach ist die Berufung nicht zulässig bei Ansprüchen auf einmalige Leistungen. Der 11. Senat des BSG hat bereits klargestellt, daß die Kostenerstattung nach § 63 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB 10) eine einmalige Geldleistung iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG ist (BSG SozR 1500 § 144 Nr 27 S 47 mwN). Dem ist der 1. Senat des BSG beigetreten (Urteil vom 14. November 1984 - 1 RJ 54/84 = AmtlMitt LVA Rheinpr 1986, 42). Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Denn "Leistungen" iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG sind nicht nur Sozialleistungen iS von § 11 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB 1), sondern alle Handlungen eines Leistungsträgers (§ 12 SGB 1), die er aufgrund seiner zum Sozialrecht gehörenden Aufgabenstellung vorzunehmen hat und aus denen für den Einzelnen ein Vorteil erwächst (vgl schon BSG SozR 1500 § 144 Nrn 5, 21 mwN). Der Anspruch auf Erstattung der Kosten eines Widerspruchsverfahrens, dem ein gerichtliches Verfahren nicht gefolgt ist, betrifft eine einmalige Leistung, weil die begehrte Erstattung sich in der einmaligen Zuwendung eines Vermögensvorteils erschöpft.
Die Berufung ist - was das LSG insoweit nicht verkannt hat - nicht nach § 150 Nr 1 SGG zulässig, denn das SG hat das Rechtsmittel nicht iS dieser Vorschrift zugelassen. Gemäß § 150 Nr 1 Halbs 1 SGG ist die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn das SG sie "im Urteil" zugelassen hat. Erforderlich ist, daß sich aus dem Wortlaut des Urteils ergibt, daß das Gericht, nicht nur der Kammervorsitzende, die Zulassung beschlossen hat. Eine formularmäßige Belehrung über Anfechtungsmöglichkeiten genügt nicht. Deswegen muß sich die Zulassung der Berufung aus dem Urteilsausspruch, zumindest aber aus den Entscheidungsgründen oder einem eindeutigen Zusatz zu der formularmäßigen Rechtsmittelbelehrung ergeben. Hat das SG hingegen - wie hier - in einer Rechtssache, in der die Berufung nach §§ 144 bis 149 SGG unzulässig ist, die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung formularmäßig irrigerweise dahin erteilt, daß die Berufung zulässig ist, so eröffnet diese unrichtige Rechtsmittelbelehrung keine Anfechtungsmöglichkeit (BSG SozR Nr 10 zu § 150 SGG; SozR 1500 § 161 Nr 16 S 31 f mwN; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl 1987, § 150 RdNr 7 mwN). Da eine Zulassung der Berufung "im Urteil" des SG nicht erfolgt ist, ist die Berufung nicht iS von § 150 Nr 1 SGG zugelassen. An die Nichtzulassung der Berufung war das LSG ohne Rücksicht auf deren Rechtmäßigkeit iS des § 150 Nr 1 SGG gebunden (st Rspr; BSG SozR 1500 § 150 Nr 28 S 52 mwN). Ob diese Bindung ausnahmsweise entfällt, wenn die Nichtzulassung der Berufung auf Willkür beruht (vgl BSG SozR 1500 § 150 Nr 27 mwN), kann dahingestellt bleiben. Denn Willkür könnte nur vorliegen, wenn die Nichtzulassung der Berufung unter keinem Gesichtspunkt vertretbar wäre. Dafür besteht hier kein Anhalt, zumal die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgeblichen Rechtsfragen bereits höchstrichterlich geklärt sind.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die Berufung auch nicht nach § 150 Nr 2 SGG statthaft. Danach ist die Berufung zulässig, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel gerügt wird und tatsächlich vorliegt (st Rspr; BSG SozR 1500 § 150 Nr 28 S 52 mwN). Für die Beurteilung der Rüge kommt es allein auf das Vorbringen des Berufungsklägers vor dem LSG an. Es kann offenbleiben, ob das LSG zu Recht angenommen hat, der Kläger habe hinreichend gerügt, daß das SG einen Verfahrensfehler dadurch begangen habe, daß es kein Gutachten der Rechtsanwaltskammer nach § 12 Abs 2 BRAGO eingeholt hat. In der vom LSG in Bezug genommenen Gerichtsakte findet sich im Blick hierauf nur der Satz: "Im übrigen ist bei der Entscheidung vom 7. 1. 1987 die Rechtsanwaltskammer nicht gutachtlich gehört worden (= Kostensache)". Ob der Kläger hiermit seiner Darlegungslast genügt hat, bedarf keiner Erörterung, weil sein Vorbringen keinen Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens aufzeigt. Verfahrensmangel ist nämlich nur ein Verstoß gegen eine Vorschrift, die das sozialgerichtliche Verfahren regelt. § 12 Abs 2 BRAGO, nach dem das Gericht im Rechtsstreit ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer einzuholen hat, regelt nicht das Verfahren vor dem SG, sondern betrifft ausschließlich den Rechtsstreit zwischen dem Auftraggeber und dem Bevollmächtigten über die Höhe einer nach § 12 Abs 1 Satz 1 BRAGO vom Bevollmächtigten aus einem gesetzlichen Rahmen bemessenen Gebühr. Abs 2 aaO gilt insbesondere nicht in einem Rechtsstreit, der - wie hier - zwischen dem Gebührenschuldner (hier: der Kläger) und dem Erstattungspflichtigen (hier: die Beklagte) um die Höhe der Erstattung geführt wird, wofür die Höhe der Gebühr lediglich eine Vorfrage ist (Fraunholz, § 12 RdNrn 15, 16 mwN in: Riedel/Sußbauer, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, Kommentar, 6. Aufl 1988, S 157 f; Swolana, BRAGO, Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, 6. Aufl 1981, Anm 2, S 235 f mwN). Deswegen hat der 9a Senat des BSG bereits klargestellt, daß das SG im Erstattungsstreit ein Gutachten des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer nach § 12 Abs 2 BRAGO nicht einzuholen braucht (BSG SozR 1300 § 63 Nr 2 S 11). Dem folgend haben der 11. Senat (BSG SozR 1300 § 63 Nrn 3, 4), der 6. Senat des BSG (SozR 1300 § 63 Nr 8) und der 1. Senat des BSG (Urteil vom 14. November 1984 - 1 RJ 54/84 = AmtlMitt LVA Rheinpr 1986, 42) mehrfach nicht beanstandet, daß die Tatsacheninstanzen der Sozialgerichtsbarkeit die angemessene Gebühr bestimmt haben, ohne zuvor ein Gutachten der Rechtsanwaltskammer einzuholen. Auch der erkennende Senat ist der Rechtsauffassung, daß § 12 Abs 2 Satz 1 BRAGO keine Norm ist, die das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit regelt. Keiner Darlegung bedarf, daß der unmittelbare Anwendungsbereich der Vorschrift der Rechtsstreit zwischen dem Auftraggeber und dem Bevollmächtigten über die Höhe der von diesem nach billigem Ermessen festgesetzten Gebühr ist. Anhaltspunkte dafür, das sozialgerichtliche Verfahren könne im Blick auf die Überprüfung von Kostenfestsetzungsbescheiden iS von § 63 Abs 3 Satz 1 SGB 10, die - entgegen der Ansicht des LSG - keine Ermessensentscheidungen sind, planwidrig lückenhaft ausgestaltet sein und deswegen eine entsprechende Anwendung des § 12 Abs 2 Satz 1 BRAGO geboten sein, liegen nicht vor.
Nach alledem hat das Berufungsgericht über das Rechtsmittel zu Unrecht sachlich-rechtlich entschieden, so daß die Revision der Beklagten Erfolg hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen