Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. August 1993 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den Klägern Hinterbliebenenversorgung nach der am 20. September 1986 getöteten U. … L. … (U.) zu gewähren hat.
Der Kläger ist Witwer, die Kläger zu 2) und 3) sind Waisen der getöteten U. Der Kläger zu 1) war im Mai 1984 als Soldat der Bundeswehr auf Sardinien (D. …) stationiert. Er wohnte mit seiner Familie ca 40 km entfernt in Q. … S. … E. … bei C. …. Dort wurde U. am 20. September 1986 von einem ebenfalls dort stationierten deutschen Soldaten durch mehrere Messerstiche getötet. Das Landgericht Mosbach verurteilte den Täter im Oktober 1987 wegen Mordes rechtskräftig zu 15 Jahren Freiheitsstrafe.
Der Antrag der Kläger vom August 1988 auf Hinterbliebenenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) blieb ohne Erfolg (Bescheid des Versorgungsamts Augsburg vom 20. September 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamts Bayern vom 17. Januar 1989). Die Versorgungsverwaltung berief sich auf das Territorialitätsprinzip des OEG, das keine Leistungen für Gewalttaten vorsehe, die außerhalb des Geltungsbereiches des OEG begangen worden seien. Während der Rechtshängigkeit der gegen diese Bescheide erhobenen Klage lehnte der Beklagte Hinterbliebenenversorgung auch unter dem Gesichtspunkt des Härteausgleichs (§ 1 Abs 5 – heute Abs 8 Satz 1 -und Abs 9 Satz 2 – heute Abs 12 Satz 2 – OEG iVm § 89 Bundesversorgungsgesetz ≪BVG≫) ab (Bescheid vom 6. Februar 1990).
Mit Urteil vom 22. Oktober 1991 wies das Sozialgericht (SG) die Klage gegen die vorgenannten Bescheide ab. Das Territorialitätsprinzip beruhe auf einer grundsätzlichen Wertung des OEG und könne daher nicht über § 89 BVG iVm § 1 OEG durchbrochen werden. Auch die Berufung der Kläger blieb erfolglos. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) schloß sich in seinem Urteil vom 18. August 1993 im wesentlichen der Argumentation des SG an.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision machen die Kläger weiterhin einen Härtefall iS des § 89 BVG iVm § 1 OEG geltend. Der fehlende Schutz von ins Ausland entsandten Soldaten und ihren Angehörigen gegen Gewalttaten stelle eine Regelungslücke dar, die – ggf über § 89 BVG – zu schließen sei.
Während des Revisionsverfahrens trat – am 29. Juli 1995 – das „Gesetz zur Änderung wehrpflichtrechtlicher, soldatenrechtlicher, beamtenrechtlicher und anderer Vorschriften” vom 24. Juli 1995 (vgl BGBl I S 962) in Kraft, durch das ua § 81e in das Soldatenversorgungsgesetz (SVG) eingefügt wurde. Auf die Anträge der Kläger vom 31. August 1995 hat das Versorgungsamt Augsburg nach dieser Bestimmung mit Bescheiden vom 11. März 1996 dem Kläger zu 1) Witwergrundrente und den Klägern zu 2) und 3) Waisengrundrenten jeweils ab 29. Juli 1995 zuerkannt. Die Kläger beschränkten daraufhin den Klageantrag auf die vorausgehende Zeit.
Sie beantragen sinngemäß,
den Beklagten unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. August 1993 und des Urteils des Sozialgerichts Augsburg vom 22. Oktober 1991 sowie unter Aufhebung der Bescheide vom 20. September 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 1989 und des Bescheides vom 6. Januar 1990 zu verurteilen, den Klägern vom 1. August 1988 (Antragsmonat) bis 28. Juli 1995 die gesetzlichen Entschädigungsleistungen nach dem OEG nach ihrer am 20. September 1986 ermordeten Ehefrau bzw Mutter zu gewähren.
Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Kläger ist unbegründet.
Streitig sind in diesem Rechtsstreit Ansprüche der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung sowohl nach dem OEG als auch nach dem SVG. Die Kläger wollten aufgrund des mit dem Klageantrag vorgetragenen Lebenssachverhalts alle etwaigen Ansprüche auf soziale Entschädigung (§ 5 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil ≪SGB I≫) geltend machen, einerlei auf welcher Rechtsgrundlage. Dem steht nicht entgegen, daß sie ausdrücklich Entschädigungsansprüche nur nach dem OEG erhoben haben.
Bereits das Versorgungsamt hatte die bei ihm gestellten Leistungsanträge unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Wäre für die Bewilligung von beantragten Sozialleistungen ein anderer Leistungsträger zuständig gewesen, hätte das Versorgungsamt die Anträge an diesen weiterleiten müssen (§ 16 Abs 2 Satz 1 SGB I). Um so mehr mußte das Versorgungsamt Anträge auf Leistungen, für die es selbst zuständig war, unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten prüfen, ohne dabei an die rechtliche Begründung des Antrags durch den Antragsteller gebunden zu sein. Erst recht betraf die gerichtliche Weiterverfolgung der Ansprüche vor dem SG und dem LSG entschädigungsrechtliche Leistungen nach jeder in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage. Das ergibt sich aus § 123 Sozialgerichtsgesetz (SGG), wonach nicht an dem Wortlaut des gestellten Antrages gehaftet werden soll (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, RdZiff 3 zu § 123).
Den Klägern standen jedoch Leistungsansprüche für den noch geltend gemachten Zeitraum weder nach dem OEG noch nach dem SVG zu, so daß das Urteil des LSG zu bestätigen ist.
Leistungsansprüche nach dem OEG haben weder für eine Zeit vor dem 29. Juli 1995 noch später bestanden. Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG setzt ein Entschädigungsanspruch wegen einer Gewalttat voraus, daß das Opfer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug durch eine Gewalttat geschädigt wird (Territorialitätsprinzip). Diese Voraussetzung trifft nicht zu, da die Ehefrau bzw Mutter der Kläger auf Sardinien, also außerhalb des Geltungsbereichs des OEG, getötet worden ist.
Gesetzgeberischer Zweck des OEG ist es, ein Versagen der nationalen Sicherheitsbehörden auszugleichen, die das Opfer nicht vor der Verletzung durch den Gewalttäter haben schützen können (vgl BSGE 49, 98, 101; 49, 104, 105; 52, 281, 287; 56, 90, 92). Die Bundesrepublik Deutschland war hier gar nicht in der Lage, die getötete U. vor der an ihr begangenen Gewalttat zu schützen, weil sie auf Sardinien keine Polizeigewalt besaß. Zwar kann nach Art VII Abs 10 des NATO-Truppenstatuts ausnahmsweise die Polizeigewalt den Einheiten oder Verbänden einer Truppe in allen Lagern, Anwesen oder anderen Liegenschaften zustehen, die sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Aufnahmestaat innehaben. In solchen Fällen kann die Militärpolizei der Truppe alle geeigneten Maßnahmen treffen, um die Ordnung und Sicherheit innerhalb dieser Liegenschaften aufrechtzuerhalten. Es ist jedoch weder von den Vorinstanzen festgestellt noch von den Beteiligten geltend gemacht worden, noch ergibt sich überhaupt ein Anhaltspunkt dafür, daß ein derartiger Fall vorliegt. Das SG hat vielmehr unangefochten festgestellt, daß sich der Mordfall in 40 km Entfernung von den militärischen Anlagen des Einsatzortes abgespielt hat und durch die italienische Kriminalpolizei aufgeklärt worden ist. Mithin kann hier die Frage offenbleiben, wie der Fall zu beurteilen wäre, wenn nach dem NATO-Truppenstatut ausschließlich deutsche Sicherheitsorgane für die Sicherheit der getöteten U. zuständig gewesen wären. Das OEG greift somit weder nach seinem Wortlaut noch nach der ihm zugrundeliegenden gesetzgeberischen Zielsetzung ein.
Zu Recht hat das LSG auch eine Entschädigungspflicht des Beklagten nach § 1 OEG iVm § 89 BVG (Härteausgleich) verneint. Ein Härteausgleich kann nur dann stattfinden, wenn eine vom Gesetzgeber nicht bewußt in Kauf genommene Härte vorliegt (vgl Rohr/Sträßer Anm 1 zu § 89 BVG; auch Verwaltungsvorschrift 1 zu § 89 BVG). Die fundamentalen Vorschriften des Kriegsopferrechts dürfen dabei durch den Härteausgleich nicht ausgehöhlt oder umgangen werden (vgl BSGE 27, 75, 77; 47, 123, 125). Entsprechendes muß für die tragenden Grundlagen des Gewaltopferrechts gelten. Die Beschränkung des Schutzes von Gewaltopfern auf im Geltungsbereich des OEG begangene Gewalttaten beruht auf einer grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers, die Ausnahmen im Einzelfall nicht zuläßt.
Auch nach dem SVG sind Ansprüche nicht gegeben. Für dieses Gesetz hat der Gesetzgeber bis 29. Juli 1995 bewußt, also ohne Regelungslücke, Versorgungsschutz nur für den Fall einer Wehrdienstbeschädigung, nicht aber für sonstige Schädigungen vorgesehen (§ 80 SVG). Eine Wehrdienstbeschädigung setzt nach § 81 Abs 1 SVG voraus, daß die geschützte Person durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse geschädigt worden ist. Das bedingt in aller Regel, daß ein Soldat, nicht eine sonstige Person geschädigt wird. Diese Voraussetzungen treffen auf die verstorbene U. nicht zu. Dafür spricht schon der Umstand, daß sie zum Zeitpunkt der Schädigung der Bundeswehr nicht angehörte, sondern Zivilperson war (§ 80 Satz 1 SVG). Zum Kreis derjenigen Zivilpersonen, die ausnahmsweise eine Wehrdienstbeschädigung erleiden können (vgl § 80 Satz 2 SVG), gehörte sie nicht. Bei diesen Personen handelt es sich – abgesehen von den Krankenbehandlungsberechtigten und Leistungsempfängern iS des § 81b SVG – um Wehrpflichtige vor Ableistung des Wehrdienstes und ehemalige Soldaten, im einzelnen Wehrpflichtige, die zur Feststellung der Wehrtauglichkeit erscheinen, ferner um Beschädigte, die eine Wehrdienstbeschädigung nach § 81 Abs 2 Nr 2 SVG erleiden (im wesentlichen Heilbehandlungsberechtigte), um Reservisten, die an einer dienstlichen Veranstaltung iS des § 1 Abs 4 Soldatengesetz teilnehmen, schließlich um Personen, die einen mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Weg zurücklegen, ohne Soldaten zu sein (Erlaß des Bundesministers der Verteidigung vom 10. Juli 1975 vgl auch BVBl 1976, S 27 ff). Die redaktionelle Änderung des § 80 SVG durch das 6. Änderungsgesetz SVG vom 10. August 1971 (BGBl I S 1273) brachte keine inhaltliche Änderung, insbesondere keine Erweiterung des anspruchsberechtigten Personenkreises (vgl BT-Drucks VI/1681 S 13, auch Sailer bei Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl, RdNrn 2 und 3 zu § 80 SVG). Ein Anspruch auf Versorgung nach dem SVG besteht auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Härteausgleichs (§ 80 Satz 1 SVG iVm § 89 BVG), da auch die Nichteinbeziehung von Nichtsoldaten in den nach dem SVG geschützten Personenkreis – von den genannten Ausnahmefällen abgesehen – auf einer grundsätzlichen Wertung des Gesetzgebers beruht.
Die Frage, ob das Fehlen einer Entschädigungsregelung für solche Gewaltopfer, die Angehörige von im Ausland stationierten Bundeswehrsoldaten sind, ggf eine verfassungswidrige sozialrechtliche Regelungslücke, sei es des OEG, sei es anderer Rechtsvorschriften, darstellt, zu deren Schließung der Gesetzgeber nach Art 3 Abs 1 und Art 20 Abs 1 GG verpflichtet gewesen wäre, ist jedenfalls für den noch streitigen Zeitraum vor dem 29. Juli 1995 zu verneinen. Es ist nicht zu erkennen, welcher vergleichbaren Gruppe von Begünstigten gegenüber die durch Gewalttaten im Ausland geschädigten Soldaten willkürlich benachteiligt gewesen sein sollen. Seit 29. Juli 1995 hat der Gesetzgeber durch das Gesetz vom 24. Juli 1995 einen Gewaltopferschutz für im Ausland stationierte Soldaten sowie deren Angehörige geschaffen (§ 81e Abs 1 SVG) und für Härtefälle aus der Vergangenheit eine Entschädigungsregelung getroffen (vgl § 81e Abs 12 SVG), die auch den Fall der Kläger erfaßt. Zwar sind danach Entschädigungsansprüche für die Hinterbliebenen von Gewaltopfern – auch bei vor dem 29. Juli 1995 geschädigten Personen – erst seit diesem Stichtag vorgesehen (§ 81e Abs 13 Satz 2 SVG). Bei der Neuregelung handelt es sich jedoch um eine Ausweitung von Sozialleistungsansprüchen, für die der Gesetzgeber einen weitgehenden Ermessensspielraum besitzt. Dies gilt insbesondere für die Behandlung von Altfällen, hinsichtlich derer sogar ein völliger Ausschluß von der sozialen Entschädigung gerechtfertigt sein kann (vgl BVerfGE 87, 234, 262 ff = SozR 3-5761 Allg Nr 1 S 12 ff und Urteil des Senats BSGE 56, 90, 93 mwN). Erst recht muß der Gesetzgeber berechtigt sein, einen Stichtag für den Leistungsbeginn zu wählen.
Bei der Kostenentscheidung hat der Senat nicht verkannt, daß die Kläger die von ihnen geltend gemachten Entschädigungsansprüche für den zum Schluß allein noch streitig gebliebenen Zeitraum vom 1. August 1988 bis zum 28. Juli 1995 nicht haben durchsetzen können. Auch hat der Beklagte die seit 29. Juli 1995 durch das Gesetz vom 24. Juli 1995 eingeräumten Ansprüche unverzüglich anerkannt. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß der vorliegende Fall zur Einräumung eines dem ursprünglichen Begehren der Kläger entsprechenden Anspruchs zumindest seit 29. Juli 1995 beigetragen hat. Unter diesen Umständen erscheint es billig, dem Beklagten die Hälfte der Kostenlast aufzuerlegen (§ 193 Abs 1 SGG).
Fundstellen