Leitsatz (amtlich)
Ein die Versicherungspflicht begründendes Beschäftigungsverhältnis kann auch ohne tatsächliche Arbeitsleistung bestehen, wenn ein rechtsgültiger Arbeitsvertrag vorliegt, auf Grund dessen dem dienstbereiten Arbeitnehmer ein Entgelt geschuldet wird.
Normenkette
RVO § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1956-06-12, Abs. 2 Fassung: 1956-06-12, § 1227 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-09-08; AVAVG §§ 69, 56 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Februar 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Versicherungspflicht des Klägers in der Sozialversicherung für die Zeit von Januar bis März 1969 streitig.
Der Kläger - zuletzt Melkermeister bei einer Gutsverwaltung - schloß im November 1968 mit dem Beigeladenen zu 1) einen Arbeitsvertrag, nach dem er vom 1. Januar 1969 an in dessen Bullenmastbetrieb gegen einen Nettolohn von 800,- DM und freier Wohnung tätig sein sollte. Am 31. Dezember 1968 erklärte der Beigeladene zu 1) dem Kläger mündlich, daß er das Arbeitsverhältnis zum 31. März 1969 kündige und auf die Arbeitsleistung des Klägers bis dahin verzichte, aber zur Lohnzahlung bereit sei. Diese Erklärung bestätigte der Beigeladene zu 1) durch Schreiben an den Kläger vom 10. Januar 1969; in diesem ersuchte er den Kläger auch um Übersendung der Arbeitspapiere und fügte hinzu, daß er zur Zahlung des Lohnes nur so lange bereit sei, wie der Kläger keine anderweitige Arbeit aufgenommen habe. Als Abgeltung für die vereinbarte freie Wohnung zahlte der Beigeladene zu 1) dem Kläger aufgrund eines arbeitsgerichtlichen Vergleichs später 180,- DM.
Im Januar 1969 meldete der Beigeladene zu 1) den Kläger bei der Beklagten an. Die Beklagte war der Ansicht, daß für die Zeit vom Januar bis März 1969 ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis nicht bestanden habe und demnach eine Beitragszahlung für diesen Zeitraum entfalle (Bescheid vom 28. März 1969, Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 1969).
Die hiergegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht (SG) stellte die Versicherungspflicht des Klägers zur Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung für die Zeit vom Januar bis März 1969 fest (Urteil vom 11. November 1970). Die von der Beklagten eingelegte Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) zurück (Urteil vom 10. Februar 1972).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des materiellen Rechts durch das LSG:
Nicht allein durch den bestehenden Arbeitsvertrag, sondern erst mit der Einstellung gehe das schuldrechtliche Arbeitsverhältnis in den Erfüllungszustand über. Gerade hierin sei im vorliegenden Fall der Unterschied zu den bisher entschiedenen Tatbeständen zu sehen. Die vom LSG herangezogenen Entscheidungen des Reichsversicherungsamts - RVA - (An 1927, S. 581, EuM 22, S. 238) und des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 1, 115, 123; 13, 263; 26, 124; 29, 30) hätten entweder ein bereits bestehendes Beschäftigungsverhältnis zum Inhalt gehabt oder das Beschäftigungsverhältnis sei bereits in ein Erfüllungsstadium eingetreten gewesen, nur die Arbeitsaufnahme habe nicht erfolgen können aus Gründen, die weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer zu vertreten gehabt hätten. Die Einstellung - nicht Arbeitsaufnahme - sei für den Beginn der Versicherungspflicht von entscheidender Bedeutung. Der Kläger habe nicht Angehöriger und damit ein Glied des Betriebes werden können, weil der Arbeitgeber - Beigeladener zu 1) - bereits am 31. Dezember 1968 die Direktionsbefugnis, welche am 1. Januar 1969 hätte beginnen sollen, abgelegt habe.
Im übrigen sieht die Beklagte ihre Rechtsauffassung hinsichtlich des Beginns der Versicherungspflicht durch das Urteil des BSG vom 28. Februar 1967 - 3 RK 17/65 - (BSG 26, 124, 128) "annähernd" bestätigt.
Die Beklagte beantragt sinngemäß, die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG und des SG Lübeck vom 10. Februar 1972 und 11. November 1970 aufzuheben.
Der Kläger und die Beigeladene zu 2) - LVA Schleswig-Holstein - beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie halten übereinstimmend die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils für zutreffend.
Die Beigeladene zu 3) - Bundesanstalt für Arbeit - schließt sich - ohne ausdrückliche Antragstellung - der Rechtsauffassung der Beklagten und Revisionsklägerin an.
Der Beigeladene zu 1) ist im Revisionsverfahren nicht durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) vertreten.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat ausgeführt, daß dem Kläger durch das Verhalten des Beigeladenen zu 1) - nämlich durch die am 31. Dezember 1968 ausgesprochene Kündigung - die Möglichkeit genommen worden ist, seine Arbeitswilligkeit durch Aufsuchen der Betriebsstätte zum Zwecke der Arbeitsaufnahme unter Beweis zu stellen. Es ist daher davon ausgegangen, daß der Kläger einer Aufforderung zur Arbeitsleistung durch den Beigeladenen zu 1) jederzeit nachgekommen wäre, und hat demzufolge den Kläger während der streitigen Zeit von Januar bis einschließlich März 1969 als "dienstbereit, d. h. dienstwillig" angesehen. Des weiteren hat das LSG festgestellt, daß dem Beigeladenen zu 1) demgemäß damals auch die Dispositionsbefugnis über den Kläger verblieb und der Beigeladene zu 1) diese bereits am 31. Dezember 1968 sowie im Schreiben vom 10. Januar 1969 durch Freistellung des Klägers von der Arbeit ausgeübt hatte. Diese Feststellungen des Berufungsgerichts sind - soweit sie tatsächlichen Inhalts sind - von der Revision nicht mit formgerechten Verfahrensrügen (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) angefochten worden. Die Revision hat lediglich den Feststellungen des LSG über die Dispositionsbefugnis des Beigeladenen zu 1) in der Zeit vom Januar bis März 1969 mit der nicht weiter begründeten Behauptung widersprochen, der Arbeitgeber habe bereits am 31. Dezember 1968 seine Direktionsbefugnis abgelegt. Da in diesem unsubstantiierten Vorbringen keine zulässigen und begründeten Revisionsgründe in bezug auf die gegenteiligen Feststellungen des LSG gesehen werden können, sind letztere für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Unter Berücksichtigung dieser Feststellungen hat das LSG aber zu Recht angenommen, daß der Kläger im streitigen Zeitraum beim Beigeladenen zu 1) gegen Entgelt beschäftigt war und damit der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung, der Rentenversicherung der Arbeiter und in der Arbeitslosenversicherung unterlag (§§ 165 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 1227 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -, 56 Abs. 1 Nr. 1, 69 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -).
Bereits der Große Senat des RVA hat in den Entscheidungen vom 7. Dezember 1926 (AN 1927, 581) und vom 29. November 1927 (EuM 22, 238) ein die Versicherungspflicht begründendes Beschäftigungsverhältnis auch ohne tatsächliche Arbeitsleistung bejaht, wenn ein rechtsgültiger Lohnarbeitsvertrag vorliegt, auf Grund dessen dem dienstbereiten Arbeitnehmer ein Entgelt geschuldet oder sogar - wie hier - tatsächlich gezahlt wird. Der Große Senat des RVA hat dies mit dem Schutzzweck der Sozialversicherung, sowie mit Billigkeitserwägungen und wirtschaftlichen Bedürfnissen begründet: Die bloße Nichtzulassung eines arbeitswilligen Arbeitnehmers zur Arbeit könne sein Ausscheiden aus der Sozialversicherungspflicht nicht zur Folge haben. Andernfalls würde es lediglich von der Willkür des Arbeitgebers abhängen, ob ein Arbeitnehmer trotz seiner Bereitwilligkeit zur Leistung der übernommenen Arbeit sowie des Fortbestehens seines Arbeitsvertragsverhältnisses von den Wohltaten der Krankenversicherung ausgeschlossen sein soll. Hinzu komme, daß nach bürgerlichem Recht aufgrund eines Dienstvertrages grundsätzlich keine Verpflichtung des Arbeitgebers zur tatsächlichen Beschäftigung des Arbeitnehmers bestehe, sondern nur die Pflicht zur Gewährung der vereinbarten Vergütung (vgl. §§ 611, 615 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Der Arbeitnehmer sei daher nicht berechtigt, aus der Nichtbeschäftigung durch den Arbeitgeber einen Schadensersatzanspruch gegen ihn herzuleiten (vgl. die Ausnahmevorschrift des § 628 Abs. 2 BGB für Fälle der fristlosen Kündigung). Schließlich könne der Arbeitnehmer auch nicht darauf verwiesen werden, durch freiwillige Weiterversicherung sich die Rechte aus der Versicherung zu erhalten. Abgesehen von den im Einzelfall nicht immer gegebenen Voraussetzungen für die Berechtigung zur freiwilligen Weiterversicherung, würde der Arbeitnehmer durch die Verweisung auf diesen Weg insofern geschädigt werden, als er dann die vollen Beiträge allein entrichten müßte. Diese vom RVA für Fälle der Kündigung eines zunächst ausgeführten Arbeits- oder Dienstvertrags als maßgeblich angesehenen Gründe gelten indes - was die Revision übersieht - gleichermaßen, wenn es der Arbeitgeber, wie hier der Beigeladene zu 1), in Ausübung seines Direktionsrechts erst gar nicht zu einer tatsächlichen Beschäftigung des Klägers hat kommen lassen. Ansonsten würde auch hier dem Kläger durch das Verhalten des Beigeladenen zu 1) der Schutz der Sozialversicherung entzogen. Ein solches Ergebnis kann - wie bereits das RVA (aaO EuM 22, 238, 242) betont hat - keinesfalls in der Absicht des Gesetzes gelegen haben.
Entgegen der Auffassung der Revision ist ein anderes Ergebnis auch unter Berücksichtigung des Urteils des BSG vom 28. Februar 1967 - 3 RK 17/65 (BSG 26, 124, 128) nicht gerechtfertigt. Zwar wird in dieser Entscheidung ausgeführt, daß zum Eintritt in die versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 306 Abs. 1 RVO der Abschluß eines Arbeitsvertrages nicht genügt, sondern hierfür das schuldrechtliche Arbeitsverhältnis durch die "Einstellung" des Arbeitnehmers in den Erfüllungszustand übergehen muß. Andererseits ist aber für die "Einstellung" die tatsächliche Aufnahme der Arbeit nicht erforderlich. Es genügt vielmehr, daß der Arbeitnehmer sich der Verfügungsmacht des neuen Arbeitgebers unterstellt (so ausdrücklich BSG aaO S. 126). Dies hat der Kläger aber nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG getan. Auch nach dem weiteren Urteil des BSG vom 22. November 1968 - 3 RK 9/67 - (BSG 29, 30) ist es für den Beginn der versicherungspflichtigen Beschäftigung als ausreichend anzusehen, wenn ein vertragsgebundener Arbeitswilliger wie der Kläger dem Arbeitgeber seine Arbeitspapiere - hier aufgrund der Aufforderung des Beigeladenen zu 1) im Schreiben vom 10. Januar 1969 - übergibt und der Arbeitgeber von seinem Dispositionsrecht nur in der Weise Gebrauch macht, daß er den Arbeitnehmer von der Arbeitsleistung freistellt. Eine derartige Ausübung des Dispositionsrechts durch den Beigeladenen zu 1) ist vom LSG ausdrücklich - und von der Revision unangefochten- festgestellt worden. Das LSG hat seine Entscheidung daher auch zutreffend auf das zuletzt genannte Urteil des BSG gestützt.
Nach alledem muß der Revision der Beklagten der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 543240 |
BSGE 36, 161-164 (LT1) |
BSGE, 161 |
BB 1973, 1582-1583 (LT1) |
NJW 1974, 112 |
RegNr, 4779 |
USK, 73151 (LT1) |
Breith 1974, 91-93 (LT1) |
Die Beiträge 1973, 339-342 (LT1) |
EzS, 130/107 |
RdL 1974, 194-195 (LT1) |
SozR § 165 RVO (LT1), Nr 73 |
VersR 1974, 112 (LT1) |