Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. September 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten, ob das Lendenwirbelsäulenleiden des Klägers als Berufskrankheit (BK) der Nr 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) zu entschädigen ist.
Der im Jahre 1935 geborene Kläger war in den Jahren 1953 bis 1959 als Vulkaniseur in der Reifenmontage beschäftigt. Anschließend war er bis zum 8. Juli 1991 in einem Unternehmen für Rettungsgeräte bei der Inspektion von Rettungsinseln und Schlauchbooten eingesetzt. Danach war er bis zum 31. Dezember 1992 arbeitsunfähig krank. Am 4. Januar 1993 nahm er bei derselben Arbeitgeberin eine Teilzeitbeschäftigung auf, in der er nur Testarbeiten durchführte. Seit Juli 1992 bezog er eine Berufsunfähigkeitsrente, die Anfang des Jahres 1995 in eine vorgezogene Altersrente umgewandelt wurde.
Im Mai 1993 beantragte der Kläger die Anerkennung einer Wirbelsäulenerkrankung als BK. Die Rückenschmerzen, an denen er seit seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr leide, seien auf die schwerbelastende Tätigkeit zurückzuführen. In den Jahren 1950 bis 1959 habe er ca 25 bis 30mal die Arbeitstaggewichte von 40 kg heben und auf der Schulter tragen müssen. Bei der Inspektion von Rettungsinseln und Schlauchbooten habe er 20 bis 25mal je Arbeitstag Gewichte von 40 bis 130 kg vor und seitlich des Körpers heben müssen.
Dazu holte die Beklagte eine Auskunft der Arbeitgeberin des Klägers ein. Außerdem zog die Beklagte ärztliche Berichte und Behandlungsunterlagen der behandelnden Ärzte des Klägers G. … und Dr. T. … sowie ein im Rentenverfahren von dem Orthopäden Dr. K. … für die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) erstattetes Gutachten und den Abschlußbericht eines in der Rheumaklinik Sonnengarten durchgeführten Heilverfahrens bei. Gestützt auf eine Stellungnahme sowie ein Gutachten des Chirurgen M. … -C. … und einer Stellungnahme des Landesgewerbearztes sowie einer Stellungnahme ihres technischen Aufsichtsbeamten D. … vom 20. Mai 1994 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Wirbelsäulenleidens als BK der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO ab (Bescheid vom 26. Oktober 1993 idF des Widerspruchsbescheids vom 16. August 1994). Der technische Aufsichtsdienst habe zwar festgestellt, daß eine berufliche Belastung der Lendenwirbelsäule vorgelegen habe. Der Gutachter M. … -C. … sei aber zu dem Ergebnis gekommen, daß die krankhaften Veränderungen auf eine Fehlhaltung der Wirbelsäule zurückzuführen seien und nicht der beruflichen Tätigkeit angelastet werden könnten, zumal das Hauptbeschwerdebild nicht im Bereich der Lendenwirbelsäule, sondern in dem der Brustwirbelsäule zu finden sei.
Das Sozialgericht (SG) hat, gestützt auf das Gutachten des Chirurgen Dr. S. …, die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer BK der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO eine Verletztenrente in Höhe von 20 vH der Vollrente ab dem 1. August 1991 zu gewähren (Urteil vom 19. Juli 1995).
Das Landessozialgericht (LSG) hat nach gutachterlicher Anhörung des Arztes für Chirurgie und Unfallchirurgie Dr. P. … die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 18. September 1996): Beim Kläger liege eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule iS der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO vor. Dies ergebe sich aus den Ausführungen der Sachverständigen Dr. S. …, Dr. P. … sowie des Gutachters M. … -C. … vom 12. Juli 1994. Daß diese Erkrankung mit Wahrscheinlichkeit durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjähriger Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht worden sei, stehe nicht entgegen, daß diese Erkrankung im Lendenwirbelsäulenbereich nur mono- oder bisegmental aufgetreten sei. Denn Dr. P. … habe festgestellt, daß auch ein drittes Lendenwirbelsäulensegment betroffen sei. Der Kläger habe in seinem Berufsleben vom 15. bis zum 56. Lebensjahr langjährig schwere Lasten gehoben und getragen. Die Lastgewichte hätten teils die Lastgewichte, die nach der Tabelle 3 des Merkblatts des Bundesministeriums für Arbeit mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung bandscheibenbedingter Erkrankungen der Lendenwirbelsäule ausgewiesen seien, überschritten bzw seien im Bereich der Grenzlast gewesen. Hinsichtlich der Häufigkeit der Hebe- und Tragevorgänge ergebe sich, daß die vom technischen Aufsichtsbeamten in dem von der Beklagten eingereichten Langzeiterhebungsbogen angesetzten Zeitfaktoren für die Häufigkeit der Hebe- und Tragebelastung je Schicht in Stunden nicht zuträfen. Die von der Beklagten eingereichte Berechnung der Belastungsdosis, der der Kläger ausgesetzt gewesen sei, sei schon wegen grundlegender Fehler der Methode ohne Aussagekraft. Daher falle auch die im Berufungsverfahren eingereichte Stellungnahme des Arztes M. … -C. … vom 1. Februar 1996 in sich zusammen. Es sei auch nicht geboten, auf der Grundlage des Vorschlags von Hartung und Dupuis einen technischen Aufsichtsbeamten zur Ermittlung einer Belastungsdosisberechnung heranzuziehen. Für eine solche Berechnung fehle die normative Grundlage in der BKVO. Auch hielten die Verfasser den Vorschlag selbst noch für der epidemiologischen Überprüfung und Anpassung bedürftig. Bedenken gegen ihn ergäben sich vor allem daraus, daß darin davon ausgegangen werde, daß aus komplexen Hebe- und Tragevorgängen, wie sie in der Wirklichkeit des Arbeitslebens gegeben seien, zumeist auf der Grundlage bloßer Erinnerung der Betroffenen und dem Versuch der Analyse der erinnerten Arbeitsvorgänge, durch einen technischen Sachverständigen scheinbar mathematisch Belastungsdosen errechnet werden sollen. Orientiert an den vom Kläger und vom letzten Arbeitgeber angegebenen Werten zu den Lastgewichten und der Häufigkeit der Hebe- und Tragevorgänge sei aber für den Kläger bei natürlicher Betrachtungsweise eine Belastung anzunehmen, die etwa derjenigen eines Stahlbetonarbeiters, der 40mal je Schicht Gewichte von mehr als 20 kg gehoben und getragen habe, entspreche. Das Gericht gehe deshalb davon aus, daß die Voraussetzungen der langjährigen Belastung durch schwere Hebe- und Tragetätigkeiten in gewisser Regelmäßigkeit beim Kläger erfüllt seien und es für die Feststellung nicht einer Berechnung nach Hartung und Dupuis bedürfe. Auf dieser Grundlage hätten es die gehörten Sachverständigen mit in sich schlüssigen Begründungen bejaht, daß die bandscheibenbedingten Erkrankungen des Klägers im Bereich der Lendenwirbelsäule auf die Belastungen zurückzuführen seien. Das Gericht folge der Beurteilung der Sachverständigen darin, daß auf der Grundlage der Definition der BK der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO die Voraussetzungen der Verursachung durch die langjährige schwere Hebe- und Tragebelastung des Klägers in seiner beruflichen Tätigkeit erfüllt seien. Wenn das klinische Bild einer solchen BK vorliege und auch von einer entsprechenden beruflichen Belastung auszugehen sei, sei es als wahrscheinlich anzusehen, daß ersteres auf letztere zurückzuführen sei. Diese an die Grenze einer Beweiserleichterung stoßende Beurteilung folge aus dem Umstand, daß der Verordnungsgeber die BK Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO eingeführt habe, obwohl es für die Feststellungen der erforderlichen Tatsachen bisher keine wissenschaftlich abgesicherten Grundlagen gebe.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte, daß das LSG wesentliche Grundsätze des BK-Rechts verletzt habe, wenn es einerseits hinsichtlich der BK der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO davon ausgehe, daß es für die Feststellung der erforderlichen Tatsachen bisher keine wissenschaftlich abgesicherten Grundlagen gebe, so daß es letztlich den medizinischen Sachverständigen überlassen bleiben müsse, die Kausalität zu beurteilen, also ohne offenbar die wirksam gewordenen Druckkräfte zu ermitteln. Auch spreche das LSG von einer an die Grenze einer Beweiserleichterung stoßenden Beurteilungsbeweise. Tatsächlich handele es sich aber um eine Beweislastumkehr. Weil der Kläger über längere Zeiträume Schwerarbeit geleistet habe, sei seine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule – abweichend von der Normalbevölkerung – als BK anzuerkennen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe jedoch entschieden, daß es eine „Umkehr der Beweislast” bei der Begründung einer Kausalitätsvermutung zur Anerkennung einer BK nicht gebe. Gerade wenn nach den medizinischen Beurteilungen es zweifelhaft sei, ob es sich lediglich um mittelgradige Aufbrauchserscheinungen in zwei Segmenten der Lendenwirbelsäule handele oder ob auch ein drittes Segment betroffen sei, und wenn andererseits feststehe, daß der Kläger entsprechende Veränderungen auch im Bereich der Brustwirbelsäule aufweise, sei ein objektivierbarer Maßstab unerläßlich. Wenn das LSG geglaubt habe, ohne wissenschaftlich abgesicherte Grundlagen zu einer Anerkennung des BK-Anspruchs gemäß der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO kommen zu können, habe es sich von der Erwägung leiten lassen, daß es sowohl für die Verwaltung als auch für die Gerichte so gut wie unmöglich erscheine, den für die Kausalitätsbeurteilung in der gesetzlichen Unfallversicherung sonst erforderlichen Maßstab zugrunde zu legen. Trotz der Schwierigkeiten im Einzelfall seien auch bei der BK der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO die allgemein geltenden Grundsätze in der gesetzlichen Unfallversicherung zur Kausalitätsbeurteilung maßgebend. Diese Grundsätze habe das LSG nicht eingehalten. Es sei bewußt davon abgewichen. Der „Volkscharakter” dieser Lendenwirbelsäulenerkrankung und die Anerkennung als BK bedürften einer besonders sorgfältigen Abgrenzung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. September 1996 sowie das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 19. Juni 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den Anspruch des Klägers auf Entschädigung der geltend gemachten bandscheibenbedingten Erkrankung im Bereich der Lendenwirbelsäule als BK der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO zu entscheiden.
Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da die von ihm geltend gemachte BK vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes ≪UVEG≫, § 212 SGB VII).
Wegen der gesundheitlichen Folgen eines Arbeitsunfalles (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO) wird gemäß § 581 Abs 1 RVO Verletztenrente gewährt, solange infolge des Arbeitsunfalls die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens ein Fünftel gemindert ist. Nach § 551 Abs 1 Satz 1 RVO gilt als Arbeitsunfall mit entsprechender Entschädigungspflicht auch eine BK. BKen sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO benannten Tätigkeiten erleidet. Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO „bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeit in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können”.
Nach den Ausführungen des LSG liegt beim Kläger eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule nicht nur in den Lendenwirbelsäulensegmenten L 1/L 2, L 2/L 3, sondern auch im Segment L 3/L 4 vor. Er hat auch berufsbedingt als Vulkaniseur sowie bei der Inspektion von Rettungsinseln und Schlauchbooten langjährig schwere Lasten gehoben oder getragen. Das LSG geht allerdings davon aus – wozu es in seiner Begründung außer dem Bezug auf die vorgezogene Rente an genauen Ausführungen und Feststellungen fehlt – daß dies auch zur Aufgabe der beruflichen lendenwirbelsäulenbelastenden Tätigkeit führte. Es mangelt aber vor allem an der entscheidungserheblichen Feststellung des LSG, ob zwischen der langjährigen wirbelsäulengefährdenden Tätigkeit des Klägers und den bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule ein Kausalzusammenhang besteht. Für das Vorliegen einer BK ist – wie beim Arbeitsunfall – ein doppelter ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits (haftungsbegründende Kausalität) und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung andererseits (haftungsausfüllende Kausalität) erforderlich. Dabei reicht sowohl für die Bejahung der haftungsbegründenden als auch der haftungsausfüllenden Kausalität die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl BSGE 45, 285, 286; 58, 76, 79; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 480m mwN). Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so daß darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann (BSGE 45, 285, 286). Hinsichtlich der Frage des ursächlichen Zusammenhangs führt das LSG zwar zunächst aus, „der Senat folgt der Beurteilung dieser Sachverständigen (gemeint sind Dr. S. … und Dr. P. …) darin, daß auf der Grundlage der Definition der BK Nr 2108 die Voraussetzung der Verursachung durch die langjährige schwere Hebe- und Tragebelastung des Klägers in seiner beruflichen Tätigkeit erfüllt sind.” Aus den weiteren Ausführungen im angefochtenen Urteil ergibt sich aber, daß das LSG bei der Beurteilung der Kausalität offenbar aufgrund abweichender, bei der Anwendung der BK Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO nicht anerkannter Beweisgrundsätze zu diesem Ergebnis gelangt ist. Denn das LSG führt aus, „wenn das klinische Bild einer solchen BK vorliegt und auch von einer entsprechenden beruflichen Belastung auszugehen ist, ist als wahrscheinlich auszugehen, daß das erste auf letztere zurückzuführen ist.” Das LSG definiert „diese an die Grenze einer Beweiserleichterung stoßende Beurteilungsweise” nicht näher. Im Ergebnis bedeutet dies aber, daß das LSG zu seiner Einschätzung zwar nicht – wie die Revision meint – durch eine Umkehr der Beweislast, sondern eines Anscheinsbeweises (vgl Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl 1997, III RdNr 28; Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 5. Aufl 1993, § 128 RdNr 9) gekommen ist. Die Grundsätze des prima-facie-Beweises gelten zwar grundsätzlich auch im sozialgerichtlichen Verfahren (Krasney/Udsching, aaO; Meyer-Ladewig, aaO mwN). Die Rechtsprechung des BSG hat deshalb auch bei der Feststellung des Kausalzusammenhangs bei BKen den Anscheinsbeweis nicht ausgeschlossen. Für die als BK anzuerkennenden Meniskusschäden idF der Nr 26 der Anlage zur 5. BKVO vom 26. Juli 1952 „Meniskusschäden bei Bergleuten nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit Untertage”) bzw der Nr 42 der Anlage zur 6. BKVO vom 28. April 1961 „Meniskusschäden nach mindestens dreijähriger regelmäßiger Tätigkeit Untertage”) hat das BSG die Anwendung der Grundsätze über den Anscheinsbeweis befürwortet. Ein Beweis des ersten Anscheins für das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs zwischen versicherter Tätigkeit und schädigender Einwirkung war insoweit hiernach gegeben, wenn der Versicherte während seiner Untertagetätigkeit mindestens drei Jahre regelmäßig irgendeine Tätigkeit in hockender, knieender oder liegender Körperhaltung verrichtet oder in schräger Lage in niedrigen (geringmächtigen) Flözen gearbeitet hat (BSGE 8, 245, 247; BSG Urteil vom 21. Februar 1980 – 5 RKnU 4/79 –, MesoB 240/79 S 563; BSG SozR 5677 Anlage 1 Nr 42 Nr 1 S 2 und BSG SozR 5670 Anlage 1 Nr 2102 Nr 2 S 2). Diese Rechtsprechung stützte sich nicht allein auf das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale der jeweiligen BK in der Anlage 1 zur BKVO, sondern auf entsprechende gesicherte Erfahrungsgrundsätze, die es rechtfertigten, bei einem typischen Geschehensablauf die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins anzuwenden. Hinsichtlich der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO sind aber derartige gesicherte medizinische Erfahrungssätze aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht ersichtlich. Allein aus dem Umstand, daß beim Kläger, wie vom LSG festgestellt, die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK der Nr 2108 erfüllt sind, kann nicht schon auf das Vorliegen eines Anscheinsbeweises zugunsten des ursächlichen Zusammenhangs eines Lendenwirbelsäulenschadens mit schädigenden Einwirkungen bei der versicherten Tätigkeit geschlossen werden. Entsprechend hat bereits das BSG bei der BK „Meniskusschäden nach … Tätigkeiten Untertage” für die Anwendung des Anscheinsbeweises nicht die reine Untertage-Tätigkeit genügen lassen, da insoweit vielfältige Einsatzmöglichkeiten ohne die insoweit vorausgesetzte statische Kniebelastung denkbar sind. Auch dann, wenn nach § 551 Abs 1 Satz 2 RVO in die BK-Liste nur solche Krankheiten aufgenommen werden dürfen, „die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind”, kann dies nicht die Feststellung im Einzelfall ersetzen, daß der Versicherte diese Krankheit „bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten” erlitten hat (§ 1 BKVO). Die Prüfung der Kausalität darf zwar nicht dazu führen, auf diesem Wege die Entscheidungen des Verordnungsgebers zu korrigieren, Lendenwirbelsäulenschäden in die Liste der BKen aufzunehmen. Denn die Aufnahme oder Nichtaufnahme von Krankheiten in die Liste der BKen unterliegt als Rechtssetzungsakt nur in begrenztem Rahmen der gerichtlichen Nachprüfung dahingehend, ob das Ermessen pflichtgemäß dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt worden ist. Mit der Aufnahme einer Krankheit in die BK-Liste wird die Ursächlichkeit einer beruflichen Schädigung generell anerkannt und die Erkrankung als solche für entschädigungswürdig befunden. Davon zu unterscheiden ist aber die Verursachung der Krankheit durch die gefährdende Tätigkeit im konkreten Einzelfall. Insoweit bedarf es tatsächlicher Feststellungen, ob die Tatbestandsmerkmale der – hier – BK Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO einen entsprechenden Anscheinsbeweis rechtfertigen oder ob sich aus dem Vorliegen anderer bei diesen Erkrankungen auftretenden Erscheinungen ein Anscheinsbeweis ergeben kann.
Im Zusammenhang mit der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO sind zahlreiche Zweifelsfragen entstanden, worauf das LSG zutreffend hinweist. Die Regelung dieser BK ist damit zwar auslegungsbedürftig. Auch gibt es in der Praxis durchaus zum Teil erhebliche Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten. Diese Umstände rechtfertigen es aber allein nicht, vorliegend die Grundsätze des Beweises des ersten Anscheins anzuwenden. Dabei ist im Hinblick auf die Ausführungen des LSG auf Seite 11 seiner Entscheidungsgründe zu beachten, daß der Kausalzusammenhang zwischen der in der Nr 2108 aufgeführten BK und der Erkrankung des Klägers nicht deshalb ausgeschlossen wäre, wenn nicht nur die berufliche Tätigkeit des Klägers, sondern auch anlagebedingte Gegebenheiten eine wesentliche Bedingung der Erkrankung bilden würden. Bei der umfassenden Würdigung aller erhebbaren Befunde mit anderen beweiserheblichen Tatsachen hat das LSG im Rahmen seiner freien richterlichen Beweiswürdigung zu entscheiden, ob die versicherte Tätigkeit unter den Voraussetzungen der Nr 2108 der Anlage 1 zur BKVO eine wesentliche Bedingung der BK ist. Dabei ist das LSG hinsichtlich der Anwendung des Beweises des ersten Anscheins lediglich gehindert, dessen Vorliegen allein aus den Tatbestandsmerkmalen der Nr 2108 abzuleiten, ohne daß entsprechende wissenschaftliche Erkenntnisse dies rechtfertigen.
Zwar mag die Aufstellung von Erfahrungssätzen, die geeignet sind, einen Anscheinsbeweis zugrunde zu legen, als Feststellung genereller Tatsachen „legislative facts”) auch in der Revisionsinstanz vorgenommen werden können (vgl Rauscher, SGb 1986, 45, 47 ff sowie zB – jeweils zu Promille-Grenzen im Strafrecht – BGH, Urteil vom 22. November 1990, BGHSt 37, 231, 234; BGH, Urteil vom 28. Juni 1990, BGHSt 37, 89; BGH, Urteil vom 9. Dezember 1966, BGHSt 21, 157, 159; zur Pflicht der Tatsacheninstanzen, vom Revisionsgericht aufgestellte technische Erfahrungssätze zu überprüfen: BGH, Urteil vom 27. Oktober 1981, NJW 1982, 1049, 1050). Die hierfür erforderlichen Ermittlungen sind im vorliegenden Fall jedoch im Hinblick auf die Komplexität der Krankheitsbilder und ihrer Ursachen untunlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Denn es besteht die Möglichkeit, den vorliegenden Fall bereits auf der Grundlage der Theorie der wesentlichen Bedingung ohne Inanspruchnahme des Beweises des ersten Anscheins zu lösen.
Unter diesen Umständen kann im Revisionsverfahren dahinstehen, ob die von der Beklagten des weiteren geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen und zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils führen würden.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 1173578 |
SGb 1999, 39 |