Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 18.10.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Oktober 1990 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs berechtigt ist, freiwillige Beiträge nachzuentrichten. Die Beklagte verneinte dies mit Bescheid vom 23. Januar 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1989. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Speyer (SG) durch Urteil vom 26. Juni 1990 abgewiesen. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz (LSG) hat die Berufung des Klägers auf die mündliche Verhandlung vom 18. Oktober 1990 durch Urteil zurückgewiesen. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hatte den Empfang der Terminsmitteilung für den 18. Oktober 1990 durch Empfangsbekenntnis vom 17. Oktober 1990 bestätigt. Der Kläger war im Termin zur mündlichen Verhandlung am 18. Oktober 1990 weder anwesend noch vertreten.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung des rechtlichen Gehörs im Berufungsverfahren.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Oktober 1990, das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 26. Juni 1990 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juni 1989 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit vom 1. August 1984 bis zum 10. Mai 1987 zuzulassen.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Das Verfahren des Berufungsgerichts leidet an einem wesentlichen Mangel, den das Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen hat. Dem LSG lag über die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 18. Oktober 1990 nur ein mit “i.A. Stockmeier” unterzeichnetes Empfangsbekenntnis vor, mit dem ein Empfang der Ladung am 17. Oktober 1990 bestätigt worden ist. Daraufhin durfte das LSG nicht am folgenden Tag aufgrund einseitiger mündlicher Verhandlung den Rechtsstreit durch Urteil entscheiden.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat zwischen Verfahrensmängeln zu unterscheiden, die es von Amts wegen zu berücksichtigen hat, und solchen, die nur auf eine entsprechende Rüge hin beachtet werden dürfen. Von Amts wegen ist bei einer zulässigen Revision ein Verfahrensmangel zu berücksichtigen, wenn es sich um einen in der Revisionsinstanz fortwirkenden Verstoß gegen einen verfahrensrechtlichen Grundsatz handelt, der im öffentlichen Interesse zu beachten ist und bei dem es nicht dem Belieben der Beteiligten überlassen bleiben kann, ob er beachtet wird oder nicht (vgl BSGE 67, 190, 191 = SozR 3-2200 § 1248 Nr 2 mwN).

Für die Ladung zum Termin zur mündlichen Verhandlung, die nach § 63 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zuzustellen ist, hat das LSG die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis gewählt (§ 63 Abs 2 SGG iVm § 5 Abs 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes ≪VwZG≫). Hier kann unentschieden bleiben, ob ein Mangel schon darin zu erblicken ist, daß der Prozeßbevollmächtigte des Klägers das Empfangsbekenntnis nicht mit seiner Unterschrift versehen hat, wie das im letzten Halbsatz des § 5 Abs 2 VwZG vorgeschrieben ist. Auch bei einer etwaigen Heilung eines solchen Zustellungsmangels nach § 9 Abs 1 VwZG ist nicht nachgewiesen, daß der Bevollmächtigte des Klägers die Ladung vor dem 17. Oktober 1990, dem Tag vor der mündlichen Verhandlung, erhalten hat. Zu den Verfahrensmängeln, die die Wirksamkeit des Verfahrens als Ganzes berühren und vom BSG von Amts wegen zu berücksichtigen sind, gehört unabhängig von Zustellungsmängeln die nicht ordnungsgemäße Ladung eines Beteiligten zur mündlichen Verhandlung einen Tag vorher. Insoweit bedarf es somit keiner Rüge durch den Revisionskläger.

Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden regelmäßig aufgrund mündlicher Verhandlung (§ 124 Abs 1 SGG). Diese ist gewissermaßen das “Kernstück” des gerichtlichen Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫; § 62 SGG) zu genügen und den Streitstoff erschöpfend mit ihnen zu erörtern (so BSGE 44, 292 f = SozR 1500 § 124 Nr 2 mwN). Wie der 7. Senat des BSG in seinem Beschluß vom 28. August 1991 (in SozR 3-1500 § 160a Nr 4 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ≪BVerwG≫) ausgeführt hat, genügt das Gericht den Anforderungen des sozialgerichtlichen Verfahrens und dem Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es die mündliche Verhandlung anberaumt, den Beteiligten bzw seinen Prozeßbevollmächtigten ordnungsgemäß lädt und die mündliche Verhandlung zum festgesetzten Zeitpunkt eröffnet. Da dem Beteiligten mit der ordnungsgemäßen Ladung Gelegenheit zur Äußerung in der mündlichen Verhandlung gegeben wird, räumt das Gesetz dem Gericht die Möglichkeit ein, wenn keiner der Beteiligten erscheint oder wenn erschienene Beteiligte beim Ausbleiben anderer das beantragen, nach Lage der Akten zu entscheiden (§ 126 SGG). Statt dessen kann auch die mündliche Verhandlung durchgeführt und aufgrund dieser “einseitigen” Verhandlung entschieden werden.

Das geschilderte Verfahren beim Ausbleiben eines Beteiligten setzt jedoch seine ordnungsgemäße Ladung voraus, ohne die – abgesehen von einer Heilung oder dem Verzicht auf die Rüge von Mängeln – das Gericht die jeweilige Instanz nicht durch Urteil beenden darf. Nach § 110 Abs 1 Satz 1 SGG sind Ort und Zeit der mündlichen Verhandlung den Beteiligten in der Regel zwei Wochen vorher mitzuteilen. Die Verletzung dieser Ordnungsvorschrift begründet für sich allein noch keinen wesentlichen Mangel des Verfahrens (vgl BSG in SozR Nr 7 zu § 110 SGG). Über § 202 SGG ist im sozialgerichtlichen Verfahren jedoch auch § 217 der Zivilprozeßordnung (ZPO), wonach die Ladungsfrist mindestens drei Tage beträgt, anzuwenden (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl, § 110 Anm 3). Folge der nicht ordnungsgemäßen, insbesondere nicht rechtzeitigen Ladung ist im zivilgerichtlichen Verfahren, daß der Antrag auf Erlaß eines Versäumnisurteils oder einer Entscheidung nach Lage der Akten zurückzuweisen ist (§ 335 Abs 1 Nr 2 ZPO). Diese Regelung ist entsprechend auf das sozialgerichtliche Verfahren zu übertragen.

Da der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht erschienen ist und nicht vertreten war, hätte einem Antrag des erschienenen Beteiligten, gem § 126 SGG nach Lage der Akten zu entscheiden, wegen der nicht eingehaltenen Ladungsfrist des § 217 ZPO nicht entsprochen werden dürfen. Dann aber war es dem LSG auch nicht gestattet, aufgrund “einseitige” mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Ein solches Verfahren tritt im sozialgerichtlichen Rechtsstreit an die Stelle des dort nicht vorgesehenen Versäumnisurteils. Bei nicht ordnungsgemäßer Ladung zur mündlichen Verhandlung darf das Gericht weder nach Lage der Akten noch nach einseitiger mündlicher Verhandlung entscheiden. Insoweit besteht kein Unterschied und keine Wahlmöglichkeit. Das Berufungsgericht durfte folglich nicht die ordnungsgemäße Ladung des Klägers feststellen; es mußte vielmehr von sich aus und ohne ausdrücklichen Antrag den Rechtsstreit vertagen.

Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und der Rechtsstreit gem § 170 Abs 2 SGG an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI780360

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