Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Rücknahmestreit über Beendigung eines Klageverfahrens (hier: durch Klagerücknahmefiktion). Zulassungsbedürftigkeit der Berufung. Revision ohne Sachantrag. Zulässigkeit. Prozessentscheidung des Berufungsgerichts
Leitsatz (amtlich)
Eine Berufung ist bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auch dann zulassungsbedürftig, wenn im sogenannten Rücknahme- oder Erledigungsstreit darüber gestritten wird, ob das Verfahren (hier: durch Klagerücknahmefiktion) beendet ist.
Orientierungssatz
Im Falle einer Prozessentscheidung des Berufungsgerichts fehlt es regelmäßig an den für eine Sachentscheidung notwendigen Feststellungen. In dieser Konstellation kann dem Revisionsführer nicht entgegengehalten werden, dass er keinen Sachantrag gestellt hat (vgl BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R = BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 14), denn ihm geht es nicht um eine Aufhebung und Zurückweisung "um ihrer selbst willen" (vgl BGH vom 31.5.1995 - XII ZR 196/94 = NJW-RR 1995, 1155 zur Berufung ohne Sachantrag), sondern um die Erlangung einer Sachentscheidung des Berufungsgerichts nach Zurückverweisung und letztlich die Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 102 Abs. 1-2, 3 Sätze 1-2, § 105 Abs. 1 S. 3, Abs. 2, § 160; GG Art. 19 Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juli 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Das Revisionsverfahren betrifft die Frage, ob im Rücknahmestreit nach einer Klagerücknahmefiktion die Zulässigkeit der Berufung den Beschränkungen des § 144 Abs 1 SGG unterliegt.
Der Kläger beantragte am 5.7.2016 beim Beklagten die Weiterbewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II und machte dabei als Kosten der Unterkunft und Heizung (KdU) einen monatlichen Betrag von 363,67 Euro geltend. Der Beklagte bewilligte ihm vorläufig Leistungen für Juli bis Dezember 2016 (Bescheid vom 16.9.2016; Widerspruchsbescheid vom 5.12.2016), unter anderem Leistungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 314,30 Euro (Juli und August 2016) bzw monatlich 340,30 Euro (September bis Dezember 2016).
Der Kläger hat beim SG Klage erhoben mit dem Ziel der Verurteilung des Beklagten zur Gewährung der KdU in tatsächlicher Höhe (Differenz zum bewilligten Betrag insgesamt: 192,22 Euro). Nach vorheriger Betreibensaufforderung hat das SG den Beteiligten mit Verfügung vom 29.8.2017 mitgeteilt, dass die Klage als zurückgenommen gelte, weil der Bevollmächtigte des Klägers das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben habe.
Am 2.10.2017 hat der Kläger die "Wiederaufnahme" und Fortführung des Verfahrens beantragt. Das SG hat daraufhin festgestellt, dass das ursprüngliche Verfahren durch fingierte Klagerücknahme erledigt sei (Gerichtsbescheid vom 2.1.2018). Das SG hat in den Entscheidungsgründen ausgeführt, dass die Berufung nicht ausgeschlossen sei, selbst wenn sie im ursprünglichen Verfahren nicht zulassungsfrei gewesen wäre. Im Rücknahmestreit sei nur streitgegenständlich, ob sich das ursprüngliche Verfahren durch Klagerücknahme erledigt habe. Dies stelle keinen bezifferbaren Wert des Beschwerdegegenstandes iS des § 144 Abs 1 Satz 1 SGG dar. Der Gerichtsbescheid hat über das Rechtsmittel der Berufung belehrt.
Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen (Urteil vom 9.7.2019). Auch der Rücknahmestreit unterliege den Beschränkungen des § 144 Abs 1 SGG. Der Wert des Beschwerdegegenstandes entspreche dem "Gegenstandswert" des ursprünglichen Verfahrens, der 192,22 Euro betragen habe. Die Berufung sei weder vom SG noch vom LSG zugelassen worden.
Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 143 SGG. Das LSG habe den Ausnahmetatbestand des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG zu Unrecht für einschlägig gehalten. Es handele sich vorliegend nicht um eine vermögensrechtliche Streitigkeit im Sinne dieser Vorschrift, da alleine die Beendigung des Rechtsstreites Gegenstand des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides gewesen sei. Anders als im Fall der Untätigkeitsklage stünden Verfahrensrechte im Streit, die eine Entscheidung über den eigentlichen Streitgegenstand erst eröffneten. Da damit der Schutzbereich des Art 19 Abs 4 GG eröffnet sei, sei eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG über seinen Wortlaut hinaus auf Fälle der vorliegenden Art nicht gerechtfertigt. Die Möglichkeit einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung vermöge keinen ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Die Geltendmachung eines Verfahrensmangels unterliege besonderen formellen Anforderungen. Zudem werde die unberechtigte Annahme einer Klagerücknahmefiktion nicht von allen LSG als Verfahrensfehler angesehen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 9. Juli 2019 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG zu Recht als unzulässig verworfen. Die Berufung war unzulässig, weil sie der Zulassung bedurfte hätte, sie aber nicht zugelassen worden war.
1. Der Zulässigkeit der Revision steht nicht entgegen, dass der Kläger nur die Aufhebung des Urteils des LSG und die Zurückverweisung des Rechtsstreites an dieses Gericht beantragt hat, also keinen Sachantrag gestellt hat. Zwar mag es zweifelhaft sein, ob ein Revisionskläger für einen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag ein hinreichendes Rechtsschutzbedürfnis hat, wenn er einen Antrag stellen kann, der auf eine den Rechtsstreit abschließende Entscheidung des Revisionsgerichts gerichtet ist (BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 17; wohl generell für Unzulässigkeit eines bloßen Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrags Hauck in Hennig, SGG, § 164 RdNr 92, März 2019). In einem solchen Fall könnte der Rechtsstreit einfacher und prozessökonomischer zu einem Ende geführt werden (vgl BSG vom 29.9.1994 - 4 RA 52/93 - SozR 3-1500 § 164 Nr 6 S 10, juris RdNr 9 f). Für diese Bedenken ist aber kein Raum, wenn ein Verfahrensmangel des Berufungsverfahrens gerügt wird, der nur zur Folge haben kann, dass es zur Aufhebung und Zurückverweisung kommt, weil das Urteil des Berufungsgerichts kein geeigneter Gegenstand einer revisionsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung über ein Leistungsbegehren ist (vgl BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 17). So liegt der Fall hier, weil das LSG die Berufung als unzulässig verworfen hat. Zwar kann das Revisionsgericht auch nach einem Prozessurteil eine Sachentscheidung treffen, wenn sich die Klage bzw Berufung auch materiell-rechtlich ohne Weiteres als unbegründet erweist, weil dann eine Zurückverweisung überflüssig wäre (BSG vom 11.12.1963 - 5 RKn 39/62 - SozR Nr 30 zu § 51 SGG, juris RdNr 19; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 170 RdNr 5). Anders verhält es sich aber regelmäßig, wenn die berufungszurückweisende Prozessentscheidung des LSG zu Unrecht erfolgt wäre und sich auch aus materiell-rechtlichen Gründen nicht ohne Weiteres im Ergebnis als zutreffend erwiese. Denn im Falle einer Prozessentscheidung des Berufungsgerichts fehlt es regelmäßig an den für eine Sachentscheidung notwendigen Feststellungen (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 170 RdNr 7a). In dieser Konstellation kann dem Kläger nicht entgegengehalten werden, dass er keinen Sachantrag gestellt hat (vgl BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 14). Ihm geht es nicht um eine Aufhebung und Zurückweisung "um ihrer selbst willen" (vgl BGH vom 31.5.1995 - XII ZR 196/94 - NJW-RR 1995, 1155 zur Berufung ohne Sachantrag), sondern um die Erlangung einer Sachentscheidung des Berufungsgerichts nach Zurückverweisung und letztlich die Fortführung des erstinstanzlichen Verfahrens.
2. Die Berufung des Klägers bedurfte nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung. Diese Norm greift auch dann ein, wenn (vorab) über die Erledigung des Rechtsstreites zu befinden ist. Die Voraussetzungen einer nach Maßgabe des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG nicht zulassungsbedürftigen Berufung liegen nicht vor.
a) Gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch den Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs 1 Satz 2 SGG). § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG gilt gemäß § 105 Abs 1 Satz 3, Abs 2 SGG entsprechend, wenn das SG - wie hier - durch Gerichtsbescheid entschieden hat (Littmann in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl 2017, § 144 RdNr 3; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 144 RdNr 8; Wehrhahn in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 144 RdNr 4).
Die durch § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG normierte Zulassungsbedürftigkeit knüpft an das materielle Begehren des Berufungsklägers an, also das ursprüngliche Klageziel (BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 12), soweit dieses im Berufungsverfahren noch verfolgt wird (vgl BSG vom 5.8.2015 - B 4 AS 17/15 B - juris RdNr 6 mwN); maßgeblich ist der Zeitpunkt der Berufungseinlegung (BSG vom 8.10.1981 - 7 RAr 72/80 - SozR 1500 § 144 Nr 18, juris RdNr 16 mwN; BSG vom 23.2.2011 - B 11 AL 15/10 R - SozR 4-3250 § 51 Nr 2 RdNr 13). Unerheblich ist demgegenüber, ob das SG eine Entscheidung in der Sache getroffen hat. So steht außer Zweifel, dass § 144 Abs 1 SGG auch dann eingreift, wenn das SG eine Klage als unzulässig abgewiesen hat (BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 12; so zu §§ 144 bis 149 SGG aF bereits BSG vom 17.3.1972 - 7 RAr 6/70 - SozR Nr 11 zu § 147 SGG, juris RdNr 14; vgl auch BSG vom 9.4.2014 - B 14 AS 46/13 R - BSGE 115, 288 = SozR 4-1500 § 87 Nr 2, RdNr 8 f). Die Regelungen über die Berufung in den §§ 143 ff SGG differenzieren nicht danach, ob das SG eine Prozessentscheidung oder eine Sachentscheidung getroffen hat. Sinn und Zweck des § 144 Abs 1 SGG, den Rechtszug in Streitigkeiten, denen der Gesetzgeber geringere Bedeutung für die Beteiligten beigemessen hat, grundsätzlich auf eine Instanz zu beschränken, gelten auch für Fälle, in denen eine Klage aus prozessualen Gründen als unzulässig abgewiesen worden ist; die Bedeutung der Sache wird dadurch nicht erhöht (so zu §§ 144 bis 149 SGG aF bereits BSG vom 17.3.1972 - 7 RAr 6/70 - SozR Nr 11 zu § 147 SGG, juris RdNr 14). Dem Erfordernis, prozessuale Fehlentscheidungen korrigierbar zu machen, hat der Gesetzgeber durch § 144 Abs 2 Nr 3, § 145 SGG Rechnung getragen.
Ebenso ist in der Rechtsprechung des BSG anerkannt, dass § 144 Abs 1 Satz 1 SGG auch dann einschlägig ist, wenn Gegenstand des Berufungsverfahrens eine Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) ist (BSG vom 6.10.2011 - B 9 SB 45/11 B - SozR 4-1500 § 144 Nr 7 RdNr 10 ff; BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 13; ebenso Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 144 RdNr 13; aA Knittel in Hennig, SGG, § 144 RdNr 11a, Oktober 2017; aA wohl auch Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 144 RdNr 9b), obwohl auch in diesem Fall nicht über das materielle Begehren, sondern nur über den Anspruch auf Bescheidung als solchen zu entscheiden ist (vgl dazu BSG vom 18.5.2011 - B 3 P 5/10 R - SozR 4-3300 § 71 Nr 2 RdNr 23; BSG vom 16.10.2014 - B 13 R 282/14 B - juris RdNr 6 mwN; BSG vom 28.10.2015 - B 6 KA 20/15 B - juris RdNr 5).
Nicht anders verhält es sich, wenn - wie hier - im sog Rücknahme- oder Erledigungsstreit darüber gestritten wird, ob das Verfahren bereits beendet ist (so ohne Einschränkung bereits BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 12 im Fall der Erledigung durch Annahme eines Anerkenntnisses im Anschluss an Bienert, NZS 2017, 727, 729 mwN; siehe für die Erledigung durch Klagerücknahmefiktion die Nachweise zum Streitstand bei Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 102 RdNr 99 bis 99.8).
Hat das SG den Beteiligten (ebenso wie im Fall der nicht bloß fingierten, sondern tatsächlichen Klagerücknahme) formlos (Umkehrschluss zu § 102 Abs 3 Satz 1 SGG; vgl Müller in Roos/ Wahrendorf, SGG, 2014, § 102 RdNr 28; anders im Fall der Berufungsrücknahmefiktion: § 156 Abs 2 Satz 3 SGG) mitgeteilt, dass die Klage "erledigt" ist, zurückgenommen worden ist oder als zurückgenommen gilt, ist der Kläger darauf verwiesen, einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens zu stellen (vgl zu § 92 Abs 2 Satz 1 VwGO BVerfG ≪Kammer≫ vom 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 - juris RdNr 8; BVerfG ≪Kammer≫ vom 28.4.2003 - 1 BvR 625/03 - juris RdNr 3; BVerfG ≪Kammer≫ vom 17.9.2016 - 1 BvR 661/13 - juris RdNr 8; zur Rücknahmefiktion nach § 81 Satz 1 AsylG etwa BVerfG ≪Kammer≫ vom 5.3.2019 - 2 BvR 12/19 - juris RdNr 16 ff). Eine Beschwerde gegen einen gemäß § 102 Abs 3 Satz 1 SGG ohnehin nur auf Antrag zu erlassenden deklaratorischen Einstellungsbeschluss ist durch § 102 Abs 3 Satz 2 SGG ausgeschlossen und daher kein Mittel, die Fortsetzung des Verfahrens zu erzwingen.
Stellt der Kläger einen Antrag auf Fortsetzung des Verfahrens, führt das SG das Verfahren entweder in der Sache fort oder stellt durch Urteil oder Gerichtsbescheid fest, dass das Verfahren erledigt ist (vgl BVerfG ≪Kammer≫ vom 13.7.1998 - 1 BvR 666/98 - juris RdNr 8; BVerwG vom 23.4.1985 - 9 C 48/84 - BVerwGE 71, 213, 215 = Buchholz 402.25 § 33 AsylVfg Nr 3, juris RdNr 14). Gegen die feststellende Entscheidung des SG, dass die Klage als zurückgenommen gilt, ist das Rechtsmittel statthaft, das auch gegen eine Entscheidung in der Sache selbst einzulegen wäre (vgl zu § 33 AsylVfG BVerwG vom 23.8.1984 - 9 CB 48/84 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr 2, juris RdNr 3).
Selbst wenn Gegenstand des Berufungsverfahrens dann nur die Frage ist, ob das Klageverfahren erledigt ist (so etwa Groth in Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, Kap VIII, 7. Aufl 2016, RdNr 8a; offengelassen von BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 12; siehe zum Streitstand die Nachweise bei Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 102 RdNr 100 ff), unterliegt die Berufung der Zulassungsbedürftigkeit nach Maßgabe des § 144 Abs 1 SGG. Denn nach den oben dargelegten Maßstäben kommt es nicht darauf an, ob lediglich eine prozessrechtliche Entscheidung getroffen oder ob in der Sache entschieden wurde.
Für einen engeren Anwendungsbereich des § 144 Abs 1 SGG bietet bereits dessen Wortlaut keinen Anhaltspunkt. Es ist auch kein tragfähiger Grund ersichtlich, warum etwa die Berufung gegen eine Klageabweisung als unzulässig aufgrund mangelnden Rechtsschutzbedürfnisses (zum Rechtsschutzbedürfnis als Sachurteilsvoraussetzung vgl BVerfG vom 5.12.2001 - 2 BvR 527/99 - BVerfGE 104, 220, 232, juris RdNr 34) den Beschränkungen des § 144 Abs 1 SGG unterliegt, aber die Berufung gegen die erstinstanzliche Feststellung des Eintritts der Klagerücknahmefiktion aufgrund fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses oder Rechtsschutzinteresses, auf dem das Instrument der Klagerücknahmefiktion beruht (BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 20; hierzu auch Burkiczak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2017, § 102 RdNr 54; zur Berufungsrücknahmefiktion nach § 156 Abs 2 SGG BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 105/16 B - SozR 4-1500 § 156 Nr 1 RdNr 6), hiervon befreit sein sollte. Auch bei der Feststellung, dass der Rechtsstreit erledigt ist, handelt es sich um eine Prozessentscheidung (BSG vom 4.4.2017 - B 4 AS 2/16 R - BSGE 123, 62 = SozR 4-1500 § 102 Nr 3, RdNr 14; ferner BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 12 unter Hinweis auf BGH vom 15.1.1985 - X ZR 16/83 - juris RdNr 13). Für die Beurteilung der Zulassungsbedürftigkeit der Berufung in einem Wiederaufnahmeverfahren, in dem die Interessenlage derjenigen im Rücknahmestreit ähnlich ist, ist § 144 Abs 1 SGG anzuwenden und auf den Streitwert des ursprünglichen Klageverfahrens abzustellen (BSG vom 4.2.2019 - B 8 SO 21/18 BH - juris RdNr 8; zu § 146 SGG aF vgl bereits BSG vom 13.4.1967 - 5 RKn 171/64 - SozR Nr 17 zu § 146 SGG, juris RdNr 17).
Ein anderes Verständnis würde im Übrigen auch dem Zweck des § 144 Abs 1 SGG nicht gerecht. Der Gesetzgeber wollte hierdurch - zuletzt durch die Anhebung der Streitwertgrenze in § 144 Abs 1 Nr 1 SGG auf 750 Euro mit Wirkung zum 1.4.2008 (Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008, BGBl I S 444) - eine Entlastung der Berufungsgerichte erreichen (Begründung des Gesetzentwurfes des Bundesrates für ein Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 27.9.1991, BT-Drucks 12/1217 S 51 f zu Nr 6; Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung für ein Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes, BT-Drucks 16/7716 S 21 zu Nr 24 Buchst b). Diese Zielrichtung würde konterkariert, wenn für Verfahren, in denen lediglich prozessuale Vorfragen zu klären sind, der Zugang zur Berufungsinstanz leichter möglich wäre, als wenn es auf die materielle Rechtslage ankäme.
Dies gilt in der Konstellation, in der über den Eintritt einer Klagerücknahmefiktion zu befinden ist, erst recht. Denn hier treffen zwei Regelungen, die die Entlastung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bezwecken sollen, aufeinander. Auch mit der Einführung der Klagerücknahmefiktion in das sozialgerichtliche Verfahren zum 1.4.2008 (Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008, BGBl I S 444) wollte der Gesetzgeber in Anknüpfung an entsprechende Regelungen aus dem Asylrecht (§ 81 AsylG, früher AsylVfG) und dem verwaltungsgerichtlichen Verfahrensrecht (§ 92 Abs 2 VwGO) eine Entlastung der Sozialgerichtsbarkeit und eine Straffung des sozialgerichtlichen Verfahrens erreichen (Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung auf BT-Drucks 16/7716 S 1, 14). Diese doppelte Entlastungsintention schließt es aus, gerade in den Fällen des § 102 Abs 2 SGG eine Ausnahme von § 144 Abs 1 SGG zu machen.
Dies ist auch mit Verfassungsrecht vereinbar. Art 19 Abs 4 Satz 1 GG gewährleistet keinen Instanzenzug (zuletzt BVerfG vom 18.6.2019 - 1 BvR 587/17 - juris RdNr 27 - zur Veröffentlichung in BVerfGE vorgesehen; siehe auch Ibler in Friauf/Höfling, Berliner Kommentar zum GG, Art 19 IV RdNr 191 mwN, Oktober 2002). Entsprechend ist der Gesetzgeber berechtigt, den Zugang zur Rechtsmittelinstanz an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen zu knüpfen (BVerfG vom 7.12.2010 - 1 BvR 2628/07 - BVerfGE 128, 90, 99 = SozR 4-1100 Art 14 Nr 23 RdNr 26). Vor diesem Hintergrund ist § 144 Abs 1 SGG nicht zu beanstanden. Zwar darf dann, wenn der Gesetzgeber ein Rechtsmittel vorsieht, der Zugang zur nächsten Instanz durch die Normanwendung durch die Gerichte nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (zuletzt BVerfG vom 18.6.2019 - 1 BvR 587/17 - juris RdNr 27 - zur Veröffentlichung in BVerfGE vorgesehen). Hierfür ist vorliegend aber nichts ersichtlich. Ein Konflikt mit Art 19 Abs 4 Satz 1 GG kann hier im Übrigen auch schon deswegen nicht eintreten, weil der von einer Klagerücknahmefiktion betroffene Kläger in jedem Fall Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung beim LSG erheben kann (§ 145 SGG). Käme das LSG zu dem Ergebnis, dass das SG zu Unrecht vom Eintritt der Klagerücknahmefiktion ausgegangen wäre, läge regelmäßig ein Verfahrensfehler iS von § 144 Abs 2 Nr 3 SGG vor, der zur Zulassung der Berufung führen müsste (vgl Knittel in Hennig, SGG, § 144 RdNr 11a, Oktober 2017).
b) Die Voraussetzungen einer nicht zulassungsbedürftigen Berufung nach § 144 Abs 1 SGG liegen nicht vor.
Die Klage betrifft einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt, nämlich den Bescheid des Beklagten vom 16.9.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5.12.2016, mit dem der Beklagte dem Kläger Geldleistungen (vgl § 11 Satz 1 SGB I, § 4 Abs 1 Nr 2 SGB II) nach dem SGB II gewährt hat. Die Klage zielte auf die Gewährung von weiteren Leistungen für KdU (zur Zulässigkeit der Begrenzung auf diesen Streitgegenstand vgl nur BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 40/15 R - SozR 4-1500 § 75 Nr 24 RdNr 16 mwN) in Höhe von 192,22 Euro und insofern auf eine Änderung der genannten Bescheide. Damit bedurfte die Berufung gemäß § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG der Zulassung. Da nur um Leistungen für sechs Monate gestritten wurde, greift auch § 144 Abs 1 Satz 2 SGG nicht ein.
Die Berufung ist nicht zugelassen worden. Die nach alledem zulassungsbedürftige Berufung haben weder das SG noch das LSG zugelassen. Dass das SG in seinem Gerichtsbescheid die Auffassung vertreten hat, die Berufung bedürfe nicht der Zulassung, und den Kläger daher über das Rechtsmittel der Berufung belehrt hat, ist nicht als gleichsam konkludente Zulassung der Berufung zu werten (vgl BSG vom 6.10.2011 - B 9 SB 45/11 B - SozR 4-1500 § 144 Nr 7 RdNr 12; BSG vom 10.10.2017 - B 12 KR 3/16 R - juris RdNr 17). Im Gegenteil hat das SG durch seine Ausführungen gerade zum Ausdruck gebracht, dass es der Auffassung ist, dass die Berufung nicht zulassungsbedürftig sei.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen
SGb 2020, 364 |
SGb 2021, 50 |
Breith. 2021, 354 |
info-also 2020, 235 |