Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz bei Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit um mehr als 2 Stunden:. Schüler-Unfallversicherung bei der Verrichtung von Schulaufgaben sowie auf Wegen zu oder von der Schule
Leitsatz (amtlich)
1. Die Teilnahme eines Schülers an der von einem italienischen Konsulat organisierten und einer von diesem Konsulat gestellten Lehrkraft nach Beendigung des Unterrichts in Räumen der allgemeinbildenden Schule durchgeführten Hausaufgabenbetreuung ist keine dem Unfallversicherungsschutz unterliegende Tätigkeit des Schülers.
2. Der durch die Teilnahme an der Hausaufgabenbetreuung um mehr als zwei Stunden verzögerte Antritt des Weges von der Schule nach Hause hat zum Verlust des durch den vorangegangenen Besuch der allgemeinbildenden Schule begründeten Versicherungsschutzes des Schülers geführt.
Leitsatz (redaktionell)
Der Versicherungsschutz im Rahmen der Schüler-Unfallversicherung erstreckt sich grundsätzlich auf solche Verrichtungen, die im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang sowie im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule stehen.
Orientierungssatz
Ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der Tätigkeit um mehr als 2 Stunden durch eine eigenwirtschaftlichen Zwecken dienende Verrichtung unterbrochen hat, steht auf dem anschließenden restlichen Weg im allgemeinen nicht mehr unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl BSG 1979-12-18 2 RU 53/78 = SozR 2200 § 550 Nr 42). Fälle, in denen auch bei Überschreitung der Zeitdauer von 2 Stunden der Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit anzunehmen wäre, sind nur durch besondere Umstände gekennzeichnete Ausnahmen beschränkt.
Normenkette
RVO § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. b Fassung: 1971-03-18, § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 27.10.1982; Aktenzeichen S 24 U 329/81) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte dem Kläger wegen des Unfalls des Schülers P. D. L. (geb. 21. Juni 1969) nach § 1509 a Reichsversicherungsordnung (RVO) Ersatz zu leisten hat. Der Vater des Schülers ist bei der Beklagten für den Fall der Krankheit versichert.
Der Schüler P. D. L. besuchte eine Grund- und Teilhauptschule in N.. Am 4. Mai 1979 endete für ihn der um 8.00 Uhr begonnene Unterricht um 13.00 Uhr. Anschließend nahm er in der Schule bis 16.25 Uhr an einer Hausaufgabenbetreuung durch einen Lehrer des italienischen Konsulats teil. Die Räume dafür waren von der Schule zur Verfügung gestellt worden. Auf dem Weg nach Hause erlitt der Schüler gegen 17.00 Uhr einen Unfall, wobei er erheblich verletzt wurde. Die Kosten der Heilbehandlung (bis Mitte 1980 etwa 6.500,-- DM) trug der Kläger. Nachdem er aufgrund seiner Ermittlungen zu der Auffassung gelangt war, daß der Schüler keinen Arbeitsunfall erlitten hatte, lehnte er Entschädigungsansprüche des Schülers ab (Bescheid vom 25. Juni 1980) und forderte von der Beklagten nach § 1509 a RVO Ersatz. Die Beklagte lehnte dies ab.
Das Sozialgericht (SG) München hat eine Ersatzpflicht der Beklagten verneint und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Oktober 1982). Zur Begründung hat es ausgeführt, daß zwar die Teilnahme des Schülers an der Hausaufgabenbetreuung eine unversicherte Tätigkeit sei, der Versicherungsschutz für den Weg von der Schule nach Hause gleichwohl wieder aufgelebt sei, weil die Anfertigung von Hausaufgaben in einem engen Zusammenhang mit dem Besuch einer allgemeinbildenden Schule gestanden habe. Unter diesen Umständen habe die mehr als zwei Stunden dauernde Hausaufgabenbetreuung nicht zu einer endgültigen Lösung von der versicherten Tätigkeit, sondern nur zu einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes geführt. Der Schüler habe daher einen Arbeitsunfall erlitten, den der Kläger zu entschädigen habe. Er könne daher keinen Ersatz der bisher von ihm wegen des Unfalls aufgebrachten Leistungen von der Beklagten beanspruchen.
Das SG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat mit Zustimmung der Beklagten dieses Rechtsmittel eingelegt. Er trägt zur Begründung vor, daß nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) der Versicherungsschutz für den Weg von dem Ort der Tätigkeit nach Hause bei einem verzögerten Antritt oder einer Unterbrechung des Weges von mehr als zwei Stunden nicht wieder auflebe, sondern erloschen sei. Im vorliegenden Fall habe der Schüler durch die Teilnahme an der nicht versicherten Hausaufgabenbetreuung den Antritt des Weges von der Schule nach Hause um dreieinhalb Stunden verzögert. Der Unfall sei daher kein Arbeitsunfall gewesen, den er zu entschädigen habe. Sein Ersatzanspruch sei daher nach § 1509 a RVO begründet.
Der Kläger beantragt, das Urteil des SG München vom 27. Oktober 1982 aufzuheben und festzustellen, daß die Beklagte ihm zu ersetzen hat, was sie wegen des Unfalls des P. D. L. vom 4. Mai 1979 nach dem Recht der Krankenversicherung hätte leisten müssen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, daß der Versicherungsschutz für den Weg von dem Besuch der Schule nach Hause für den Schüler durch die dreieinhalb Stunden dauernde Teilnahme an der Hausaufgabenbetreuung lediglich unterbrochen worden sei. Denn das Verbleiben in der Schule zur Anfertigung von Hausaufgaben stehe in einem engen Zusammenhang mit dem Schulbesuch, wenngleich es sich dabei um eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit handele. Bei der Beantwortung der Frage, ob nur eine Unterbrechung oder eine Lösung vom Versicherungsschutz eingetreten sei, müsse berücksichtigt werden, daß die Hausaufgabenbetreuung in den Räumen der Schule stattgefunden und die Schulleitung diese Betreuung dankbar begrüßt habe und die pädagogische Maßnahme zwischen den Klassenlehrern der Schule und dem vom italienischen Konsulat gestellten Aufsichtspersonal abgesprochen gewesen sei. Das italienische Konsulat habe die Hausaufgabenbetreuung organisiert, und sie sei vom italienischen Schulverband CO.AS.SC.IT. getragen worden.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Hat der Träger der Unfallversicherung Leistungen gewährt und stellt sich nachträglich heraus, daß die Krankheit nicht Folge eines Arbeitsunfalls ist, so hat nach § 1509 a RVO die Krankenkasse das zu ersetzen, was sie nach dem Recht der Krankenversicherung hätte leisten müssen. Die Voraussetzungen für den Ersatzanspruch nach dieser Vorschrift liegen hier vor.
Der Schüler P. D. L. hat am 4. Mai 1979 keinen Arbeitsunfall erlitten. Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. P. D. L. gehörte zwar zu den nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO gegen Arbeitsunfall versicherten Schülern einer allgemeinbildenden Schule. Jedoch war seine Teilnahme an der Hausaufgabenbetreuung keine mit dem Besuch der allgemeinbildenden Schule zusammenhängende versicherte Tätigkeit.
Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß die Erledigung von Schulaufgaben im häuslichen Bereich nicht unter Versicherungsschutz steht (SozR 2200 § 539 Nr 54). Zur Begründung hat er darauf hingewiesen, daß sowohl nach dem Wortlaut des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO ("während des Besuchs") als auch nach der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift nicht von einem umfassenden Versicherungsschutz für Schüler ohne Rücksicht auf den organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule auszugehen ist (BT-Drucks VI/1333 S 4; BSGE 35, 207, 211; 41, 149, 150 f; 44, 94, 97; 51, 257, 259; BSG Urteil vom 29. April 1982 - 2 RU 49/80 - unveröffentlicht). Außerhalb des organisatorischen Verantwortungsbereichs der Schule sind Schüler grundsätzlich auch bei solchen Verrichtungen nicht gegen Arbeitsunfall versichert, die wesentlich durch den Schulbesuch bedingt sind und deshalb an sich mit ihm in einem ursächlichen Zusammenhang stehen (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl S 483 m).
Obwohl die Hausaufgabenbetreuung, an der der Schüler P. D. L. am Unfalltag teilnahm, in den Räumen der allgemeinbildenden Schule stattfand, dessen Unterricht der Schüler bis 13.00 Uhr besucht hatte, handelte es sich bei der Hausaufgabenbetreuung nicht um eine im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule liegende Veranstaltung. Nach den Feststellungen des SG war die Hausaufgabenbetreuung vom italienischen Konsulat organisiert und von einer von diesem Konsulat gestellten Lehrkraft durchgeführt worden. Zu Recht hat das SG daraus gefolgert, daß die Teilnahme des Schülers an der Hausaufgabenbetreuung eine unversicherte eigenwirtschaftliche Tätigkeit war.
Entgegen der Auffassung des SG stand der Schüler aber auch auf dem im Anschluß an die Hausaufgabenbetreuung zurückgelegten Weg von der Schule nach Hause nicht unter Versicherungsschutz. Denn die dem eigenwirtschaftlichen und damit unversicherten Bereich des Schülers zuzurechnende Teilnahme an der Hausaufgabenbetreuung von 13.00 Uhr bis 16.25 Uhr (rd dreieinhalb Stunden) hat nicht nur zu einer Unterbrechung, sondern zum endgültigen Verlust des durch den vorangegangenen Besuch einer allgemeinbildenden Schule - von 8.00 Uhr bis 13.00 Uhr - begründeten Versicherungsschutzes geführt. Nach der neueren, vom SG nur teilweise beachteten Rechtsprechung des erkennenden Senats (SozR 2200 § 550 Nr 12 und 42), der sich der damals noch für Angelegenheiten der Unfallversicherung zuständige 8. Senat des BSG angeschlossen hat (SozR 2200 § 550 Nr 27), steht ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der Tätigkeit um mehr als zwei Stunden durch eine eigenwirtschaftlichen Zwecken dienende Verrichtung unterbrochen hat, auf dem anschließenden restlichen Weg im allgemeinen nicht mehr unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die im Interesse der Rechtssicherheit den Zeitfaktor gegenüber früher stärker betonende neuere Rechtsprechung des Senats berücksichtigt, daß zwar im Grundsatz der Versicherungsschutz nach jeder Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder auflebt, sofern nicht aus der Dauer und der Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit geschlossen werden kann. Jedoch wird nunmehr im Rahmen einer bestimmten Zeitdauer vermieden, für die Beurteilung des Wiederauflebens des Versicherungsschutzes auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit zwischen den für die Unterbrechung in Betracht kommenden zahlreichen Gründen differenzieren zu müssen; zugleich wird auch ein von den Versicherten sicher zu beurteilendes Kriterium maßgebend, so daß sie im Regelfall zeitlich abschätzen können, bis wann sie nach einer privaten Zwecken dienenden Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder versichert sind. Andererseits werden dadurch Fälle, in denen auch bei Überschreitung der Zeitdauer von zwei Stunden der Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit anzunehmen wäre, auf nur durch besondere Umstände gekennzeichnete Ausnahmen beschränkt (vgl Brackmann aaO S 487 c). Was nach der Rechtsprechung für die Unterbrechung des bereits begonnenen Weges gilt, ist auch auf Fälle anzuwenden, in denen der Heimweg nach Beendigung der versicherten Tätigkeit aus Gründen, die nicht mit dieser Tätigkeit zusammenhängen, verzögert angetreten wird (BSG SozR Nr 7 zu § 543 RVO aF; SozR 2200 § 550 Nr 6 und 42, Breithaupt 1982, 569, 571).
Zu Unrecht hat das SG in der Anfertigung von Hausaufgaben einen Umstand gesehen, der geeignet war, den Versicherungsschutz trotz des um rd dreieinhalb Stunden verzögerten Antritt des Heimweges wieder aufleben zu lassen. Bei der Anfertigung von Hausaufgaben im Rahmen der Hausaufgabenbetreuung handelt es sich jedoch um einen jener privaten Gründe, die zwar noch einen Bezug zu der versicherten Tätigkeit haben (BSGE 41, 149, 151), denen aber nach der neueren Rechtsprechung des BSG für das Wiederaufleben des Versicherungsschutzes nach einem länger als zwei Stunden verzögerten Antritt des Weges von dem Ort der Tätigkeit gerade keine Bedeutung mehr zukommt. Zu berücksichtigen sind grundsätzlich nur solche Umstände, die erkennen lassen, daß der Versicherte sich bei Ablauf der Zeitdauer von zwei Stunden bemüht hat, die Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu beenden (BSG Breithaupt 1982, 569, 572). An solchen Umständen fehlt es jedoch im vorliegenden Fall.
Da sich erst, nachdem der Kläger begonnen hatte, Leistungen aus Anlaß des Unfalls des Schülers P. D. L. zu erbringen, durch weitere Ermittlungen herausgestellt hat, daß der Unfall kein Arbeitsunfall war, hat die Beklagte als der zuständige Krankenversicherungsträger dem Kläger das zu ersetzen, was sie nach dem Recht der Krankenversicherung für den Unfall des Schülers hätte leisten müssen.
Das Urteil des SG war daher aufzuheben und die Beklagte zu entsprechenden Leistungen zu verurteilen.
Eine Kostenentscheidung entfällt (§ 193 Abs 4 SGG).
Fundstellen
Haufe-Index 1658559 |
BSGE, 141 |