Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. November 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die 1936 geborene Klägerin begehrt die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Sie ist jugoslawische Staatsangehörige und wohnt in Serbien. Einen Beruf hat sie nicht erlernt. In ihrer Heimat hat sie Versicherungszeiten zwischen Juni 1951 und Januar 1970 zurückgelegt, außerdem von April 1983 bis Juni 1987 freiwillige Beiträge wegen Arbeitslosigkeit zur jugoslawischen Sozialversicherung entrichtet. In Deutschland war sie zwischen März 1972 und Juni 1981 als Arbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt auf einem Schlachthof; bei dieser Tätigkeit handelte es sich nach der Arbeitgeberauskunft um eine Anlerntätigkeit mit einer Einarbeitungszeit von drei bis vier Monaten.
Im April 1987 beantragte die Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab, weil die Klägerin unter Berücksichtigung ihres beruflichen Werdegangs noch leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig ausüben könne und daher weder BU noch EU vorliege (Bescheid vom 30. August 1988). Klage und Berufung der Klägerin blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Landshut ≪SG≫ vom 10. Januar 1992, Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 12. November 1992). Das LSG hat seine Entscheidung wie folgt begründet:
Die Berufung sei unbegründet. Unter Berücksichtigung der ärztlichen Befunde sei die Klägerin nicht berufsunfähig und damit auch nicht erwerbsunfähig. Sie leide an einigen noch nicht allzu ausgeprägten Gesundheitsstörungen. Die von ihr in den Vordergrund gestellten Wirbelsäulen- und Sprunggelenksbeschwerden ließen sich nur zum Teil objektivieren. Lediglich im Bereich der Halswirbelsäule seien geringe degenerative Veränderungen festzustellen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule hingegen sei die Beweglichkeit ebenso wie im linken Schultergelenk nur geringgradig eingeschränkt. Im Bereich des linken Sprunggelenks bestehe ein Schmerzsyndrom mit Bewegungseinschränkungen und geringer Weichteilschwellung. Der arterielle Bluthochdruck habe noch keine größeren Auswirkungen auf Herz und Kreislauf zur Folge, jedoch seien hierdurch die von ihr angegebenen Schwindelattacken zu erklären. Die rezidivierenden Zwölffingerdarmgeschwüre könnten zeitweilige Arbeitsunfähigkeit bedingen, hätten aber keine weiteren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen. Auf psychischem Gebiet leide die Klägerin an einem psychasthenischen Syndrom mit allenfalls subdepressiver Auslenkung der Stimmungslage und nicht wesentlich eingeschränkter affektiver Ausdrucksfülle. Bei den Angstzuständen mit vegetativen Begleiterscheinungen, wie Schweißneigung und Luftnot von ca einer Minute, handele es sich um Panikattacken, die durch medikamentöse Behandlung wesentlich gebessert werden könnten. Eine wesentliche Einschränkung der Erwerbsfähigkeit werde hierdurch nicht bedingt. In Anbetracht ihrer Gesundheitsstörungen dürfe die Klägerin keine körperlich schweren oder mittelschweren Tätigkeiten mit Zwangshaltung und Heben und Tragen von Lasten mehr ausüben. Insbesondere sei eine Überlastung und Dauerbelastung des linken Beines zu vermeiden. Tätigkeiten, die ausschließlich im Gehen oder Stehen ausgeübt würden, schieden ebenfalls aus. Auch Arbeiten unter Zeitdruck und Akkordarbeit seien nicht mehr möglich. Wegen der Schwindelattacken seien Tätigkeiten mit Absturzgefahr (zB auf Leitern und Gerüsten) zu vermeiden. Unter Beachtung dieser Einschränkungen sei die Klägerin aber noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Sie sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, da sie keinen Beruf erlernt habe und nur mit ungelernten bis angelernten Tätigkeiten im unteren Bereich beschäftigt gewesen sei. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder schwere spezifische Leistungsbehinderungen lägen nicht vor, so daß auch insoweit die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit nicht erforderlich sei. Vielmehr sei davon auszugehen, daß ihr zumutbare Tätigkeiten in ausreichendem Umfang vorhanden seien.
Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie der §§ 103, 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und trägt dazu vor: Wegen der Vielzahl der vorliegenden qualitativen Leistungseinschränkungen sei sie nicht mehr in der Lage, eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Selbst wenn man ihre bisherige Tätigkeit als ungelernt einstufe, sei die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich. Denn sie sei den typischen Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr gewachsen. Das LSG hätte sich deshalb gedrängt fühlen müssen, ein berufskundliches Gutachten einzuholen. Es sei nicht ersichtlich, welche leichten Tätigkeiten sie angesichts der vielfältigen Einschränkungen noch ausüben könne. Die Erwerbsfähigkeit einer Person sei konkret und individuell zu betrachten; eine abstrakte Resterwerbsfähigkeit genüge nicht.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 12. November 1992 und des SG Landshut vom 10. Januar 1992 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. August 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die bei der Klägerin vorliegenden Leistungseinschränkungen seien für sich allein betrachtet nicht besonders schwergewichtig und führten bei einer Gesamtbetrachtung auch nicht zu ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen. Eine konkrete Benennung von Verweisungstätigkeiten komme nicht in Betracht, weil die zusätzlichen Einschränkungen nicht so erheblich seien, daß von vornherein ernste Zweifel daran aufkämen, ob die Versicherte mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen noch in einem Betrieb einsetzbar sei.
Der erkennende Senat hat zu den Verhältnissen des allgemeinen Arbeitsmarktes – insbesondere soweit er für erheblich leistungsgeminderte Arbeiter in Betracht kommt – die Arbeitswissenschaftler Prof. Dr. F. … (Gesamthochschule Kassel – Universität –, Institut für Arbeitswissenschaft), Prof. Dr. L. … (Universität Hohenheim, Institut für Arbeitswissenschaft und Haushaltstechnologie), Dr. B. … sowie Dr. P. … (beide vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ≪IAB≫ der Bundesanstalt für Arbeit) schriftlich und – in der Sitzung vom 22. November 1994 – mündlich als Sachverständige angehört. Sodann hat er mit Beschluß vom 23. November 1994 dem Großen Senat (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) folgende Fragen vorgelegt:
- Ist für die Beurteilung, ob eine Versicherte der Gruppe mit dem Leitbild der angelernten Arbeiterin im unteren Bereich oder der Gruppe mit dem Leitbild der ungelernten Arbeiterin berufs- oder erwerbsunfähig ist, die konkrete Benennung von Verweisungstätigkeiten erforderlich, wenn sie ihren bisherigen Beruf nicht mehr ausüben und auch sonst nur noch körperlich leichte Arbeiten mit weiteren Einschränkungen verrichten kann?
- Sind die Fallgruppen, bei denen das BSG bisher die erhebliche Gefahr einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes angenommen hat, als abschließend anzusehen?
Der GS hat diese – von ihm teilweise anders gefaßten – Fragen durch Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 3/95 – verneint.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob die Klägerin berufs- oder erwerbsunfähig ist.
Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen BU oder EU richtet sich noch nach den §§ 1246, 1247 RVO, da der Rentenantrag bereits im April 1987 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).
Rente wegen EU, welche die Klägerin in erster Linie begehrt, erhält gemäß § 1247 Abs 1 RVO die Versicherte, die erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. EU liegt vor, wenn die Versicherte infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche ihrer körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 RVO).
Dabei ist die Klägerin zwar ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkung (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Ob sie jedoch mit ihren qualitativen Leistungseinschränkungen – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8), vermag der erkennende Senat auf der Grundlage dieser berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht zu beurteilen.
Nach der vom GS des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 3/95 – Umdr S 10 ff mwN) bestätigten ständigen Rechtsprechung des BSG ist einer Versicherten, die aus gesundheitlichen Gründen ihre bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die sie noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn die Versicherte – wie die Klägerin – zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei der Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob die Versicherte mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.
Im Hinblick darauf, daß der GS die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl den Vorlagebeschluß vom 23. November 1994) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.
Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit der Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (GS 1-4/95) hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).
Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt der Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.
„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einer Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf deren betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit der Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der GS in seinem Beschluß vom 19. Dezember 1996 (GS 3/95 Umdr S 19) vorausgesetzt hat.
Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.
Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.
Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.
Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit verneinen zu können. Das LSG hat hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Klägerin bindend (vgl § 163 SGG) festgestellt: Sie dürfe keine körperlich schweren oder mittelschweren Tätigkeiten mit Zwangshaltung und Heben und Tragen von Lasten mehr ausüben. Insbesondere sei eine Überlastung und Dauerbelastung des linken Beines zu vermeiden. Tätigkeiten, die ausschließlich im Gehen oder Stehen ausgeübt würden, schieden ebenfalls aus. Auch Arbeiten unter Zeitdruck und Akkordarbeit seien nicht mehr möglich. Wegen der Schwindelattacken seien Tätigkeiten mit Absturzgefahr (zB Arbeiten auf Leitern und Gerüsten) zu vermeiden. Unter Beachtung dieser Einschränkungen sei sie aber noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten vollschichtig zu verrichten.
Das LSG hat dazu ohne nähere Begründung ausgeführt, bei der Klägerin liege weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Eine solche pauschale Feststellung reicht im Hinblick auf den Umfang der Leistungseinschränkungen der Klägerin indes nicht aus. In seinem Vorlagebeschluß vom 23. November 1994 hat der erkennende Senat hat bereits dargelegt, daß das Restleistungsvermögen der Klägerin insgesamt gesehen in einem Grenzbereich liegt, der mit den bisherigen Kriterien nicht klar zu beurteilen ist. Daraus folgen erweiterte Begründungserfordernisse. Insbesondere hat es das Berufungsgericht unterlassen, diejenigen qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin, die auch einer Verrichtung körperlich leichter Arbeiten entgegenstehen, daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie deren betriebliche Einsatzfähigkeit weiter einengen.
Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Schwindelattacken, aber auch bezüglich der Unmöglichkeit, das linke Bein dauernd zu belasten. Ferner hätte die Unfähigkeit der Klägerin, Arbeiten unter Zeitdruck oder Akkordarbeit zu verrichten, Anlaß zu der Prüfung geben müssen, ob nicht körperlich leichte und fachlich einfache Frauenarbeiten häufig einen Einsatz am Fließband oder im Akkord bedingen (vgl Schimanski SozVers 1991, 169, 171).
Da der erkennende Senat die somit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139; Beschluß des GS vom 19. Dezember 1996 – GS 3/95 – Umdr S 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.
Kommt das LSG bei seiner erneuten Behandlung der Sache zu dem Ergebnis, daß die Klägerin keinen Anspruch auf EU-Rente hat, wird es bei der Prüfung des mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Anspruchs auf Gewährung von BU-Rente noch festzustellen haben, welches genau der „bisherige Beruf” (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169) der Klägerin war, ob sie diese Tätigkeit noch ausüben kann und – falls dies nicht der Fall sein sollte – wie dessen Wertigkeit zu beurteilen ist. Ausgegangen ist das Berufungsgericht wohl – vermutlich zutreffend – vom Beruf der Fleischereiarbeiterin. Die Einordnung (offenbar) dieser Tätigkeit als „ungelernt bis einfach angelernt” hat das LSG vermutlich auf die vom Arbeitgeber mitgeteilte Einarbeitungszeit von drei bis vier Monaten gestützt. Dabei sind indes andere wichtige Faktoren unberücksichtigt geblieben, die das Gesamtbild eines Berufes prägen. Insbesondere hat das LSG keine Feststellungen zur tarifvertraglichen Einstufung der letzten Tätigkeit getroffen (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 14).
Das LSG wird in seinem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen