Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Beschluss vom 10.07.1996; Aktenzeichen L 1 J 63/96)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Juli 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der 1943 geborene Kläger begehrt die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Er absolvierte von 1959 bis 1962 eine Lehre als Schuhmacher. Danach arbeitete er im Bau- und Steinmetzgewerbe, später als Montagearbeiter und ab August 1982 als Gleisbauarbeiter. Seit dem 12. Oktober 1992 ist der Kläger arbeitsunfähig krank.

Im September 1993 beantragte er die Gewährung von Rente wegen geminderter Erwerbsfähigkeit. Dies lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 3. Januar 1994 mit der Begründung ab, der Kläger könne zwar nicht mehr als Gleisbauarbeiter, jedoch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch vollschichtig tätig sein und sei damit weder berufs- noch erwerbsunfähig. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 2. August 1994).

Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Klage des Klägers durch Urteil vom 16. Januar 1996 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger könne noch vollschichtig leichte Arbeiten mit gewissen, nicht atypischen Leistungseinschränkungen verrichten und sei daher nicht erwerbsunfähig. Er dürfe keine schweren und mittelschweren Arbeiten mit häufigem Heben und Tragen schwerer Lasten, ferner keine Arbeiten mit häufigem Bücken oder häufiger einseitiger Körperhaltung unter Witterungseinflüssen, mit Klettern und Besteigen von Gerüsten und Leitern oder unter Einfluß von Hautreizstoffen leisten; wegen der Beschwerden an den Händen seien allenfalls feinmechanische Tätigkeiten ausgeschlossen, was sich schon aus der bestehenden Einäugigkeit ergebe. Der Kläger sei auch nicht berufsunfähig. Da es nicht ersichtlich sei, daß es sich bei seiner letzten Beschäftigung als Baufachwerker um eine qualifizierte Tätigkeit mit einer für deren Ausübung erforderlichen Anlernzeit von mehr als einem Jahr gehandelt habe, sei der Kläger auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar; der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe es nicht.

Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat die vom Kläger hiergegen eingelegte Berufung durch Beschluß vom 10. Juli 1996 zurückgewiesen. Die Entscheidung ist im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Das SG habe zutreffend festgestellt, daß der Kläger trotz seiner vollständig erfaßten Gesundheitsstörungen noch vollschichtig leichte Arbeiten mit gewissen weiteren qualitativen, aber nicht atypischen Leistungseinschränkungen verrichten könne. Mit diesem Leistungsvermögen sei er nicht erwerbsunfähig. Insoweit werde gemäß § 153 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf die zutreffenden Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen. Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Gewährung von BU-Rente. Bei seinem „bisherigen Beruf” als Gleisbauarbeiter in einer Kolonne handele es sich nach dem vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Mehrstufenschema um eine ungelernte, allenfalls angelernte Tätigkeit im unteren Bereich mit einer Ausbildung bis zu etwa einem Jahr. Entsprechend sei der Kläger auch als Baufachwerker (Arbeitnehmer, die einfache Bauarbeiten verrichten, nach einjähriger Tätigkeit) in die Lohngruppe VI des maßgebenden Tarifvertrages eingestuft worden. Diese Tätigkeit könne er unstreitig nicht mehr verrichten, sei damit jedoch nicht berufsunfähig, denn er müsse sich auf alle seinem Leistungsvermögen entsprechenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen, ohne daß es der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe.

Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung der §§ 43, 44 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) geltend: Aufgrund des Verlustes seines linken Auges liege bei ihm eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor. Deshalb habe ihm nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Verweisungstätigkeit konkret benannt werden müssen. Im übrigen sei zu beachten, daß er seit 1982 als Gleisbauarbeiter undifferenziert schwere körperliche Arbeiten im Freien verrichtet habe. Darin könne nach der Rechtsprechung ein Hindernis für eine Umstellung auf eine fabrikmäßig organisierte Arbeit gesehen werden, so daß nicht offensichtlich sei, daß es noch für ihn geeignete Tätigkeiten gebe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Beschluß des LSG Niedersachsen vom 10. Juli 1996, das Urteil des SG Hannover vom 16. Januar 1996 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Januar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1994 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Oktober 1993 Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtenen Entscheidungen. Insbesondere sei bei dem Kläger trotz der vorliegenden Einäugigkeit eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nicht gegeben. Eine solche läge nur vor, wenn die Einäugigkeit tatsächlich zu einer erheblichen Einschränkung der Leistungsfähigkeit geführt hätte. Hier sei die Einäugigkeit indes bereits im Jahre 1980 eingetreten; danach habe der Kläger diese Behinderung so verarbeitet, daß eine Gewöhnung an den Zustand eingetreten sei und das Leistungsvermögen nicht mehr nennenswert eingeschränkt sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs 2 SGG einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die berufungsgerichtlichen Feststellungen reichen für die abschließende Beurteilung, ob dem Kläger ein Anspruch auf BU- oder EU-Rente zusteht, nicht aus. Es sind vielmehr ergänzende Feststellungen zu mehreren Punkten erforderlich.

Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU oder EU richtet sich nach §§ 43, 44 SGB VI, denn sein im Dezember 1993 gestellter Rentenantrag bezieht sich ausschließlich auf Leistungen für die Zeit nach dem 31. Dezember 1991 (vgl § 300 Abs 1, 2 SGB VI).

Der Kläger begehrt in erster Linie Rente wegen EU. Nach § 44 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf diese Leistung, wenn sie erwerbsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EU drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der EU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Erwerbsunfähig sind gemäß § 44 Abs 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt.

Dabei ist der Kläger zwar ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkung (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Ob er jedoch mit seinen qualitativen Leistungseinschränkungen – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8), vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht zu beurteilen.

Nach der vom Großen Senat (GS) des BSG (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 10 ff mwN) bestätigten ständigen Rechtsprechung des BSG ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie der Kläger – zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.

Im Hinblick darauf, daß der GS die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl die Vorlagebeschlüsse vom 24. November 1994 – 13 RJ 19/93 – ua) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 SGB VI in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.

Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit des Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (GS 1 bis 4/95) hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).

Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt dem Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.

„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf deren betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit der Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der GS in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 (vgl zB GS 2/95 Umdr S 19) vorausgesetzt hat.

Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.

Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.

Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.

Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit verneinen zu können. Das SG und ihm folgend das LSG haben insoweit lediglich festgestellt, bei dem Kläger lägen keine atypischen Leistungseinschränkungen vor, womit wohl das Nichtvorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung gemeint ist. Eine solche pauschale Feststellung reicht jedoch im Hinblick auf den Umfang der Leistungseinschränkungen des Klägers nicht aus.

Hinsichtlich der Feststellung der Leistungsfähigkeit des Klägers hat das LSG gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen und insoweit von einer eigenen Erörterung abgesehen. Das SG hat festgestellt, der Kläger könne noch vollschichtig leichte Arbeiten mit gewissen, nicht atypischen Leistungseinschränkungen (keine Arbeiten mit häufigem Heben und Tragen schwerer Lasten, mit häufigem Bücken oder häufiger einseitiger Körperhaltung und unter Witterungseinflüssen, mit Klettern und Besteigen von Gerüsten und Leitern oder unter Einfluß von Hautreizstoffen) verrichten; wegen der Beschwerden an den Händen seien allenfalls feinmechanische Tätigkeiten ausgeschlossen, was sich aber bereits aus der Einäugigkeit des Klägers ergebe.

Diese festgestellten Leistungseinschränkungen gehen zum Teil deutlich über den Rahmen hinaus, der ohnehin regelmäßig von körperlich leichten Tätigkeiten eingehalten wird. Dies gilt sowohl für das Verbot von Arbeiten unter Einfluß von Hautreizstoffen als auch für den Ausschluß feinmechanischer Tätigkeiten, die gerade in Form von leichten Montagearbeiten einen nicht unerheblichen Teil der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt angebotenen Tätigkeiten ausmachen dürften. Bemerkenswert ist aber insbesondere, daß die Auswirkung der bei dem Kläger bestehenden Einäugigkeit bei der Feststellung seiner Leistungsfähigkeit nahezu unberücksichtigt geblieben ist. Immerhin hat das BSG bereits in mehreren Entscheidungen Einäugigkeit als „Regelbeispiel” für das Vorliegen einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung genannt (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 30, 90; SozR 3-2200 § 1246 Nr 50; Urteil vom 14. November 1984 – 1 RA 17/84 – ≪Meso B 20a / 206≫), wobei dieser Umstand allerdings in keinem der dort entschiedenen Fälle entscheidungserheblich war. Angesichts dessen hätte jedenfalls eingehend untersucht werden müssen, welche Auswirkung die mit der Einäugigkeit verbundene Begrenzung des Gesichtsfeldes und Unfähigkeit zu räumlichem Sehen auf den Ausschluß bestimmter Arbeitsfelder haben.

Da der erkennende Senat die somit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt weiter zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 137, 139; Beschluß des GS vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.

Sollte der Kläger danach keinen Anspruch auf EU-Rente haben, wird das LSG bei der Prüfung des mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Anspruchs auf Gewährung von BU-Rente noch näher zu untersuchen haben, welche Wertigkeit der bisherige Beruf des Klägers (Gleisbauarbeiter) hatte. Auch insoweit reichen die von ihm bisher festgestellten Tatsachen nicht aus.

Daß der Kläger den zuletzt von ihm ausgeübten Beruf nicht erlernt hat, läßt noch nicht von vornherein darauf schließen, daß er als ungelernter oder bestenfalls als angelernter Arbeiter des unteren Bereichs einzustufen ist. Die Ausführungen des LSG lassen nicht erkennen, welchen Tarifvertrag mit welcher zeitlichen Geltung es seiner Beurteilung als „maßgebenden Tarifvertrag” zugrunde gelegt hat und wie dieser Tarifvertrag strukturiert ist, so daß eine Bestimmung der Wertigkeit des bisherigen Berufs des Klägers auf dieser Grundlage nicht möglich ist.

Das LSG wird in seinem abschließenden Urteil auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173233

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