Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeit bei eingeschränkter Gehfähigkeit. Angebot einer berufsfördernden Leistung zur Rehabilitation durch den Rentenversicherungsträger
Leitsatz (amtlich)
Der Versicherungsträger bietet keine - einen Rentenanspruch ausschließende - Leistungen zur beruflichen Rehabilitation an, wenn er lediglich erklärt, daß eine bestimmte Leistung dem Grunde nach - und unter weiteren Bedingungen - gewährt werden kann (Fortführung von BSG vom 21.2.1989 - 5 RJ 61/88 = SozR 2200 § 1247 Nr 56).
Orientierungssatz
Beginnt der Rentenversicherungsträger mit der Prüfung, ob einem Versicherten zur Eingliederung in das Erwerbsleben berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation zu gewähren sind, erst nach einem Arbeitsangebot oder einer Arbeitsaufnahme, so widerspricht dies dem gesetzlichen Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" und kann einen nach der Rechtsprechung wegen unzumutbarer Gehstrecke bestehenden Rentenanspruch nicht ausräumen.
Normenkette
SGB VI § 9 Abs. 1, § 16 Abs. 1 Nr. 1, § 44 Abs. 2; RVO § 1247 Abs. 2; RehaAnglG §§ 7, 11; KfzHV § 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist noch, ob den Klägern als Rechtsnachfolgern des Versicherten Paul W. aus dessen Versicherung Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. August 1994 bis 31. Mai 1997 zusteht.
Der im Jahre 1942 geborene Versicherte war von 1968 bis 1993 bei der Firma R. B. GmbH in H. versicherungspflichtig beschäftigt und beantragte im Juli 1991 bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 4. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1992 ab.
Mit der zum SG für das Saarland erhobenen Klage hat der Versicherte sein Begehren weiterverfolgt. Während des Klageverfahrens hat sich die Beklagte am 30. September 1993 bereit erklärt, beim Versicherten Berufsunfähigkeit ab 16. April 1993 anzuerkennen und insoweit Leistungen zu gewähren. Nachdem der Versicherte dieses Teilanerkenntnis angenommen hatte, hat die Beklagte am 30. September 1994 einen entsprechenden Rentenbescheid erlassen. Wegen des anhängig gebliebenen Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab Antragstellung hat das SG die Klage nach weiterer medizinischer Sachaufklärung abgewiesen (Urteil vom 26. April 1994).
In der Berufungsinstanz hat die Beweisaufnahme ergeben, daß der Versicherte zwar vollschichtig tätig sein, aber nur noch Gehstrecken von weniger als 500 m zurücklegen, andererseits jedoch größere Wegstrecken mit einem Kraftfahrzeug mit Automatikgetriebe bewältigen konnte. Daraufhin hat die Beklagte erklärt,
"daß für den Fall der Aufnahme einer Beschäftigung oder des Angebots einer Beschäftigung finanzielle Hilfen zur Anschaffung eines Automatikgetriebeautos dem Grunde nach gewährt werden können, wenn die Arbeitsstätte außerhalb der ihm zumutbaren Wegstrecke liegt."
Durch Urteil vom 22. August 1996 hat das LSG die Berufung des Versicherten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt: Der Versicherte habe keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Er könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte körperliche Arbeiten mit näher beschriebenen Einschränkungen vollschichtig verrichten und zB als Pförtner, Telefonist oder Hilfskraft in einem Büro tätig sein. Zwar liege eine schwere Leistungsbehinderung vor, weil seine Gehfähigkeit seit Juli 1994 auf weniger als 500 m eingeschränkt sei. Der Versicherte könne aber auf die Benutzung eines Kraftfahrzeugs zumutbar verwiesen werden. Da die Beklagte Leistungen nach der Verordnung über Kraftfahrzeughilfe zur beruflichen Rehabilitation (KfzHV) konkret angeboten habe, sei Erwerbsunfähigkeit zu verneinen (Hinweis auf BSG Urteil vom 21. Februar 1989 - 5 RJ 61/88 - SozR 2200 § 1247 Nr 56).
Mit der vom Senat zugelassenen Revision hat der Versicherte die Verletzung materiellen Rechts (§ 1247 RVO) gerügt und vorgetragen: Das LSG habe das zitierte BSG-Urteil verkannt. Im vorliegenden Fall habe die Beklagte keine Leistungen zur beruflichen Rehabilitation konkret angeboten, sondern ein Angebot unter einem Vorbehalt sowie nur dem Grunde nach abgegeben.
Die Erben des im Mai 1997 verstorbenen Versicherten setzen den Rechtsstreit fort und beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 22. August 1996 und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 26. April 1994 aufzuheben sowie die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 4. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1992 und des Rentenbescheides vom 30. September 1994 zu verurteilen, den Klägern aus der Versicherung des Paul W. für die Zeit vom 1. August 1994 bis 31. Mai 1997 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält ihre Bereiterklärung für ausreichend und dementsprechend das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Durch die Beschränkung des Revisionsantrages ist der zunächst geltend gemachte Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit von Antragstellung bis 31. Juli 1994 nicht mehr Streitgegenstand des Revisionsverfahrens. Die Abweisung der Klage durch die Vorinstanzen ist insoweit rechtskräftig geworden. Hinsichtlich des im Streit gebliebenen Zeitraumes ist die zulässige Revision der Kläger begründet. Die Vorinstanzen und die Beklagte haben es zu Unrecht abgelehnt, dem Versicherten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Monate August 1994 bis Mai 1997 zu gewähren. In diesem Umfang sind der mit der Klage angefochtene Bescheid vom 4. September 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. November 1992 sowie der später ergangene und gemäß § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens gewordene Bescheid vom 30. September 1994 rechtswidrig.
1. Der Rentenanspruch richtet sich infolge der Einschränkung des Revisionsantrages nach den Vorschriften des SGB VI (§ 300 Abs 1 und 2 SGB VI). Zwar hat der Versicherte den Rentenantrag vor dem 1. April 1992 gestellt (Juli 1991). Da die Kläger aber mit dem beschränkten Revisionsantrag Rente erst ab 1. August 1994 verlangen, liegt der begehrte Rentenbeginn nach dem 1. Januar 1992, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des SGB VI. Die Kläger sind als Erben befugt, den Rechtsstreit des Versicherten fortzusetzen und dessen materiell-rechtliche Ansprüche in eigenem Namen geltend zu machen (§§ 56 bis 58 SGB I, §§ 1922 ff BGB).
2. Entgegen der Auffassung des LSG liegen die Voraussetzungen eines Rentenanspruchs gemäß § 44 Abs 1 und 2 SGB VI vor. Danach erhalten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit Versicherte, die erwerbsunfähig sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Erwerbsunfähig sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt.
Der Versicherte konnte nach den Feststellungen des LSG auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch leichte körperliche Arbeiten mit näher beschriebenen Einschränkungen vollschichtig verrichten. Allerdings war seine Gehfähigkeit seit Juli 1994 derart eingeschränkt, daß er nur noch Gehstrecken von weniger als 500 m zurücklegen konnte, andererseits aber zur Bewältigung größerer Wegstrecken in der Lage gewesen wäre, wenn er ein Kraftfahrzeug mit einem Automatikgetriebe gehabt hätte. Ferner hatte der Versicherte in den letzten fünf Jahren vor diesem Zeitpunkt drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung und erfüllte die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren Beitragszeiten (§ 50 Abs 1 Nr 2, § 51 Abs 1 SGB VI). Diese Feststellungen sind nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen und daher für den Senat bindend (§ 163 SGG).
Hiervon ausgehend war der Versicherte in der Zeit ab Juli 1994 als erwerbsunfähig anzusehen. Zwar wäre er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt am Arbeitsplatz selbst noch vollschichtig einsatzfähig gewesen. Zur Erwerbsfähigkeit gehört aber nach gefestigter Rechtsprechung des BSG auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen. Eine gesundheitliche Beeinträchtigung, die - wie beim Versicherten - nur noch Fußwege von weniger als 500 m Länge zuläßt, stellt bei dem anzuwendenden generalisierenden Maßstab in der Regel eine derart schwere Leistungseinschränkung dar, daß sie dem Versicherten die Erreichung eines Arbeitsplatzes unzumutbar macht. Etwas anderes gilt allerdings, wenn der Versicherte einen Arbeitsplatz innehat, der die zumutbaren Wegebedingungen aufweist oder mit einem vorhandenen Kraftfahrzeug erreichbar ist, oder ihm ein solcher Arbeitsplatz tatsächlich angeboten wird, oder der Versicherungsträger diesbezügliche Leistungen zur Rehabilitation anbietet (vgl Urteil des Senats vom 21. Februar 1989 - 5 RJ 61/88 - SozR 2200 § 1247 Nr 56; Deutsche Rentenversicherung, 1993, 525 f, Grundsätze zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung, mwN).
Einer der genannten Ausnahmefälle lag beim Versicherten nicht vor. Insbesondere hatte die Beklagte ihm keine geeigneten Rehabilitationsleistungen angeboten. Da der Versicherte nach den Feststellungen des LSG einen Arbeitsplatz nur mit einem Kraftfahrzeug mit Automatikgetriebe hätte erreichen können, ein solches aber nicht besaß, hätte die Beklagte ihm ein entsprechendes Kraftfahrzeug konkret anbieten müssen, um eine Rentenzahlung abzuwenden. Ein solches Angebot hatte die Beklagte indessen entgegen der Auffassung des LSG nicht gemacht. Ihre im Berufungsverfahren abgegebene Erklärung stellte schon nach dem Wortlaut nicht einmal ein "Angebot" dar, weil keine verbindliche Bewilligung einer Rehabilitationsleistung vorlag. Vielmehr hatte die Beklagte mit der Formulierung "für den Fall ... dem Grunde nach gewährt werden können, wenn ..." zu erkennen gegeben, daß sie sich die endgültige Entscheidung noch vorbehielt, und Rehabilitationsleistungen lediglich in Aussicht gestellt.
Zudem verkennt die Beklagte, daß der Versicherungsträger der Rehabilitation Vorrang vor der Rentenzahlung geben muß. Er hat sich zu bemühen, dem Versicherten mit berufsfördernden Leistungen zu helfen, sofern anderenfalls Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu bewilligen wäre. Wenn - wie im vorliegenden Fall bei erheblicher Einschränkung der Gehfähigkeit - durch Rehabilitationsleistungen die Erwerbsfähigkeit wiederhergestellt bzw der Eintritt von Erwerbsunfähigkeit abgewendet werden kann, sind geeignete Leistungen iS des § 9 Abs 1 SGB VI geboten. In dieser Vorschrift ist ausdrücklich festgelegt, daß Leistungen zur Rehabilitation Vorrang vor Rentenleistungen haben, die bei erfolgreicher Rehabilitation nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (§ 9 Abs 1 Satz 2 SGB VI). Damit ist der in § 7 RehaAnglG enthaltene Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" ausdrücklich im Leistungsrecht des SGB VI verankert worden. In inhaltlicher Übereinstimmung mit § 11 RehaAnglG ordnet § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VI allgemein an, daß der Rentenversicherungsträger seine Leistungen zur Rehabilitation darauf ausrichten soll, den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder - wie im vorliegenden Fall - sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. § 16 Abs 1 Nr 1 SGB VI sieht sodann ausdrücklich Leistungen nicht nur zur Erhaltung, sondern auch zur Erlangung eines Arbeitsplatzes, einschließlich der Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme als berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation, vor. In Ergänzung dazu bringt die KfzHV zum Ausdruck, daß im einzelnen beschriebene Leistungen auf dem Kraftfahrzeugsektor "zur Eingliederung Behinderter in das Arbeitsleben" (vgl § 1 KfzHV) erbracht werden.
Dies bedeutet im vorliegenden Fall, daß die Beklagte hätte prüfen müssen, ob sie dem Versicherten zur Erfüllung des genannten Zwecks vor einer Arbeitsaufnahme geeignete Leistungen gewähren mußte. Wenn die Prüfung negativ ausgefallen wäre oder - wie hier - nicht unternommen wurde, blieb nur noch die Rentengewährung übrig (vgl Urteil des Senats vom 13. Juli 1988 - 5/4a RJ 57/87 - SozR 2200 § 1247 Nr 53). Der Eintritt in die Prüfung erst nach einem Arbeitsangebot oder einer Arbeitsaufnahme widerspricht dem gesetzlichen Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" und kann einen nach der Rechtsprechung wegen unzumutbarer Gehstrecke bestehenden Rentenanspruch für die streitige Zeit nicht ausräumen.
3. Die aufgrund des im Laufe des Monats Juli 1994 eingetretenen Versicherungsfalles zu gewährende Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beginnt am 1. August 1994 (§ 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI) und endet am 31. Mai 1997 (§ 102 Abs 5 SGB VI).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
AuA 1998, 284 |
NZS 1998, 383 |
SozR 3-2600 § 44, Nr.10 |