Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 09.11.1989)

SG Schleswig (Urteil vom 06.12.1988)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. November 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 6. Dezember 1988 aufgehoben und die Klagen abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt ein höheres Arbeitslosengeld (Alg) unter Berücksichtigung einer regelmäßigen tariflichen Wochenarbeitszeit von 50 Wochenstunden anstelle der bisher berücksichtigten 40 Wochenstunden.

Der 1939 geborene verheiratete Kläger war seit 1976 – unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit – von Februar/März bis Dezember eines jeweiligen Jahres bei der Firma W. (Fa. W.) als Kraftfahrer beschäftigt. Der nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) für das Unternehmen maßgebliche „Rahmentarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Kies-, Sand-, Mörtel- und Transportbeton-Industrie in Nord- und Westdeutschland” vom 9. Dezember 1986 (RTV-Kies) regelt die Arbeitszeit ua wie folgt:

§ 3

Arbeit und Arbeitsbereitschaft

I Arbeitszeit

  1. Die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen beträgt 40 Stunden.
  2. bis 9. ….

II Arbeitsbereitschaft

Die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit kann bis zu 10 Stunden – bei regelmäßiger und erheblicher Arbeitsbereitschaft in den Grenzen der Arbeitszeitordnung auch darüber hinaus – zuschlagspflichtig verlängert werden (§ 7 AZO, § 87 BetrVG). ….

Der Kläger meldete sich am 18. Dezember 1987 arbeitslos und legte mit seinem Antrag auf Alg die Arbeitsbescheinigung vom 16. Dezember 1987 vor, wonach die tarifliche Arbeitszeit 53 Stunden wöchentlich betragen habe. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg ab 18. Dezember 1987 und legte der Berechnung eine tarifliche wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden zugrunde (Bescheid vom 6. Januar 1988, Widerspruchsbescheid vom 1. Februar 1988).

Mit seiner Klage machte der Kläger geltend, die maßgebliche tarifliche wöchentliche Arbeitszeit betrage 53 Stunden. Sie sei der Berechnung des Alg zugrunde zu legen. Hiervon sei die Beklagte auch in den vergangenen Jahren bei der Leistungsbemessung ausgegangen.

Das SG hat – unter Zulassung der Berufung – die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Alg unter Zugrundelegung einer wöchentlichen Arbeitszeit von 53 Stunden zu zahlen (Urteil vom 6. Dezember 1988).

Im anschließenden Berufungsverfahren gewährte die Beklagte dem Kläger, der vom 14. März bis 18. Oktober 1988 wieder bei der Fa. W. beschäftigt und danach bis 15. November 1988 arbeitsunfähig krank gewesen war, wiederum Alg ab 16. November 1988 unter Zugrundelegung einer tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden (Bescheid vom 16. Dezember 1988). Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, das ab 16. November 1988 gezahlte Alg nach einer tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 50 Stunden zu bemessen. Er hat ferner auf seine Rechte aus dem Urteil des SG vom 6. Dezember 1988 insoweit verzichtet, als das SG die Beklagte verurteilt hat, der Leistungsbemessung eine wöchentliche Arbeitszeit von mehr als 50 Stunden zugrunde zu legen.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16. Dezember 1988 verurteilt, das dem Kläger ab 16. November 1988 gezahlte Alg nach einer tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 50 Stunden zu bemessen (Urteil vom 9. November 1989).

Nach Auffassung des LSG gibt § 3 II des RTV-Kies den Betrieben die Möglichkeit, die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit von 8 auf 10 Stunden täglich zu verlängern. Die Ermächtigung zur Verlängerung der täglichen Arbeitszeit impliziere notwendigerweise, daß die Arbeitszeit für jeden Tag einer Woche und damit wöchentlich verlängert werden dürfe. Entgegen der im Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. September 1980 (SozR 4100 § 112 Nr 14) vertretenen Auffassung sehe das Gericht in dieser Klausel eine tarifvertragliche Arbeitszeitregelung iS von § 112 Abs 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aF. Dem stehe nicht entgegen, daß die Klausel die Arbeitszeit nicht definitiv festgelegt habe.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 112 Abs 2 AFG in der bis zum 31. Dezember 1987 geltenden Fassung (aF). Sie ist der Auffassung, nach § 3 II des RTV-Kies könne nur die tarifvertraglich regelmäßige werktägliche Arbeitszeit verlängert werden, nicht aber die Wochenarbeitszeit. Sie verweist auf das Urteil des 7. Senats des BSG vom 28. Juli 1987 – 7 RAr 80/85 – (veröffentlicht in NZA 1988, 110; Dienstblatt der BA – Rechtsprechung – Nr 3312 AFG/§ 112).

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. November 1989 und des Sozialgerichts Schleswig vom 6. Dezember 1988 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Der Kläger hat sich nicht zur Sache geäußert.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind entgegen der Auffassung des LSG nicht rechtswidrig. In dem Bewilligungsbescheid vom 6. Januar 1988 und in dem vom LSG zu Recht analog § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in seine Entscheidung einbezogenen Bewilligungsbescheid vom 16. Dezember 1988 ist das dem Kläger ab 18. Dezember 1987 bzw ab 16. November 1988 zustehende Alg zutreffend festgesetzt worden.

Für den hier allein zu prüfenden Bemessungsfaktor „Arbeitszeit” bestimmt § 112 Abs 2 Satz 1 AFG in der 1987 geltenden, zuletzt durch das Siebte Gesetz zur Änderung des AFG (7. AFG-ÄndG) vom 20. Dezember 1985 (BGBl I 2484) geänderten Fassung (aF), daß von der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auszugehen ist. Diese Regelung ist gemäß § 242h Abs 7 AFG für Ansprüche, die vor dem 1. Januar 1988 entstanden sind, weiterhin anzuwenden. Auch die ab 1. Januar 1988 in Kraft getretene Regelung des § 112 Abs 3 AFG in der Fassung des Achten Gesetzes zur Änderung des AFG (8. AFG-ÄndG) stellt auf die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ab.

Eine von der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit abweichende tatsächliche Arbeitszeit (hier 50 statt 40 Wochenstunden) darf deshalb bei der Bestimmung der Höhe eines Alg-Anspruches nur dann zugrunde gelegt werden, wenn auch die längere tatsächliche Arbeitszeit eine vom Tarifvertrag als regelmäßig vorgesehene oder zugelassene Arbeitszeit ist. Wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat, sind daher Festlegungen besonderer Arbeitszeiten durch Einzelarbeitsvertrag oder Betriebsvereinbarung für die Alg-Bemessung nur dann maßgebend, wenn sowohl die Art der Festlegung als auch ihr Umfang tarifvertraglich zulässig ist iS der Bestimmung einer nach dem Tarifvertrag ebenfalls regelmäßigen Arbeitszeit. Es reicht nicht aus, daß nach dem Tarifvertrag die Vereinbarung längerer Arbeitszeiten als solche erlaubt ist, wenn der Tarifvertrag diese längeren Arbeitszeiten nicht als regelmäßige Arbeitszeit anerkennt (vgl BSG SozR 4100 § 112 Nrn 14 und 22 mwN; Urteile vom 28. Juli 1987 und 16. August 1989 – 7 RAr 80/85 – NZA 1988, 110 und – 7 RAr 136/88 – SozSich 1990, 127; Urteil vom 15. Februar 1990 – 7 RAr 82/89 – SozR 3-4100 § 112 Nr 2; Urteil des erkennenden Senats vom 12. Dezember 1990 – 11 RAr 49/89 –).

Die vom Kläger im Bemessungszeitraum geleistete Wochenarbeitszeit von 50 Stunden war entgegen der Auffassung des LSG keine tarifliche regelmäßige Arbeitszeit iS des § 112 Abs 2 AFG. Das folgt aus der Auslegung des RTV-Kies, der für das Arbeitsverhältnis des Klägers, jedenfalls soweit es um die Bestimmung der tariflichen regelmäßigen Arbeitszeit geht, maßgeblich ist. Der räumliche Geltungsbereich dieses Tarifvertrages geht nach seinem § 1 Nr 1 über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. Seine Anwendung kann deshalb gemäß § 162 SGG in vollem Umfang durch das Revisionsgericht überprüft werden.

Nach § 3 I Ziff 1 RTV-Kies, der die Überschrift „Arbeitszeit” trägt, beträgt die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 40 Stunden. § 3 II RTV-Kies, der mit „Arbeitsbereitschaft” überschrieben ist, bestimmt, daß die regelmäßige werktägliche Arbeitszeit bis zu 10 Stunden – bei regelmäßiger und erheblicher Arbeitsbereitschaft in den Grenzen der Arbeitszeitordnung (AZO) auch darüber hinaus – zuschlagspflichtig verlängert werden kann. Das LSG ist bei seiner Interpretation des § 3 II RTV-Kies davon ausgegangen, daß diese Vorschrift eine Verlängerung der normalerweise vorgesehenen tariflichen Arbeitszeit von 8 Stunden werktäglich auf 10 Stunden werktäglich unabhängig davon erlaube, ob an dem von der Verlängerung betroffenen Arbeitsplatz regelmäßig Arbeitsbereitschaft anfällt. Es hat nämlich zum Vorliegen von Arbeitsbereitschaft keine Feststellungen getroffen. Indessen bezieht sich diese Vorschrift, jedenfalls nach ihrer Überschrift, auf die „Arbeitsbereitschaft”. Demgemäß wird in § 3 II RTV-Kies auch im einzelnen definiert, wann Arbeitsbereitschaft vorliegt und ferner bestimmt, daß Arbeitsplätze,

für die Arbeitsbereitschaft besteht, zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat festzulegen sind. Dies könnte dafür sprechen, daß die regelmäßige Arbeitszeit über die in § 3 I Ziff 1 RTV-Kies festgelegte Arbeitszeit hinaus nur im Fall der Arbeitsbereitschaft und nur für Arbeitsplätze, für die Arbeitsbereitschaft besteht, verlängert werden kann. Ob § 3 II RTV-Kies in diesem Sinne zu verstehen ist oder ob hiermit die tarifliche regelmäßige Arbeitszeit unabhängig von der Frage, ob Arbeitsbereitschaft vorliegt, verlängert werden kann, kann dahinstehen (ebenso BSG Urteil vom 28. Juli 1987 – 7 RAr 80/85 –).

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat der Arbeitgeber des Klägers durch betriebliche Anordnung die wöchentliche Arbeitszeit auf 50 Stunden (und mehr) festgelegt. Damit ist keine Regelung iS von § 3 II RTV-Kies getroffen worden. Diese Bestimmung sieht nur eine Verlängerung der „regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeit” vor.

Der 7. Senat hat sich in dem oben angeführten Urteil vom 28. Juli 1987 bereits mit dem hier anzuwendenden § 3 II RTV-Kies, in der – insoweit gleichlautenden – Fassung vom 28. September 1976 befaßt und zu § 3 II RTV-Kies entschieden, daß diese Bestimmung nur die Verlängerung der regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeit vorsieht. Geregelt worden ist hier indessen – ebenso wie bei der vom 7. Senat entschiedenen Sachverhaltsgestaltung – die Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit. Wie sich aber aus § 3 I RTV-Kies ergibt, unterscheiden die Parteien des Tarifvertrages zwischen einer regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeit und einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit. In § 3 I Ziff 1 RTV-Kies ist bestimmt, daß die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit ausschließlich der Ruhepausen 40 Stunden beträgt. In Ziff 2 der tariflichen Vorschrift ist geregelt, daß die Verteilung der wöchentlichen Arbeitszeit auf die einzelnen Werktage nach den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen und unter Berücksichtigung der Belange der Arbeitnehmer zwischen Betriebsrat und Betriebsleitung festgelegt wird und – falls keine Einigung zustandekommt – eine regelmäßige werktägliche Arbeitszeit von 8 Stunden gilt. Nur die Verlängerung der regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeit ist in § 3 II RTV-Kies vorgesehen. Damit kann mangels einer tarifvertraglichen Grundlage die hier erfolgte Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit, wie der 7. Senat in seiner Entscheidung vom 28. Juli 1987 (aaO) bereits festgestellt hat, keine tarifliche Arbeitszeit iS von § 112 Abs 2 AFG sein. Tariflich ist insoweit lediglich eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden.

Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht der Einwand, daß die Verlängerung der regelmäßigen werktäglichen Arbeitszeit hier zugleich eine Verlängerung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit zur Folge habe und von der Ermächtigung gedeckt sei. Denn die Befugnis zur Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit führt nicht denknotwendig zu einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Diese hängt von der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Werktage ab, was in § 3 II RTV-Kies gerade nicht geregelt ist. Die Befugnis zur Verlängerung der werktäglichen Arbeitszeit bleibt auch dann sinnvoll, wenn sie lediglich eine andere Verteilung der Wochenarbeitszeit auf die Arbeitstage ermöglicht.

Die geltend gemachte Arbeitszeit von 50 Stunden wöchentlich stellt allenfalls nach einer gewissen betrieblichen Übung eine übliche Arbeitszeit dar. Auf die Üblichkeit kommt es aber nach § 112 Abs 2 Satz 1 AFG nicht an. Die übliche Arbeitszeit ist gemäß § 112 Abs 4 Nr 2 AFG nur dann maßgebend, wenn weder für die Beschäftigung noch für eine gleiche oder ähnliche Beschäftigung eine tarifliche Regelung bestand (vgl BSG Urteil vom 28. Juli 1987 -aaO- mwN). Insoweit vermögen die Ausführungen des LSG, wonach eine Arbeitszeit von über 40 Stunden wöchentlich sowohl bei der Fa. W. als auch im Branchenbereich üblich gewesen sei, den Klageanspruch nicht zu stützen.

Daß die tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit die Maßeinheit bildet, ist keineswegs, wie das LSG offenbar meint, eine zu starre Regelung, die den Sachzwängen nicht gerecht wird, welche den Arbeitsrhythmus insbesondere der Branche der Arbeitgeberfirma des Klägers bestimmen. Der erkennende Senat und der 7. Senat des BSG haben wiederholt verlängerte regelmäßige Wochenarbeitszeiten bis zu 50 Stunden und mehr als regelmäßige tarifliche Arbeitszeit angesehen (vgl BSG Urteil vom 16. August 1989 – 7 RAr 136/88 –; Urteile vom 12. Dezember 1990 – 11 RAr 49/89 – und 20. Februar 1991 – 11 RAr 121/89 –). Voraussetzung dafür ist jedoch, daß sowohl die Art der Festlegung als auch ihr Umfang den Regelungen des betreffenden Tarifvertrages nicht widersprechen darf.

Ergibt sich sonach, daß die vom Kläger geltend gemachte Arbeitszeit von 50 Wochenstunden nicht eine tarifliche regelmäßige Wochenarbeitszeit war, scheidet sie für die Bemessung des Alg-Anspruchs gemäß § 112 Abs 2 AFG aus.

Auf die Revision der Beklagten waren daher die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172796

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