Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. August 1993 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Die 1939 geborene Klägerin ist kroatische Staatsangehörige. Nachdem sie zunächst in ihrer Heimat und vorübergehend auch in Österreich gearbeitet hatte, war sie von März 1966 bis Oktober 1971 in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt als Arbeiterin bei der Firma A. in M. Anschließend war sie erneut bis April 1989 im ehemaligen Jugoslawien erwerbstätig. Seit dem 18. Juli 1988 bezieht sie eine Rente wegen Invalidität der ersten Kategorie aus der jugoslawischen (jetzt kroatischen) Sozialversicherung.
Den im April 1988 gestellten Rentenantrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Juli 1990 ab, weil die Klägerin noch vollschichtig leichte Arbeiten ohne dauerndes Gehen und Stehen sowie ohne häufiges Bücken verrichten könne. Den Widerspruch der Klägerin leitete die Beklagte dem Sozialgericht Landshut (SG) als Klage zu, die dort durch Urteil vom 21. Januar 1992 abgewiesen wurde. Auch die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat sein Urteil vom 12. August 1993 im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Bei der Klägerin liege keine BU und damit erst recht keine EU vor. Angesichts der kurzen Einweisungs- oder Anlernzeit, welche für ihre letzte Tätigkeit in Deutschland erforderlich gewesen sei, könne sie nur als ungelernte Arbeiterin eingestuft werden. Sie müsse sich deshalb auf sämtliche ihrem gesundheitlichen Leistungsvermögen entsprechenden Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen. Ihr Gesundheitszustand schließe für die Zeit ab April 1988 eine vollschichtige Arbeitsleistung nicht aus. Sie sei noch imstande, leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen (ohne lungenschädigende Umwelteinflüsse) in wechselnder Körperhaltung, ohne gleichförmige Belastungen einzelner Extremitäten oder einzelner Wirbelsäulenabschnitte, ohne häufiges Bücken, Hocken und Knien sowie unter Vermeidung sonstiger Zwangshaltungen zu verrichten. Nicht zumutbar seien ferner Schicht-, Fließband- und Akkordarbeit sowie das Besteigen von Leitern und Gerüsten. Arbeiten an gefährdenden Geräten und Maschinen sollten nur fallweise zugemutet werden.
Aus dem mit Schreiben der Klägerin vom 4. August 1993 vorgelegten Entlassungsbericht des Reha-Krankenhauses V. vom 26. Juli 1993 ergebe sich keine Notwendigkeit zu einer ergänzenden orthopädischen Begutachtung. Neue Befunde würden nicht mitgeteilt; ebensowenig ergäben sich Anhaltspunkte für zusätzliche Funktionsstörungen und weitergehende Beschwerden als sie von der Klägerin bereits im Rahmen der bisherigen Rentenuntersuchungen vorgebracht und sozialmedizinisch gewürdigt worden seien.
Bei Maßgeblichkeit des allgemeinen Arbeitsmarktes bedürfe es grundsätzlich keiner Benennung von Verweisungstätigkeiten. Etwas anderes gelte nach der Rechtsprechung nur dann, wenn ein Versicherter selbst leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch mit vielfältigen und/oder erheblichen Einschränkungen ausüben könne. Solche besonderen Umstände seien nach dem von dem Sachverständigen Dr. K. gezeichneten Leistungsprofil bei der Klägerin nicht ersichtlich. Zwar führten die von dem Sachverständigen genannten Einsatzbeschränkungen zu einer gewissen Verminderung der verfügbaren Arbeitsplätze; die aus sozialmedizinischer Sicht erforderlichen Einsatzbedingungen schränkten aber die bestehenden Beschäftigungsmöglichkeiten nicht derart ein, daß auf dem für die Klägerin maßgebenden Arbeitsmarkt des gesamten Bundesgebietes schlechthin keine Arbeitsstellen (oder nicht in nennenswerter Zahl) zur Verfügung stünden. Deshalb sei nicht entscheidungserheblich, ob die Klägerin (wovon der Senat an sich ausgehe) dem Aufgabenbereich, den sie zuletzt bei der Firma A. auszufüllen gehabt habe, weiterhin gewachsen sei. Ungeachtet der fehlenden Verpflichtung zur Benennung zustandsangemessener Verweisungstätigkeiten durch Verwaltung und Gerichte könne die Klägerin Tätigkeiten als Sortiererin und Verpackerin leichter Gegenstände oder als Garderobenfrau bzw Aufsicht in Garderoben mit Selbstbedienung zweifellos noch ausüben. Auch leichte Montagearbeiten oder eine Tätigkeit als Spülerin im Laborbereich kämen für sie noch in Betracht. Das Vorhandensein solcher Arbeitsplätze ergebe sich aus der Tatsache, daß sie teilweise (Tätigkeiten als Laborspülerin und Garderobenfrau) im Manteltarifvertrag für die Arbeiter der Länder bzw im Lohngruppenverzeichnis zum Manteltarifvertrag für die Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe aufgeführt seien. Der Senat sehe keine Bedenken, daß sich die Klägerin trotz verminderter psychophysischer Belastbarkeit auf solche Arbeitsplätze umstellen könne, da hierfür keine längere Anlernzeit erforderlich sei, sondern in der Regel eine Einweisung von wenigen Tagen oder Stunden genüge.
Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzungen von §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO), §§ 62, 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Dazu trägt sie vor:
Mit den bei ihr festgestellten qualitativen Einschränkungen des Leistungsvermögens sei der allgemeine Arbeitsmarkt für sie verschlossen, zumindest aber hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, diesbezüglich ein berufskundliches Gutachten einzuholen und eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen. Darüber hinaus hätte das LSG auch die von ihr beantragte Begutachtung auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet veranlassen müssen. Zum einen bestünden hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Bechterewschen Erkrankung. Weder das LSG noch ein Nervenarzt wie der Sachverständige Dr. K. vermöge aus eigener Fachkenntnis zu entscheiden, ob die Erkrankung tatsächlich vorliege; hierfür seien die Fachkenntnisse eines Orthopäden erforderlich. Da eine entsprechende eigene Sachkunde des Gerichts nicht in das Verfahren eingeführt worden sei, liege gegebenenfalls eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor. Zum anderen ergebe sich aus nahezu allen vorliegenden Gutachten und Befundberichten, daß bei ihr gesundheitliche Leistungseinschränkungen vorlägen, die durch Leiden auf orthopädischem Gebiet hervorgerufen worden seien. Hinzu komme, daß die letzte orthopädische Untersuchung im Rentenverfahren bereits über drei Jahre zurückgelegen habe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung der Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. August 1993 und des Sozialgerichts Landshut vom 21. Januar 1992 sowie ihres Bescheides vom 16. Juli 1990 zu verurteilen, ihr – der Klägerin – Rente wegen EU, hilfsweise wegen BU, zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie macht ua geltend: Die Verfahrensrügen der Klägerin griffen nicht durch. Das Berufungsgericht habe sich nicht aufgrund der mit Schriftsatz vom 26. Juli 1993 von der Klägerin angeregten fachärztlichen Begutachtung gedrängt fühlen müssen, bei dieser eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen, um festzustellen, ob ein „Morbus Bechterew” vorliege. Die bisherigen Untersuchungen im Rentenverfahren hätten ergeben, daß bei der Klägerin eine derartige Erkrankung ausgeschlossen werden könne. Es spreche insbesondere nichts dafür, daß sich durch ein weiteres orthopädisches Gutachten gravierendere Leistungseinschränkungen ergäben, als dies bisher festgestellt worden sei. Ebensowenig habe es das Berufungsgericht verfahrensfehlerhaft unterlassen, ein berufskundliches Gutachten zur Frage der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes einzuholen. Bei den vom Berufungsgericht festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin liege weder eine Summierung von ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen noch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vor.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet.
Was das Vorliegen der Prozeßvoraussetzungen anbelangt, ist das LSG zutreffend davon ausgegangen, daß die Klage durch Zuleitung des Widerspruchs von der Widerspruchsstelle der Beklagten an das SG iS von § 85 Abs 4 SGG (in der bis zum 28. Februar 1993 geltenden Fassung) ordnungsgemäß erhoben worden ist. Zwar ist der Widerspruch des Klägers gegen den am 23. Juli 1990 zugestellten Bescheid der Beklagten vom 16. Juli 1990 erst am 10. Oktober 1990 – also nach Ablauf der Monatsfrist des § 84 Abs 1 SGG – bei der Beklagten eingegangen. Gleichwohl ist der Widerspruch und damit die Klage als zulässig anzusehen, weil die Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides insoweit unrichtig ist, als sie der Klägerin eine dreimonatige Anfechtungsfrist eingeräumt hat (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫ in BSGE 69, 9 = SozR 3-1500 § 66 Nr 1).
Die Revision führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil mangels hinlänglicher Tatsachenfeststellungen zu den Leistungseinschränkungen der Klägerin noch nicht abschließend entschieden werden kann, ob das LSG das klageabweisende Urteil des SG zu Recht bestätigt hat.
Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen BU oder EU richtet sich noch nach den §§ 1246, 1247 RVO, da der Rentenantrag bereits im Jahre 1988 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).
Rente wegen EU, welche die Klägerin in erster Linie begehrt, erhält gemäß § 1247 Abs 1 RVO der Versicherte, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeführt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. EU liegt vor, wenn der Versicherte infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 RVO). Insoweit kommt es mithin darauf an, ob die Klägerin angesichts ihres Gesundheitszustandes – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8).
Was die der Klägerin verbliebene gesundheitliche Leistungsfähigkeit anbelangt, so hat das LSG festgestellt, sie könne noch vollschichtig leichte Arbeiten mit verschiedenen qualitativen Einschränkungen verrichten. Dabei hat sich das Berufungsgericht ua auf die aus den vorliegenden medizinischen Gutachten gewonnene Erkenntnis gestützt, daß bei der Klägerin die Wirbelsäule in allen Abschnitten und die Extremitäten in allen Gelenken frei beweglich seien. Diese Tatsachenfeststellung vermag der erkennende Senat seiner Entscheidung nicht zugrunde zu legen, weil sie – wie die Klägerin zutreffend rügt – unter Verstoß gegen die gerichtliche Ermittlungspflicht (§ 103 SGG) zustande gekommen ist.
Grundsätzlich ist es (revisionsgerichtlich nicht im einzelnen nachprüfbare) Sache des Tatsachengerichts zu entscheiden, ob und ggf in welcher Richtung es Ermittlungen anstellt. Ein Verstoß gegen § 103 SGG und damit ein iS von §§ 162, 164 Abs 2 Satz 3 SGG beachtlicher Verfahrensmangel liegt jedoch vor, wenn das Gericht eine weitere Sachaufklärung unterläßt, obwohl es sich dazu hätte gedrängt fühlen müssen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Dies ist hier hinsichtlich der Gesundheitsstörungen der Klägerin auf orthopädischem Gebiet und der sich daraus ergebenden Leistungseinschränkung der Fall. Das LSG hätte sich jedenfalls angesichts des von der Klägerin eingereichten Entlassungsberichtes des Krankenhauses für rheumatische Krankheiten und Rehabilitation, V., … vom 26. Juli 1993 veranlaßt sehen müssen, entsprechende Ermittlungen durchzuführen. Darin werden nämlich – im Gegensatz zu den bis dahin vorliegenden Befunden – eine reduzierte Beweglichkeit der Wirbelsäule in allen Segmenten sowie eine „motilitäte Schmerzempfindung” in den Hüften (Flexion mit gebückten Knien von 90 Grad, Abduktion von 30 Grad und hälftige innere und äußere Rotation) beschrieben. Diese Mitteilung hat um so mehr Gewicht, als röntgenologisch feststellbare Wirbelsäulenveränderungen sowie glaubhafte Hüftgelenksbeschwerden bereits aktenkundig waren (vgl zB das Gutachten des Chirurgen Dr. M. vom 19. Juni 1990). Hinzu kommt, daß die letzte chirurgische Begutachtung (durch Dr. M.) bereits über drei Jahre zurücklag und der gerichtliche Sachverständige Dr. K. (Arzt für Neurologie und Psychiatrie) insoweit keine genaueren Befunde (insbesondere Bewegungsmaße) dokumentiert hat (vgl dazu allgemein BSG, Urteile vom 28. März 1984 – 9a RV 27/83 – und vom 13. März 1986 – 5b RJ 34/85 –).
Das angefochtene Urteil kann auf dieser Verletzung der Amtsermittlungspflicht beruhen; denn es läßt sich nicht ausschließen, daß die gesundheitliche Leistungsfähigkeit der Klägerin derart eingeschränkt ist, daß der Eintritt von EU bejaht werden muß. Das vom LSG bislang festgestellte vollschichtige Restleistungsvermögen reicht für eine Rentengewährung nicht ohne weiteres aus, zumal die Vorinstanz insoweit zu der tatrichterlichen Beurteilung gelangt ist, die Klägerin könne damit ua noch Tätigkeiten als Sortiererin und Verpackerin leichter Gegenstände, als Garderobenfrau, Aufsicht in Garderoben mit Selbstbedienung oder auch als Spülerin im Laborbereich verrichten. Da der erkennende Senat die demnach erforderliche weitere Sachaufklärung nicht selbst vornehmen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Soweit das LSG aufgrund der noch durchzuführenden Ermittlungen zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin nicht (ab Antragstellung) erwerbsunfähig ist, wird es das Vorliegen von BU zu prüfen haben. Dabei werden ergänzende Feststellung zur Wertigkeit des bisherigen Berufs der Klägerin erforderlich sein, insbesondere zu dessen tarifvertraglicher Einstufung (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 14).
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen