Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 11.12.1995; Aktenzeichen L 5 U 104/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1995 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um Hinterbliebenenrenten aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Der im Jahre 1947 geborene Versicherte, Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) bis 4), war Geschäftsführer und Betriebsleiter der „Yacht- und Bootswerft R. … GmbH” in K.. Er wurde am Morgen des 10. Dezember 1991 gegen 8.40 Uhr auf dem Gelände der Werft tot im Wasser treibend aufgefunden, und zwar bei der Slipbahn in ungefähr 20 bis 30 cm Wassertiefe, 1,00 bis 1,20 m vom Ufer entfernt. Im anschließenden polizeilichen Ermittlungsverfahren wurden vernommen der Vater des Versicherten, seine Schwester, zwei Werftmitarbeiter sowie ein Zeuge, der ständig auf dem Boot „Schwalbe” wohnt, das am Ende des Werftstegs angetäut liegt. Auch die Aussage der Klägerin zu 1) zu den ihr bekannten Umständen wurde schriftlich festgehalten.

Im Obduktionsprotokoll vom 12. Dezember 1991 heißt es zur Todesursache, daß der Versicherte an zentralem Regulationsversagen verstorben sei. Es handele sich um einen Fall von sog atypischem Ertrinken bei vermutlich vorliegender Alkoholeinwirkung mit nur diskret ausgeprägten Ertrinkungszeichen und somit um einen nicht natürlichen Tod. Es wurde eine Blut-Alkoholkonzentration (BAK) zwischen 2,11 und 2,24 o/oo festgestellt.

Mit Bescheid vom 12. Oktober 1992 idF des Widerspruchsbescheids vom 20. April 1993 lehnte die Beklagte Hinterbliebenenleistungen ab, weil eine Klärung des Unfallhergangs nicht möglich sei. Entgegen der Vermutung der Kläger, der Versicherte sei bei einer betrieblichen Tätigkeit ums Leben gekommen, sei vielmehr naheliegend, daß der Versicherte aufgrund seines Vollrausches ins Wasser gestürzt und ertrunken sei.

Das Sozialgericht (SG) hat nach Beweisaufnahme die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Klägern unter Anerkennung des Ereignisses in der Nacht vom 9. auf den 10. Dezember 1991 als Arbeitsunfall Hinterbliebenenrenten zu zahlen (Urteil vom 14. Juni 1994). Die ganz überwiegenden Gesichtspunkte sprächen dafür, daß der Versicherte bei einem Kontrollgang von einem Steg abgerutscht und in das kalte Wasser gefallen sei. Diese betriebliche Tätigkeit sei auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten gewesen, obwohl er unter Alkoholeinfluß gestanden habe. Da auch möglich sei, daß der Tod ebenso in nüchternem Zustand eingetreten wäre, gehe die objektive Beweislosigkeit der Auswirkungen des Alkohols und einer Unterbrechung des Ursachenzusammenhangs zur betrieblichen Tätigkeit zu Lasten der Beklagten.

Das Landessozialgericht (LSG) hat nach weiterer Beweisaufnahme die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 11. Dezember 1995). Es habe sich davon überzeugt, daß der Versicherte bei einem Kontrollgang im Werftgelände ins Wasser gestürzt und ertrunken sei. Diese Feststellung lasse sich in ausreichendem Umfang auf bewiesene Hilfstatsachen stützen, auf die die Beweisführung angewiesen sei, weil es für die Vorgänge, die unmittelbar zum Tod des Versicherten geführt hätten, keine Beobachtungen oder ausreichenden Hinweise gebe. Beobachtungen einzelner Zeugen – zB des Zeugen K. … im Hinblick auf das Verhalten des Hundes des Versicherten – seien zum Teil widersprüchlich, jedenfalls wenig konkret und aussagekräftig. Auch der Fundort der Leiche lasse keine Rückschlüsse über die genaue Stelle zu, an der der Versicherte ins Wasser gefallen sein könnte. Die ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit spreche jedoch dafür, daß der Versicherte irgendwo auf dem Werftgelände von einem Steg oder einem Wasserfahrzeug aus in das Wasser gestürzt sei. Die Ermittlungen und Beweiserhebung hätten andererseits erhärtet, daß der Versicherte ein alkoholgewohnter Mann (sog „Pegeltrinker”) gewesen sei. Die insoweit bekannt gewordenen Umstände sprächen jedenfalls in erheblichem Maße gegen die Annahme, der Versicherte könnte aufgrund eines unkontrollierten Rauschzustands zu Schaden gekommen sein; sie sprächen andererseits dafür, daß der Versicherte auch in seinem alkoholisierten Zustand durchaus noch in der Lage gewesen sei, dem Betrieb dienliche Tätigkeiten zu verrichten. Bei dieser Sachlage habe die Frage im Vordergrund gestanden, ob angesichts der durch unmittelbare Beobachtungen nicht aufklärbaren Vorgänge davon auszugehen sei, daß der Versicherte bei einer betrieblichen Verrichtung zu Tode gekommen sei. Dies sei zu bejahen. Es gebe zwar kein Beweismittel, aus dem sich unmittelbar ableiten lasse, daß der Versicherte sich auf einen betrieblichen Kontrollgang befunden habe, als er ins Wasser gestürzt sei. Als Hilfstatsache stehe jedoch fest, daß er derartige Kontrollgänge regelmäßig auch nach Feierabend – sofern er sich auf dem Werftgelände aufgehalten habe, bei Bedarf auch nachts – durchgeführt habe, um die an den Stegen liegenden Schiffe zu prüfen und vor Schäden zu bewahren. Dies hätten alle Zeugen, die etwas näher mit dem Versicherten bekannt gewesen seien, von sich aus angegeben oder bestätigt. Aus dieser Hilfstatsache regelmäßiger Kontrollgänge nach Feierabend folge „mit ausreichender Wahrscheinlichkeit, daß sich der Versicherte auch bei dem zum Tode führenden Unglücksfall auf einem solchen Kontrollgang befunden” habe. Zwar gebe es demgegenüber einige Denkmöglichkeiten, aus welchen sonstigen privatwirtschaftlichen Gründen sich der Versicherte zur Unglückszeit auf den Schiffsstegen der Werft aufgehalten haben könnte. Diese Denkmöglichkeiten lägen jedoch alle im Bereich der reinen Spekulation und könnten nicht mit nur annähernd ähnlicher Wahrscheinlichkeit wie die Annahme eines betrieblichen Kontrollgangs in Erwägung gezogen werden.

Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Im Berufungsverfahren habe sie mit Schriftsatz vom 28. November 1995 beantragt, die unmittelbar nach dem Unglücksfall am Ermittlungsverfahren beteiligten Kriminalbeamten, die Kommissare S. …, P. … und W. … als Zeugen zu vernehmen. Sie – die Beklagte – habe diesen Antrag damit begründet, den Beamten Gelegenheit zu geben, ihr Ermittlungsergebnis zu erläutern und ggf zu ergänzen; diese Beweismaßnahme könne der Rechtssicherheit dienen und sei geeignet, bei den weiteren Zeugen evtl Gedächtnislücken zu schließen und aufgetretene bzw immer wieder behauptete „Mißverständnisse” auszuräumen. Das LSG habe diesen in der mündlichen Verhandlung (mit Beweisaufnahme) vom 11. Dezember 1995 ausdrücklich aufrechterhaltenen und wiederholten Antrag nicht einmal im Tatbestand des angefochtenen Urteils erwähnt und in den Entscheidungsgründen keinerlei Begründung dafür gegeben, warum es diesen Antrag abgelehnt hat bzw ihm nicht gefolgt sei.

Dieser Beweisantrag sei auch entscheidungserheblich gewesen. Eine weitere Sachaufklärung sei um so notwendiger gewesen, als das LSG selbst zum Ausdruck gebracht habe, daß es sich nur auf „bewiesene Hilfstatsachen” habe stützen können und daß die Beweisführung (des Gerichts) auf diese Hilfstatsachen angewiesen sei, weil es für die Vorgänge, die unmittelbar zum Tod des Versicherten geführt hätten, keine Beobachtungen und ausreichende Hinweise gebe. Wenn das LSG ausführe, daß trotz entsprechender Fragen „zu Betrunkenen passende Auffälligkeiten von keinem der befragten Zeugen mitgeteilt worden sind”, so müsse gerügt werden, daß es das Ermittlungsergebnis der als Zeugen benannten Polizeibeamten bewußt unterdrückt habe. Besonders eindrucksvoll seien dabei die Bekundungen der Klägerin zu 1) gegenüber dem Polizeibeamten S. – …; danach habe sie bezüglich der Trinksituation ihres Ehemanns angegeben, daß er in der Vergangenheit auf dem Werftgelände oder auch sonst häufig hingefallen sei, daß er abends länger weggeblieben sei, wenn er es nicht mehr geschafft habe, nach Hause zu kommen, und daß sie sich in der vergangenen Zeit nicht mehr „auf die Suche” nach ihrem Mann gemacht habe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 14. Juni 1994 aufzuheben und die Klagen abzuweisen,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als – entsprechend ihrem Hilfsantrag – das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensfehler, daß das LSG unter Verletzung seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), zu dem Ergebnis gelangt ist, der Versicherte sei bei einem Kontrollgang im Werftgelände ins Wasser gestürzt und ertrunken und daß er mit einer mittleren BAK von 2,15 o/oo nicht aufgrund eines unkontrollierten Rauschzustandes zu Schaden gekommen sei. Das LSG hätte insbesondere den Antrag der Beklagten, die Kriminalbeamten, die nach dem Unglücksfall mit der Ermittlung der zum Tod des Versicherten führenden Umstände befaßt waren, zu den von ihnen festgestellten Aussagen und Bekundungen der Zeugen und der Klägerin zu 1) zu vernehmen, nicht übergehen dürfen. Entgegen der Ansicht der Kläger handelt es sich hierbei um einen berücksichtigungsfähigen Beweisantrag; denn die Begründung der Beklagten ergibt eine hinreichend deutliche Bezeichnung der konkreten Tatsachen, über welche die Vernehmung der Zeugen und ggf eine Befragung der Klägerin zu 1) hätte stattfinden sollen (vgl Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 1991, IX, RdNr 128 mwN). Es fehlen damit ausreichende Tatsachenfeststellungen, um den Rechtsstreit in der Sache abschließend entscheiden zu können.

Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese das sozialgerichtliche Verfahren beherrschende Untersuchungsmaxime ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterläßt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen (s zuletzt Urteil des Senats vom 1. Februar 1996 – 2 RU 8/95 – HV-INFO 1996, 1422 mwN). Aus der sachlich-rechtlichen Sicht des LSG kam es ua darauf an, ob der Versicherte möglicherweise aufgrund eines unkontrollierten Rauschzustandes zu Schaden gekommen bzw ob er auch in seinem alkoholisierten Zustand (mittlere BAK von 2,16 o/oo) noch in der Lage gewesen sei, dem Betrieb dienliche Tätigkeiten zu verrichten (s BSG Urteil vom 5. Juli 1994 – 2 RU 34/93 – USK 9470). Dabei hätte sich das LSG im Rahmen seiner Pflicht, von allen geeigneten Ermittlungsmöglichkeiten erschöpfend Gebrauch zu machen (BSGE 30, 192, 205) gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen anzustellen. Weshalb es in dieser Hinsicht dem Antrag der Beklagten, die Kriminalbeamten S. …, P. … und W. … einzuvernehmen, nicht gefolgt ist, läßt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Insoweit fehlt es sowohl an einer Erwähnung dieses im Schriftsatz vom 28. November 1995 begründeten und im Termin am 11. Dezember 1995 wiederholten und protokollierten Beweisantrags im Tatbestand des Urteils als auch an einer Auseinandersetzung mit diesem Antrag in den Urteilsgründen.

Unabhängig davon, daß der Senat damit nicht nachprüfen kann, weshalb das LSG diesem Beweisantrag der Beklagten nicht gefolgt ist, hätte aus der rechtlichen Sicht des LSG auch Veranlassung bestanden, die benannten Kriminalbeamten ergänzend als Zeugen zu hören. Nach den Feststellungen des LSG hat keiner der befragten Zeugen „zu Betrunkenen passende Auffälligkeiten” des Versicherten mitgeteilt. Wenn das LSG daraus die Schlußfolgerung gezogen hat, daß dieser Umstand jedenfalls in erheblichem Maße gegen die Annahme spreche, der Versicherte könnte aufgrund eines unkontrollierten Rauschzustandes zu Schaden gekommen sein, so war die Vernehmung der Polizeibeamten zu dem damaligen Ermittlungsergebnis und den von ihnen angegebenen Angaben der Zeugen und besonders der Klägerin zu 1) zu dem Trinkverhalten des Versicherten entsprechend dem Antrag der Beklagten geboten. Das LSG hätte zumindest entsprechend diesem Beweisantrag die benannten Zeugen vernehmen müssen, bevor es eine Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG vornahm. Damit stellt sich der übergangene Beweisantrag als eine Verletzung des § 103 SGG dar.

Auf dem vorliegenden Verfahrensmangel kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Denn es ist nicht auszuschließen, daß das LSG nach Vernehmung der benannten Zeugen zu einer anderen Gesamtwürdigung des Ermittlungsergebnisses gelangt wäre. Die Sache war schon allein aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173527

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge