Beteiligte
Klägerin und Revisionsklägerin |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I.
Die am 8. September 1938 geborene Klägerin ist verwitwet und hat ein Kind, die am 3. November 1962 geborene Tochter J. Sie bezieht seit 1962 aufgrund des Bescheides der Beklagten vom 8. März 1963 aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemannes Witwenrente, die zunächst sechs Zehntel der nach § 1253 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) berechneten Versichertenrente ohne Kinderzuschuß betrug. Mit Bescheid vom 14. Oktober 1980 setzte die Beklagte die Rente mit Wirkung ab 1. Dezember 1980 auf sechs Zehntel der nach § 1253 Abs. 1 RVO ohne Berücksichtigung einer Zurechnungszeit berechneten Versichertenrente herab, weil die Tochter das 18. Lebensjahr vollendet habe und nicht mehr erzogen werde. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.
Mit der Klage hat die Klägerin vorgetragen, die Erziehung der Tochter sei noch nicht beendet, da diese noch bis August 1981 für einen Beruf (Zahnarzthelferin) ausgebildet werde, Waisenrente beziehe und von ihr, der Klägerin, Unterkunft, Verpflegung, Kleidung usw. erhalte. Sie hat beantragt, ihr die erhöhte Witwenrente über November 1980 hinaus zu gewähren.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 27. Mai 1982 die Klage abgewiesen, weil die Erziehung eines - gesunden - Kindes grundsätzlich mit dem Eintritt der Volljährigkeit ende. Es hat, nachdem die Beklagte zur Sitzungsniederschrift sich mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden erklärt hatte, im Urteil die Sprungrevision zugelassen.
Die Klägerin hat unter Bezugnahme auf die Erklärung der Beklagten die Sprungrevision eingelegt. Für ihre Ausführungen wird auf den Schriftsatz ihrer Prozeßbevollmächtigten vom 18. Oktober 1982 verwiesen. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sowie den Bescheid der Beklagten vom 14. Oktober 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr auch über November 1980 hinaus die erhöhte Witwenrente weiterzugewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Auf ihren Schriftsatz vom 11. November 1982 wird Bezug genommen.
II
Die Sprungrevision der Klägerin ist statthaft. Dabei kann dahinstehen, ob trotz des unbefristeten Klage- und Revisionsantrages das Rechtsmittel etwa nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume i.S. des § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) betrifft. Die Revision ist auch zulässig, da die Formvorschriften gewahrt sind. Die Klägerin hat in der Revisionsschrift auf die Zustimmungserklärung in den Akten des SG verwiesen und zugleich eine beglaubigte Abschrift der Sitzungsniederschrift vorgelegt, in der die Erklärung enthalten ist.
Die Revision ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil ist rechtmäßig. Der Klägerin steht, wie die Beklagte in dem Bescheid vom 14. Oktober 1980 zutreffend geregelt hat, die erhöhte Witwenrente nicht über den Monat November 1980 hinaus zu.
Die Witwenrente, die der Klägerin dem Grunde nach bindend bewilligt worden ist, beträgt als "kleine" Witwenrente sechs Zehntel der auf eine bestimmte Weise berechneten Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1268 Abs. 1 RVO). Sie beträgt jedoch als "große" Witwenrente sechs Zehntel der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne Kinderzuschuß, wenn die Witwe das 45. Lebensjahr vollendet hat oder solange die Witwe berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist oder mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind erzieht oder für ein Kind, das wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen Waisenrente erhält, sorgt (§ 1268 Abs. 2 Satz 1 RVO i.d.F. des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter vom 7. Mai 1975, BGBl. I 1061). Abgesehen von der hier streitigen Voraussetzung der Erziehung lag am Stichtag (30. November 1980) keine der sonstigen Voraussetzungen des § 1268 Abs. 2 RVO vor: Die Klägerin hatte das 45. Lebensjahr noch nicht vollendet, ihre Tochter erhielt die Waisenrente nicht wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen, und die Klägerin hat trotz einer entsprechenden Aufforderung der Beklagten nicht geltend gemacht, daß sie berufs- oder gar erwerbsunfähig sei.
Zu der hier allein noch in Frage kommenden Anspruchsvoraussetzung hat das SG festgestellt, daß die Tochter der Klägerin über den Stichtag hinaus wegen fortdauernder Berufsausbildung nach § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO Waisenrente bezog. Die Klägerin hat das Kind jedoch nicht über den Stichtag hinaus "erzogen", denn die Erziehung endet grundsätzlich mit dem Eintritt der Volljährigkeit.
Die RVO bestimmt den Begriff der Erziehung nicht selbst. Da der Begriff in erster Linie einen familienrechtlichen Bezug hat, ist für seinen Inhalt auf das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) zurückzugreifen.
Nach § 1626 Abs. 1 BGB haben der Vater und die Mutter das Recht und die Pflicht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge), wobei die elterliche Sorge die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) und das Vermögen des Kindes (Vermögenssorge) umfaßt. Die Personensorge umfaßt insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen (§ 1631 Abs. 1 BGB). Im Gegensatz zur Pflege, die mehr die körperliche Seite der Betreuung betrifft, ist Erziehung die Sorge für die sittliche, geistige und seelische Entwicklung des Kindes; sie ist der Inbegriff aller Maßnahmen, durch die das Kind zur Mündigkeit (Erwachsensein) gelangen soll (Palandt/Diederichsen, BGB, 41. Aufl., Anm. 2 zu § 1631). Die elterliche Sorge und damit auch die Personensorge endet für beide Elternteile mit der Volljährigkeit des Kindes, die nach § 2 BGB mit der Vollendung des 18. Lebensjahres eintritt.
Die Erziehung der Kinder ist das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht, über deren Betätigung die staatliche Gemeinschaft wacht (Art 6 Abs. 2 Grundgesetz - GG -). In Ausführung dieses Verfassungsgrundsatzes soll die große Witwenrente der Witwe die Möglichkeit verschaffen, sich ihrer gesetzlich normierten Erziehungsfunktion in vollem Umfang zu widmen, ohne durch eine Erwerbstätigkeit dabei beeinträchtigt zu werden; mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Kindes endet die Erziehungspflicht der Witwe (Bundesverfassungsgericht - BVerfG - SozR 2200 § 1268 Nr. 17 - Beschluß des Dreier-Ausschusses nach § 93a des Gesetzes über das BVerfG - BVerfGG -).
Der Senat hat bereits im Jahr 1967, also vor der Änderung des § 1268 Abs. 2 RVO, entschieden, daß die Erhöhung der Witwenrente wegen Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes jedenfalls dann entfällt, wenn das Kind volljährig wird (BSGE 27, 139, 140 = SozR Nr. 9 zu § 1268 RVO). Er hat diese Rechtsauffassung im Jahr 1974 grundsätzlich bestätigt; die damals zugelassene Ausnahme für den Fall, daß die Witwe für die Erziehung ihres auf dauernde Anleitung angewiesenen geistesschwachen - volljährigen - Kindes ständig Kraft und Zeit aufwendet (BSGE 38, 44, 45 = SozR 2200 § 1268 Nr. 3) beruht auf einer früheren Gesetzesfassung und bedarf hier keiner Erörterung. Auch der 5. Senat hat zwar zunächst entschieden, daß das Recht und die Pflicht der Eltern zur Erziehung ihres Kindes mit dem Eintritt der Volljährigkeit ende, dabei aber offen gelassen, ob im Einzelfall eine Erziehung auch nach Eintritt der Volljährigkeit erforderlich sein kann (SozR 2200 § 1268 Nr. 12); er hat jedoch später eine Ausnahme nicht mehr zugelassen, vielmehr die Frage, ob die rentenberechtigte Waise der finanziellen oder sonstigen Fürsorge durch die Witwe bedarf, als unbeachtlich bezeichnet (SozR a.a.O. Nr. 16). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten.
Mit dem BVerfG (a.a.O.) verkennt allerdings auch der Senat nicht, daß sich die Finanzierung der Ausbildung eines volljährigen Kindes durch die Witwe bei natürlicher Betrachtungsweise vielfach als eine Art Fortführung der Erziehung darstellen kann; rechtlich handelt es sich jedoch dabei nicht um Erziehung, sondern um Unterhalt, denn das volljährige Kind kann über seine Ausbildung eigenverantwortlich bestimmen.
Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Klägerin greifen nicht durch. Die Vorschrift des § 1268 Abs. 2 Nr. 2 RVO berührt nicht die wirtschaftliche Existenzsicherung der Witwe und deren verfassungsrechtlich geschütztes Eigentum. Die große Witwenrente wird vielmehr nur gewährt, "solange" die Witwe ein Kind erzieht; der Anspruch der Witwe ist von vornherein befristet und stellt allenfalls für die Zeit bis zur Volljährigkeit des Kindes ein grundgesetzlich geschütztes Eigentum dar, nicht aber darüber hinaus. Wenn der Anspruch der Witwe auf die höhere Witwenrente mit der Volljährigkeit unmittelbar kraft Gesetzes wegfällt (BSGE 32, 117, 119 = SozR Nr. 18 zu § 1268 RVO), so tritt nur das ein, was von vornherein feststand und worauf sich die Witwe deshalb einrichten konnte und mußte.
Ein Eingriff in das Eigentum der Klägerin ist auch nicht durch das Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters vom 31. Juli 1974 (BGBl. I 1713) erfolgt. Soweit das Gesetz Besitzstände der Witwen verringert hat, genügt die dreijährige Übergangsfrist des Art 10 Nr. 3 des Gesetzes den grundgesetzlichen Anforderungen.
Daß die Beendigung der großen Witwenrente mit der Volljährigkeit des Kindes nicht dem grundgesetzlichen Schutz der Familie (Art. 6 GG) widerspricht, hat das BVerfG eindeutig festgestellt (a.a.O.).
Die Revision der Klägerin war als unbegründet zurückzuweisen, die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.4 RJ 83/82
Bundessozialgericht
Verkündet
am 21. September 1983
Fundstellen