Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 01.10.1991) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der am 16. August 1910 geborene Kläger begehrt in einem Rücknahme- und Neufeststellungsverfahren nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) höheres Altersruhegeld unter Anrechnung weiterer Ersatzzeiten und Leistungen der Höherversicherung aus freiwilligen Beiträgen, die er während der streitigen Ersatzzeit entrichtet hatte.
Die Vormerkung einer Ersatzzeit für die Spanne vom 7. November 1935 (richtig 1. Dezember 1935 wegen der Überschneidung mit Pflichtbeitragszeiten) bis 30. September 1936, während der der Kläger als D. … Staatsangehöriger Wehrdienst beim IR 45 in M. … /O. … geleistet hatte, war von der Beklagten bereits in einem Verfahren auf Herstellung von Versicherungsunterlagen abgelehnt worden (Bescheide der Beklagten vom 11. Oktober 1971, 25. Juli 1972 idF des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1972). Die dagegen erhobene Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Fulda vom 18. Oktober 1974 – S 1a An 1/73, Urteil des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 16. März 1976 – L 2 An 64/75, 92/75). In den Bescheiden über das ab 1. September 1973 bewilligte Altersruhegeld (vom 12. März 1974 und 12. Juni 1974) blieben diese Zeiten deshalb unberücksichtigt. Mit Bescheid vom 17. August 1983 rechnete die Beklagte die Beitragszeiten des Klägers zur Landesversicherungsanstalt für Angestellte in Danzig in den Jahren 1926 bis 1939 nicht mehr wie bisher nach dem Fremdrentengesetz (FRG), sondern nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (DPSVA) an. Eine Änderung der Rentenhöhe ergab sich dadurch nicht. Gleichzeitig hielt sie in einem Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X hinsichtlich der begehrten Ersatzzeit vom 1. Dezember 1935 bis 30. September 1936 an den früheren Entscheidungen fest. Widerspruch, Klage, Berufung und Nichtzulassungsbeschwerde blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 1984; Urteil des SG Fulda vom 25. Mai 1984 – S 1a An 53/83; Urteil des Hessischen LSG vom 23. August 1988 – L 12 An 953/84; Beschluß des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 17. Januar 1989 – 4 BA 210/88). Schließlich stellte (aufgrund einer Zusage in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 23. August 1988) die Beklagte mit Bescheid vom 28. Oktober 1988 in einem ergänzenden Verfahren nach § 44 SGB X fest, daß weitere Ersatzzeiten von Juli bis Oktober 1939 nicht anerkannt werden könnten, da für die Monate Juli und August 1939 Beiträge entrichtet und im Versicherungsverlauf berücksichtigt und die Ersatzzeiten September und Oktober 1939 bereits anerkannt und der Rentenberechnung zugrunde gelegt worden seien. Hiergegen legte der Kläger keinen Rechtsbehelf ein.
Mit einem am 22. März 1989 beim SG Fulda eingegangenen Schriftsatz begehrte der Kläger erneut die Anerkennung der erwähnten Ersatzzeiten. Mit Bescheid vom 23. Mai 1989, der während dieses Klageverfahrens erging, stellte die Beklagte das Altersruhegeld des Klägers rückwirkend ab 1. Januar 1985 neu fest, indem sie eine Neubewertung des Monats März 1945 vornahm. Im Rahmen einer nochmaligen Überprüfung nach § 44 SGB X hielt sie an ihren früheren Bescheiden fest.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 22. Juni 1990 mit dem im Termin zur mündlichen Verhandlung eingeschränkten Antrag, den Bescheid vom 23. Mai 1989 abzuändern und die Zeit vom 3. Juli 1939 bis 31. August 1939 als Ersatzzeit anzuerkennen, abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat der Kläger aber sein ursprüngliches erstinstanzliches Begehren wieder aufgenommen und beantragt, die zur Angestelltenversicherung der Freien Stadt Danzig in den Jahren 1926 bis 1939 entrichteten Beiträge nicht nach dem DPSVA sondern nach dem FRG anzuerkennen. Darüber hinaus hat er als weitere Ersatzzeit die Zeit vom 1. Dezember 1935 bis 30. September 1936 geltend gemacht mit der Folge, daß aus den in der Zeit vom 1. Januar 1936 bis 31. März 1936 entrichteten freiwilligen Beiträgen zur Angestelltenversicherung der Freien Stadt Danzig Leistungen der Höherversicherung zu zahlen seien. Mit Urteil vom 1. Oktober 1991 hat das LSG die Beklagte unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung verpflichtet, die Danziger Zeiten nach dem FRG anzurechnen. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen: Die in der Versicherungskarte Nr 6 erwähnte militärische Dienstzeit vom 3. Juni 1939 bis 25. Oktober 1939 sei ab 1. September 1939 bereits als Ersatzzeit anerkannt. Die vorangegangene Zeit sei bereits mit Pflichtbeiträgen belegt, so daß daneben Ersatzzeiten nicht angerechnet werden könnten. Aber auch hinsichtlich der begehrten Ersatzzeit vom 1. Dezember 1935 bis 30. September 1936 bestehe keine Veranlassung, nach § 44 SGB X die bisherigen bestandskräftigen Entscheidungen der Beklagten, die mehrfach rechtskräftig bestätigt worden seien (Urteile des LSG vom 16. März 1976 und 23. August 1988), zurückzunehmen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er macht geltend, der Zeitraum vom 3. Juli 1939 bis 31. August 1939 könne nicht mit Pflichtbeiträgen belegt sein, denn in der Aufrechnungsbescheinigung auf der Versicherungskarte Nr 6 sei eine nachgewiesene Ersatzzeit vom 3. Juli 1939 bis 25. Oktober 1939 vermerkt. Die Beklagte habe die Ersatzzeit ab 1. September 1939 anerkannt, gleiches müsse auch für den Zeitraum ab 3. Juli 1939 gelten. Die Ersatzzeit vom 1. Dezember 1935 bis 30. September 1936 sei zu Unrecht nicht anerkannt worden. Er habe damals unstreitig Dienst in der Deutschen Wehrmacht geleistet. Aus der Tatsache, daß er damals in Danzig gemeldet gewesen sei, dürfe ihm kein Nachteil erwachsen. Er sei von Geburt an Reichsbürger gewesen (geboren in Kapstücken, Kreis Labiau, Ostpreußen). Damals sei aufgerüstet worden und deutsche Dienststellen hätten auf Danziger Gebiet Tarnorganisationen betrieben. Er habe in einer Wehrmachtseinheit im Reichsgebiet gedient, sei von der Wehrmacht besoldet worden, habe den deutschen Fahneneid geleistet und sei vom Gefreiten zum Unteroffizier befördert worden. Nach Anerkennung der Ersatzzeit seien aus den freiwilligen Beiträgen für die Monate Januar bis März 1936 Leistungen der Höherversicherung zu gewähren.
Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Oktober 1991 und unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Fulda vom 22. Juni 1990 sowie unter teilweiser Rücknahme der Bescheide vom 11. Oktober 1971 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1972, 12. März 1974, 12. Juni 1974, 17. August 1983 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Januar 1984 und 28. Oktober 1988 sowie vom 23. Mai 1989 die Beklagte zu verurteilen,
1. die Zeit vom 3. Juli 1939 bis 31. August 1939 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen und 2. die Zeit vom 1. Dezember 1935 bis 30. September 1936 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen und 3. die in der Zeit vom 1. Januar 1936 bis 31. März 1936 entrichteten freiwilligen Beiträge als Beiträge der Höherversicherung anzuerkennen;
- die Beklagte zu verpflichten, die außergerichtlichen Kosten in sämtlichen Rechtszügen (Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahren) dem Kläger zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Klägers ist unbegründet. Das Urteil des LSG ist, soweit es die Klage abgewiesen hat, im Ergebnis nicht zu beanstanden (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
Eine Sachentscheidung ist dem Senat allerdings nur hinsichtlich des Antrags, die Zeit vom 3. Juli 1939 bis 31. August 1939 als Ersatzzeit rentensteigernd zu berücksichtigen, möglich. Hinsichtlich der übrigen Streitpunkte steht einer gerichtlichen Entscheidung die (Teil-)Bestandskraft (Unanfechtbarkeit) des Bescheides vom 23. Mai 1989 entgegen. Die Rüge dieses Verfahrensmangels in der Revisionsinstanz ist nicht erforderlich, denn das Fehlen einer Prozeßvoraussetzung auch der „erstinstanzlichen” Klage wirkt fort und schließt eine Sachentscheidung des Revisionsgerichts aus (BSGE 2, 225, 227; 10, 218, 219; 25, 235, 236; 42, 212, 215).
Streitbefangen vor dem SG war allein der Bescheid vom 23. Mai 1989, wobei dahingestellt bleiben kann, ob dieser gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden ist, wie es die Beklagte und das SG angenommen haben, oder ob innerhalb offener Frist (fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung) spätestens mit Schriftsatz vom 21. Juni 1989 eine selbständige Klage erhoben wurde. Jedenfalls hat der Kläger seine zuletzt mit Schriftsatz vom 8. Mai 1990 gestellten umfassenden Anträge (Anerkennung der Danziger Zeiten nach dem FRG und nicht nach dem DPSVA, Anerkennung der Ersatzzeiten vom 1. Dezember 1935 bis 30. September 1936 und ab 3. Juli 1939, Umwandlung der freiwilligen Beiträge in Beiträge der Höherversicherung) lt Sitzungsniederschrift im Termin zur mündlichen Verhandlung am 22. Juni 1990 beschränkt (§ 99 Abs 3 Ziff 2 SGG) und nur noch begehrt, die Zeit vom 3. Juli 1939 bis 31. August 1939 als Ersatzzeit anzuerkennen. Dies geschah „nach ausführlicher Erörterung der Sachlage und der Rechtslage im Hinblick auf den Inhalt der Versicherungskarte Nr 6 der Angestelltenversicherung der Freien Stadt Danzig” mit dem rechtskundigen Prozeßbevollmächtigten des Klägers. Wie das SG und das LSG zutreffend festgestellt haben (zur Prüfungsbefugnis des Revisionsgerichts BSG SozR ZPO § 514 Bl Da 1 Nr 1) liegt darin gleichzeitig eine stillschweigende Klagerücknahme in den übrigen Punkten (vgl BSG SozR SGG § 102 Nr 10). Die Klagerücknahme erledigte insoweit den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Satz 2 SGG) – eine weitere Sachentscheidung hinsichtlich der erledigten Klagepunkte war dem SG und dem LSG verwehrt, weil insoweit der Bescheid vom 23. Mai 1989 in der Sache bindend wurde (§ 77 SGG).
Die Auffassung des LSG, über die erneut im Berufungsverfahren geltend gemachten weiteren Ansprüche könne „in erster Instanz” entschieden werden, weil es sich um eine Klageerweiterung im Sinne von § 99 Abs 3 Satz 2 SGG handle, die aus prozeßökonomischen Gründen sachdienlich sei, ist unzutreffend. Auch wenn die Beklagte mit einer Sachentscheidung einverstanden war, müssen für die geänderte Klage die Prozeßvoraussetzungen vorliegen, dh ein anfechtbarer Verwaltungsakt vorhanden sein, der noch keine (Teil-)Bestandskraft entfaltet. Zwar ergibt sich aus § 99 Abs 1 SGG und der eingeschränkten Anfechtungsmöglichkeit des § 99 Abs 4 ein von der Revisionsinstanz zu respektierender Ermessensspielraum des LSG, ob eine Klageänderung sachdienlich sei (vgl Meyer-Ladewig, Komm SGG, 4. Aufl, § 99 Anm 11 mwN). Wenn aber die geänderte Klage mangels Prozeßvoraussetzungen gleich wieder als unzulässig abgewiesen werden müßte, kommt die Ausübung von Ermessen nicht in Betracht. Das klagabweisende Urteil des LSG ist deshalb mit der Maßgabe zu bestätigen, daß die Klage, soweit sie in der Berufungsinstanz erneut erhoben wurde, als unzulässig und nicht als unbegründet abzuweisen ist.
Zutreffend hat das LSG festgestellt, daß die Anrechnung einer Ersatzzeit vom 3. Juli 1939 bis 31. August 1939 schon deshalb nicht erfolgen kann, weil dieser Zeitraum bereits mit Pflichtbeiträgen belegt ist. Nach § 28 Abs 2 Satz 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), der nach § 300 Abs 2 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) weiterhin anzuwenden ist, werden Ersatzzeiten für die Erfüllung der Wartezeit ua nur dann angerechnet, wenn „während der Ersatzzeit Versicherungspflicht nicht bestanden hat”. Gleichlautend ist auch die jetzige Regelung des § 250 Abs 1 SGB VI. Das LSG hat festgestellt, ausweislich der Versicherungskarte Nr 6 der Angestelltenversicherung der Freien Stadt Danzig, ausgestellt am 12. Februar 1938 und aufgerechnet am 22. Mai 1940, seien aber für die Monate Juli und August jeweils eine Beitragsmarke eingeklebt und jeweils am Ende des Monats vom Arbeitgeber entwertet worden. Die Vorinstanz hält für erwiesen, daß aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung Pflichtbeiträge entrichtet wurden. Der Arbeitgeber hatte, trotz der Einberufung des Klägers kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs am 3. Juli 1939, das Beschäftigungsverhältnis als nicht unterbrochen angesehen und die Pflichtbeiträge weiterentrichtet. Ab 1. September 1939 leistete der Kläger dagegen, nach Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit am 1. September 1939 (vgl § 1 Abs 1 Buchst d des Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit ≪StARegG≫ vom 22. Februar 1955 ≪BGBl I S 65≫ iVm § 4 der Verordnung über die Deutsche Volksliste und die deutsche Staatsangehörigkeit in den eingegliederten Ostgebieten vom 4. März 1941 ≪RGBl I S 118≫), Kriegsdienst. Die Monate September und Oktober 1939, für die nach der Versicherungskarte Nr 6 keine Beiträge geleistet wurden, sind deshalb als Ersatzzeiten anerkannt. Im übrigen wäre, selbst wenn es bei der Überschneidung von Ersatzzeiten mit Pflichtbeitragszeiten eine „Meistbegünstigungsregelung” geben würde, die vom Kläger begehrte „rentensteigernde” Anrechnung nicht möglich, denn die zwei Monate Pflichtbeiträge im Juli und im August 1939 gingen in die Rentenberechnung mit je 12,65 Werteinheiten ein. Als Ersatzzeiten wären sie mit dem bis zum 31. Dezember 1964 erreichten Durchschnittswert zu bewerten (vgl § 32a Abs 2 AVG). Dieser ist aber nach dem Rentenbescheid mit 10,42 wesentlich niedriger und würde durch die Herausnahme der höherbewerteten beiden Pflichtbeitragsmonate noch weiter absinken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen