Entscheidungsstichwort (Thema)
§ 1419 RVO und Wirksamkeit der Beitragsnachentrichtung nach Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG. Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch bei fehlendem Hinweis auf die Nachentrichtungsmöglichkeit
Orientierungssatz
1. § 1419 RVO steht der Wirksamkeit der Nachentrichtung gemäß Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG noch erforderlicher Beiträge für den Rentenanspruch nicht entgegen (vgl BSG vom 22.11.1988 5/4a RJ 79/87 = SozR 5750 Art 2 § 6 Nr 4).
2. Bei einem konkreten Anlaß, wie der Rentenantragstellung, hat der Versicherungsträger den Versicherten auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage getreten sind und deren Wahrnehmung offenbar so zweckmäßig ist, daß jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde, hier der Hinweis, daß für die Anwendung des alten Rechts nach Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG erforderliche Beiträge noch nachentrichtet werden können. Verletzt der Versicherungsträger diese ihm obliegende Nebenpflicht, so ist der daraus erwachsene sozialrechtliche Anspruch auf Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger seine Pflicht ordnungsgemäß erfüllt hätte (vgl BSG vom 22.11.1988 5/4a RJ 79/87 = SozR 5750 Art 2 § 6 Nr 4).
Normenkette
ArVNG Art 2 § 6 Abs 2 Fassung: 1983-12-22; RVO § 1418 Abs 1, §§ 1419, 1420 Abs 2, § 1246 Abs 2a
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 04.11.1988; Aktenzeichen L 6 J 63/88) |
SG Speyer (Entscheidung vom 05.02.1988; Aktenzeichen S 2 J 371/87) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Rente wegen Erwerbs- oder hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit noch erfüllen und ggf die erforderlichen Beiträge nachentrichten kann.
Einen im November 1983 gestellten Antrag des Klägers, ihm Versichertenrente zu gewähren, hatte die Beklagte mit Bescheid vom 25. April 1984, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 11. März 1985, abgelehnt. Auch im anschließenden Klageverfahren hatte der Kläger keinen Erfolg. Das Sozialgericht (SG) hatte seine Klage durch Urteil vom 21. Oktober 1985 abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) die Berufung am 13. Februar 1987 zurückgewiesen. Die dagegen beim Bundessozialgericht (BSG) eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hatte der Kläger am 5. Mai 1987 zurückgenommen.
Am 29. April 1987 beantragte der Kläger erneut die Rentengewährung, die die Beklagte mit Bescheid vom 1. Juli 1987 ablehnte.
Das SG hat die Klage des Klägers abgewiesen und seine Berufung das LSG wiederum zurückgewiesen (Urteile vom 5. Februar und 4. November 1988). Das LSG hat dem Kläger die begehrte Rente schon deshalb nicht zuerkannt, weil er die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der §§ 1246 und 1247, jeweils Abs 2a, der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht erfüllt habe. Letztmalig sei für ihn im April 1979 ein Versicherungsbeitrag entrichtet worden. Auch die Voraussetzungen der Übergangsregelung in Art 2 § 6 Abs 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) seien nicht erfüllt.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1247, 1418 bis 1420 RVO, Art 2 § 6 Abs 2 Nr 2 ArVNG sowie der §§ 103 und 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Außerdem habe das LSG die Grundsätze des Herstellungsanspruchs und den Gleichheitsgrundsatz nicht beachtet.
Der Kläger beantragt,
|
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. |
Juli 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente |
wegen Erwerbsunfähigkeit, |
hilfsweise,
|
wegen Berufsunfähigkeit ab 1. Mai 1987 zu gewähren, |
hilfsweise,
|
unter Aufhebung des Urteils des LSG die Sache zur erneuten Verhandlung |
und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. |
Die Beklagte beantragt,
|
die Revision des Klägers zurückzuweisen. |
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte. Die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits noch nicht zu.
Die Rentenansprüche aus den §§ 1246 und 1247 RVO setzen jeweils nach Abs 1 der genannten Vorschriften idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532) voraus, daß der Versicherte vor Eintritt der Berufs- bzw der Erwerbsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat. In § 1246 Abs 2a RVO, der für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 Abs 2a RVO entsprechend gilt, ist geregelt worden, unter welchen Voraussetzungen zuletzt vor Eintritt der Berufsunfähigkeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt worden ist. Diese Voraussetzungen hat der Kläger nach den mit der Revision nicht angegriffenen und daher für den erkennenden Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG nicht erfüllt. Davon geht auch der Kläger selbst aus.
Anders verhält es sich hingegen hinsichtlich der Übergangsregelung. Nach Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG gelten die §§ 1246 Abs 1 und 1247 Abs 1 RVO in der bis zum 31. Dezember 1983 geltenden Fassung ua dann weiter, wenn der Versicherte vor dem 1. Januar 1984 eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt (Nr 1) und jeden Kalendermonat in der Zeit vom 1. Januar 1984 bis zum Ende des Kalenderjahres vor Eintritt des Versicherungsfalls mit Beiträgen belegt hat (Nr 2). Über die erwähnten 60 Kalendermonate verfügt der Kläger. Der letzte Beitrag ist für ihn nach den Feststellungen des LSG jedoch schon für April 1979 entrichtet worden. Entgegen der Auffassung des LSG kann der Kläger die fehlenden Beiträge jedoch möglicherweise noch wirksam nachentrichten.
Freiwillige Beiträge sind gemäß § 1418 Abs 1 RVO wirksam, wenn sie vor Ablauf des Kalenderjahres, für das sie gelten sollen, entrichtet werden. Diese Frist wird nach § 1420 Abs 2 RVO gehemmt, wenn ein Verfahren über einen Rentenanspruch oder ein sozialgerichtliches Verfahren schwebt. Das traf im Falle des Klägers für die Zeit November 1983 bis Mai 1987 zu und das anhängige Verfahren ist eingeleitet worden durch den Rentenantrag des Klägers vom 29. April 1987. Wie der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 22. November 1988 (SozR 5750 Art 2 § 6 Nr 4) entschieden hat, wird der allgemeine Grundsatz, daß wirksam nachentrichtete Beiträge zur Rentenversicherung wie rechtzeitig entrichtete Beiträge zu behandeln sind, nicht durch Art 2 § 6 ArVNG durchbrochen. Nach § 1419 Abs 1 RVO dürfen zwar freiwillige Beiträge nach Eintritt der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit nicht mehr für die Zeit vorher entrichtet werden, es sei denn - so Abs 2 der genannten Vorschrift - der Versicherte hat sich vorher gegenüber einer zuständigen Stelle zur Entrichtung der Beiträge bereit erklärt. Ebenfalls im Urteil vom 22. November 1988 (aaO) hat der Senat entschieden, § 1419 RVO stehe einer Wirksamkeit der Nachentrichtung gemäß Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG noch erforderlicher Beiträge für den Rentenanspruch nicht entgegen.
In der genannten Entscheidung hat der erkennende Senat weiter ausgeführt, selbst wenn man die Anwendung des § 1419 RVO entgegen der Rechtsauffassung des Senats für möglich halten würde, müßte der Versicherte sich im Wege eines Herstellungsanspruchs nach Abs 2 der Vorschrift zur Nachentrichtung bereit erklären können. Bei einem konkreten Anlaß, wie der Rentenantragstellung, habe der Versicherungsträger den Versicherten auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die klar zutage getreten seien und deren Wahrnehmung offenbar so zweckmäßig sei, daß jeder verständige Versicherte sie mutmaßlich nutzen würde. Verletze der Versicherungsträger diese ihm obliegende Nebenpflicht, so sei der daraus erwachsene sozialrechtliche Anspruch auf Herstellung des Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger seine Pflicht ordnungsgemäß erfüllt hätte.
Es kann hier offen bleiben, ob die Voraussetzungen des § 1420 Abs 2 RVO nicht schon wegen der beiden nahtlos aneinander anschließenden Verfahren erfüllt sind und ob nicht die Frist des § 1418 Abs 1 RVO seit November 1983 durchgehend bis zum Ende dieses Rechtsstreits gehemmt ist. Jedenfalls mußte die Beklagte den Kläger beim Abschluß des Vorprozesses konkret darauf hinweisen, daß er die für die Anwendung des alten Rechts nach Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG erforderlichen Beiträge noch nachentrichten könne. Ob dies geschehen ist, läßt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen.
Für den Fall, daß die Beklagte einen entsprechenden Hinweis unterlassen hat, kann der Kläger die Herstellung des Zustandes verlangen, der bestehen würde, wenn die Beklagte sich pflichtgemäß verhalten hätte. Daraus folgt, daß der Kläger in diesem Fall Gelegenheit bekommen muß, die erforderlichen Beiträge nachzuentrichten. Davon wird das LSG bei der erneuten Entscheidung des Rechtsstreits auszugehen haben und gegebenenfalls auch prüfen müssen, ob der Versicherungsfall während des anhängigen gerichtlichen Verfahrens eingetreten ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen