Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 18.10.1990) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Oktober 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit. Umstritten ist hierbei, ob er als Kraftfahrer den Berufsschutz eines Facharbeiters genießt.
Der im Jahr 1933 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt, er war seit 1951 mit Unterbrechungen als Kraftfahrer, ab 1980 im internationalen Fernverkehr versicherungspflichtig beschäftigt. Anschließend bezog er vom 14. März bis zum 30. Juni 1988 Arbeitslosenhilfe und ab 1. Juli 1988 Krankengeld. Den im Mai 1988 gestellten Rentenantrag wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 19. September 1988 ab, mit der Begründung, nach ärztlicher Beurteilung sei der Kläger noch in der Lage, vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein.
Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 24. Januar 1990, Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 18. Oktober 1990). Das LSG hielt den Kläger auf Grund der durchgeführten Beweisaufnahme noch für fähig, vollschichtig leichte sowie zeitweilig mittelschwere Arbeiten im Wechselrhythmus von Sitzen, Stehen und Gehen ohne einseitige Körperhaltung, ohne Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten im Gewicht von mehr als zehn Kilogramm, ohne Bücken oder Knien, unter Schutz vor Kälte und Nässe, ohne Überkopfarbeiten oder Arbeiten auf Leitern und Gerüsten vollschichtig zu verrichten. Damit sei der Kläger in der Lage, Maschinen-, Montage- und Einpackarbeiten sowie Arbeiten als Wächter, Aufseher oder Pförtner auszuführen. Auf diese Tätigkeiten müsse sich der Kläger verweisen lassen, obwohl sie dem allgemeinen Arbeitsfeld zuzuordnen seien. Er genieße nicht den Berufsschutz eines Facharbeiters, obwohl er nach seinen Kenntnissen und Fertigkeiten einem gelernten Berufskraftfahrer gleichstehe. Dieser Beruf erfordere keine Ausbildung von mehr als zwei Jahren. Eine längere Ausbildungsdauer sei auch nicht deshalb zugrunde zu legen, weil die Ausbildung nicht schon nach dem Hauptschulabschluß, sondern üblicherweise erst später begonnen werde. Die Ausbildung zum Berufskraftfahrer werde regelmäßig schon vor Vollendung des 21. Lebensjahres begonnen, so daß es sich nicht um einen sog „Erwachsenenberuf” handele.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich der Kläger mit seiner vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) und trägt hierzu vor, die Dauer der Ausbildung sei nur ein Merkmal für die Einordnung eines Berufes in das von der Rechtsprechung entwickelte Mehrstufenschema. Daneben seien noch der Umfang der Ausbildung und die besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit zu berücksichtigen. Dies habe das LSG nicht beachtet. Die Qualität des Kraftfahrerberufs lasse sich nicht allein mit der Dauer der vorgeschriebenen Ausbildung charakterisieren. Der Berufskraftfahrer müsse über persönliche Zuverlässigkeit und ein hohes Verantwortungsbewußtsein verfügen. Aus diesem Grunde seien die Berufskraftfahrer in den Tarifverträgen auch als Facharbeiter eingestuft. Im übrigen könne der Berufskraftfahrer nach Ablegung der Abschlußprüfung und entsprechender Berufspraxis die Prüfung als Kraftverkehrsmeister ablegen. Die Möglichkeit zur Ablegung der Meisterprüfung bestehe für andere Anlernberufe nicht.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 24. Januar 1990 sowie den Bescheid der Beklagten vom 19. September 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, mit dem ihm ab 1. Juni 1988 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit bewilligt wird.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung über das Vorliegen von Berufsunfähigkeit beim Kläger nicht aus. Zu Unrecht hat das LSG den bisherigen Beruf des Klägers als Kraftfahrer allein im Hinblick auf die Regelausbildung von zwei Jahren lediglich der Berufsgruppe der Angelernten im oberen Bereich zugeordnet und von da aus den Kreis der dem Kläger zumutbaren Verweisungstätigkeiten bestimmt.
Nach § 1246 Abs 2 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit in Folge von Krankheit oder Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach dem die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Den Maßstäben, die hiernach zugrunde zu legen sind, um die Qualität des bisherigen Berufs des Versicherten zu bestimmen, ist das Berufungsgericht nicht gerecht geworden. Es hat der Dauer der Ausbildung, die für den Berufskraftfahrer vorgesehen ist, das entscheidende Gewicht beigemessen, ohne die übrigen im Gesetz genannten Merkmale angemessen zu berücksichtigen.
Allerdings hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein Mehrstufenschema entwickelt, das die Berufstätigkeiten in die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters unterteilt. Dabei wurde als gedankliche Voraussetzung von der Annahme ausgegangen, daß die Dauer einer Ausbildung gleichbedeutend mit dem Maß an beruflicher Qualifikation ist, die die Ausbildung dem Versicherten vermittelt. Bei einem Facharbeiterberuf (Ausbildungsdauer mehr als zwei Jahre) begründet demnach allein der erfolgreiche Abschluß und die Beschäftigung in dem betreffenden Berufsfeld den Berufsschutz als Facharbeiter. Damit ist aber zugleich die Aussage verbunden, daß auch andere Tätigkeiten der Berufsgruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen sind, wenn die Ausbildungsdauer zwar nicht allein, wohl aber in Verbindung mit den übrigen in § 1246 Abs 2 RVO genannten Merkmalen der Berufstätigkeit, insbesondere dem Umfang der Ausbildung und den Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit, ein Anforderungsprofil ergibt, das dem eines Facharbeiters gleichwertig ist. Es kommt hier auf ein Gesamtbild an.
In diesem Rahmen hat das BSG zwei Gesichtspunkten Bedeutung beigemessen: Zum einen der abstrakten „tarifvertraglichen” Klassifizierung einer Tätigkeitsart (im Sinne eines verselbständigten Berufsbildes) innerhalb eines nach Qualitätsstufen geordneten Tarifvertrages (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164), zum anderen der „tariflichen” Zuordnung der konkreten zuletzt ausgeübten Tätigkeit eines Versicherten zu einer Berufssparte, dh seiner individuellen tariflichen Eingruppierung durch den Arbeitgeber (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 168, 169). In beiden Bereichen sind die Folgerungen für die Wertigkeit einer Arbeit jedoch verschieden.
Soweit die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Berufsart im Tarifvertrag aufführen und einer Tarifgruppe zuordnen, kann in der Regel davon ausgegangen werden, daß die tarifvertragliche Einstufung der einzelnen in einer Tarifgruppe genannten Tätigkeiten auf deren Qualität beruht (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 46, 111, 116, 122, 123, 164). Denn die Tarifpartner als die unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligten nehmen relativ zuverlässig eine Bewertung von Berufstätigkeiten vor, die den Anforderungen auch des Mehrstufenschemas und der Qualität des Berufs in bezug auf die nach § 1246 Abs 2 RVO maßgeblichen Merkmale entspricht. Demgemäß läßt die abstrakte (tarifvertragliche) Einordnung einer bestimmten Berufstätigkeit in eine Tarifgruppe, die hinsichtlich der Qualität der in ihr aufgeführten Arbeiten durch den Leitberuf des Facharbeiters geprägt ist, in der Regel den Schluß zu, daß diese Berufstätigkeit als Facharbeitertätigkeit zu qualifizieren ist (zusammenfassend Urteil des erkennenden Senats vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 69/90 – zur Veröffentlichung bestimmt). Von dem Grundsatz, daß von der tariflichen Einstufung einer Berufsart auszugehen ist, werden in der Rechtsprechung des BSG Ausnahmen nur anerkannt, wenn die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 101 S 311, 123 S 389 und Urteil vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Der tariflichen Eingruppierung des einzelnen Versicherten durch den Arbeitgeber kommt demgegenüber eine andere Bedeutung zu. Sie ist zwar ein Indiz dafür, daß die von dem Versicherten ausgeübte Tätigkeit in ihren Merkmalen und ihrer Wertigkeit der Berufs- und Tarifgruppe entspricht, nach der er bezahlt wird. Die Richtigkeit dieser tariflichen Eingruppierung kann insoweit aber durchaus widerlegt werden (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 77).
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist dem LSG darin zu folgen, daß der Kläger nicht ohne weiteres der Gruppe der Facharbeiter zugeordnet werden kann, weil sein bisheriger Beruf des Kraftfahrers keine mehr als zweijährige Ausbildung erfordert (Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer vom 26. Oktober 1973 – BGBl I, 1519; s dazu zB BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 140, 149; Urteil des erkennenden Senats vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 25/89 –).
Dies schließt aber nicht aus, im Hinblick auf die anderen in § 1246 Abs 2 RVO genannten Merkmale dem Kläger einen Berufsschutz als Facharbeiter zuzubilligen, wenn das Gesamtbild der Anforderungen im Rahmen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit für die Tarifpartner Veranlassung war, diese Tätigkeit tariflich den Facharbeitertätigkeiten gleichzustellen.
Das LSG durfte sich nach alledem nicht damit begnügen, die Zuordnung des Klägers als Berufskraftfahrer zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters allein wegen der nur zweijährigen Ausbildungsdauer zu verneinen. Da es keine ausreichenden Feststellungen zur tariflichen Einstufung des Klägers getroffen hat, ist der Senat an einer Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch gehindert und muß die Sache zur Nachholung der erforderlichen Ermittlungen an das LSG zurückverweisen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung zunächst festzustellen haben, wie die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Berufskraftfahrer (ihrer Art nach) tariflich eingestuft ist. Handelt es sich dabei um eine Facharbeitergruppe und ergeben sich keine Anhaltspunkte, daß die Einstufung durch qualitätsfremde Merkmale bestimmt ist, ist ferner zu ermitteln, ob der Kläger nach den qualitativen Anforderungen seiner Arbeit in diese Tarifgruppe eingruppiert wurde oder einzugruppieren gewesen wäre. Die tatsächliche Zuordnung zu einer Berufsgruppe des Tarifvertrages durch den Arbeitgeber ist ein Indiz, das jedoch seine Bedeutung verliert, wenn erkennbar ist, daß die Einstufung unrichtig war (s dazu ua BSG SozR 2200 § 1248 Nr 77).
Sofern für das Arbeitsverhältnis des Klägers kein Tarifvertrag anzuwenden war, ist auf denjenigen Tarifvertrag zurückzugreifen, der für den Beschäftigungsbetrieb gegolten hätte, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden gewesen wäre (BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 18).
Da in einem solchen Fall keine tarifliche Eingruppierung vorliegt, an der sich die weitere konkrete Prüfung orientieren kann, ist im einzelnen nachzuprüfen, in welche Tarifgruppe der Kläger nach der Art seiner Tätigkeit einzustufen gewesen wäre (s hierzu als Beispiel BAG 13. November 1991 – 4 AZR 131/91 -AP Nr 3 zu § 1 TVG Tarifverträge Brauereien).
Ergibt sich hieraus, daß die letzte Tätigkeit des Klägers als Berufskraftfahrer tariflich die eines Facharbeiters war, dann gilt dies auch für ihre Einordnung in das Mehrstufenschema. Der bisherige Beruf des Klägers wäre dann der eines Facharbeiters mit der Folge, daß der Kreis der zumutbaren Verweisungstätigkeiten vom LSG anders bestimmt werden müßte. Insbesondere könnte der Kläger nicht mehr auf das allgemeine Arbeitsfeld verwiesen werden. Hierzu wären ebenfalls weitere Feststellungen erforderlich.
Der Rechtsstreit war daher unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten zu entscheiden haben wird.
Fundstellen