Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensmangel. Amtsermittlungspflicht. Sachaufklärung

 

Orientierungssatz

§ 103 SGG ist verletzt, wenn der vom SG ernannte ärztliche Sachverständige in seinem Gutachten und in seiner ergänzenden Stellungnahme dazu die Unzulänglichkeit der in Polen durchgeführten Untersuchungen bemängelt hat, das Berufungsgericht aber der offengebliebenen Frage, ob weitere Schädigungsfolgen vorliegen, nicht nachgegangen ist.

 

Normenkette

SGG § 103

 

Verfahrensgang

SG Stuttgart (Entscheidung vom 17.11.1989; Aktenzeichen S 3 V 4181/88)

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 07.09.1990; Aktenzeichen L 8 V 267/90)

 

Tatbestand

Der 1923 geborene Kläger leistete seit Juni 1943 Kriegsdienst und wurde am 20. September 1944 bei einem Luftangriff durch einen Granatsplitter am Hinterkopf verletzt. Außerdem erlitt er im April 1945 als Soldat bei einem Fahrzeugunfall eine Verletzung am linken Knie. Mit Schreiben vom 14. Dezember 1984 beantragte er im Januar 1985 Beschädigtenrente und Bewilligung einer Badekur. Der Beklagte veranlaßte seine Untersuchung durch eine Nervenärztin und durch einen Chirurgen in Polen und ließ die Befunde durch seinen ärztlichen Dienst (Dr. St ) auswerten. Mit Bescheid vom 24. Februar 1988 erkannte der Beklagte "Narben am Hinterhaupt und am linken Kniegelenk" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) unter 25 vH als Schädigungsfolgen an und lehnte die Gewährung einer Teilversorgung ab. Ebenso weigerte er sich, eine Badekur zu bewilligen (Bescheid vom 15. März 1988). Die Widersprüche des Klägers wies er mit Widerspruchsbescheiden vom 14. Juli 1988 und 2. August 1988 zurück. Die Klage zum Sozialgericht (SG) Stuttgart blieb erfolglos. Das SG ernannte den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. U , K , zum Sachverständigen, der sein Gutachten vom 5. Januar 1989 nach Einholung weiterer Befunde aus Polen mit Stellungnahme vom 13. September 1989 ergänzte. In der ergänzenden Stellungnahme bemängelte er, die in Polen erhobenen Befunde seien immer noch unvollständig, weil sie keine ausgeblendete Röntgenaufnahme des Hinterkopfes enthielten. Das vom Kläger geltend gemachte "große Knochengewächs am Hinterkopf" sei zwar durch die vorhandenen Röntgenaufnahmen widerlegt. Die im Gutachten vom 5. Januar 1989 diskutierte Bildung einer gutartigen Geschwulst am Hinterkopf sei jedoch nicht auszuschließen. Mit Urteil vom 17. November 1989 wies das SG die Klage ab. Die Berufung des Klägers zum Landessozialgericht (LSG) blieb erfolglos (Urteil vom 7. September 1990). Das LSG hielt die Berufung hinsichtlich beider Klagepunkte (Beschädigtenrente und Badekur) für zulässig, eine Schädigungsfolge mit rentenberechtigendem Ausmaß jedoch nicht für feststellbar. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers war erfolgreich. Mit Beschluß vom 11. September 1991 ließ das Bundessozialgericht (BSG) die Revision zu. Es ging von einem Beweisantrag auf erneute Untersuchung und Befunderhebung aus, dem das LSG ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt ist. Mit der daraufhin fristgerecht eingelegten Revision rügt der Kläger die Verletzung der Amtsermittlungspflicht.

Er beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 17. November 1989 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. September 1990 sowie den Bescheid des Versorgungsamtes R vom 24. Februar 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 14. Juli 1988 aufzuheben und das beklagte Land zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolge posttraumatische Enzephalopathie und Kopfschmerzen festzustellen und dem Kläger ab 1. Januar 1985 Beschädigtenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren sowie eine Badekur zu bewilligen (sinngemäß wird auch die Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamtes R vom 15. März 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 1988 beantragt).

Hilfsweise beantragt der Kläger,

den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung gemäß § 170 Abs 2 SGG zurückzuverweisen.

Der Beklagte hat zur Revisionsbegründung keine Stellung genommen und auch keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Der Rechtsstreit ist an das LSG zurückzuverweisen; sein Urteil beruht auf der Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG); nach dieser Bestimmung hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Es ist verpflichtet, alle Tatsachen zu ermitteln, die für die Entschädigung in materieller Hinsicht von Bedeutung sind. Dieser Verpflichtung ist das LSG nicht gerecht geworden. Der vom SG ernannte gerichtliche Sachverständige Dr. U hat sowohl in seinem Gutachten vom 5. Januar 1989 als auch in seiner ergänzenden Stellungnahme dazu vom 13. September 1989 die Unzulänglichkeit der in Polen durchgeführten Untersuchungen des Klägers bemängelt. Damit ermöglichen auch seine eigenen gutachterlichen Äußerungen keine erschöpfende Aufklärung des maßgeblichen medizinischen Sachverhalts. Es bleibt nach dem bisherigen Verfahrensergebnis möglich, daß der Kläger an weiterreichenden als den anerkannten Schädigungsfolgen (Narben am Hinterhaupt und am linken Knie) leidet. Insbesondere ist nach den bisher vom LSG getroffenen Feststellungen nicht auszuschließen, daß der Kläger schädigungsbedingt an einer gutartigen Geschwulst am Hinterhaupt leidet. Das LSG hatte daher Anlaß, der offengebliebenen Frage nachzugehen, ob die vom Kläger im September 1944 am Hinterhaupt erlittene Splitterverletzung weitere als die bisher festgestellten Schädigungsfolgen hinterlassen hat. Da dem Senat eigene Feststellungen hierzu verwehrt sind (§ 163 SGG), ist der Rechtsstreit gemäß § 170 Abs 2 SGG zur Vervollständigung der vom SG getroffenen Ermittlungen zurückzuverweisen. Es ist dem LSG überlassen, den Kläger nunmehr in Deutschland durch deutsche Ärzte untersuchen zu lassen oder zu versuchen, durch einen gezielten Untersuchungsauftrag an polnische Ärzte eine geeignete Gutachtengrundlage zu schaffen.

Die Kostenentscheidung ist der Endentscheidung vorzubehalten.

Die Entscheidung kann gemäß § 124 Abs 2 SGG nach Lage der Akten ergehen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174711

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