Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhöghung des gewährten Pflegegelds um mehr als den zur freiwilligen Weiterversicherung des Ehepartners in der gesetzlichen Rentenversicherung erforderlichen Mindestbeitrag
Beteiligte
… Kläger und Revisionsbeklagter |
Bau-Berufsgenossenschaft Wuppertal,Wuppertal 1, Viktoriastraße 21, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob das dem Kläger gewährte Pflegegeld um mehr als den zur freiwilligen Weiterversicherung seiner Ehefrau in der gesetzlichen Rentenversicherung erforderlichen Mindestbeitrag zu erhöhen ist.
Der im Jahre 1926 geborene Kläger ist wegen der Folgen eines im September 1975 erlittenen Arbeitsunfalls so hilflos, daß ihn seine Ehefrau, die deshalb auf eine im September 1975 vorgesehene Wiederaufnahme ihrer beruflichen Tätigkeit verzichtete, bei den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens wartet und pflegt. Neben der Vollrente gewährt ihm die Beklagte ein monatliches Pflegegeld in Höhe von 60 vH des in § 558 Abs 3 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) jeweils vorgesehenen Höchstbetrages (Bescheid vom 15. Dezember 1977).
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 5. Juni 1981 und Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 1982 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Übernahme der Beitragszahlungen zur gesetzlichen Rentenversicherung seiner Ehefrau oder auf entsprechende Erhöhung des Pflegegeldes ab. Unter Hinweis auf die Neuregelung über die Aufrechterhaltung von Anwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung beantragte der Kläger im September 1985 erneut die Übernahme von freiwilligen Beiträgen zur Rentenversicherung seiner ihn nach wie vor pflegenden Ehefrau in Form einer Erhöhung des Pflegegeldes.
Mit Bescheid vom 23. Januar 1986 erhöhte die Beklagte, gestützt auf § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) und § 558 Abs 3 Satz 5 RVO, das Pflegegeld um den zur freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung erforderlichen Mindestbeitrag. Den auf eine weitergehende Erhöhung gerichteten Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit der Begründung zurück, seine Ehefrau sei keine "fremde" Person iS des § 558 Abs 3 Satz 5 RVO. Deshalb beruhe die Erhöhung nicht auf § 558 Abs 3 Satz 5 RVO, sondern auf der Härtefallregelung des § 563 RVO. Die Erhöhung um den Mindestbeitrag sei im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation des Klägers und die tatsächlich erfolgte Beitragsentrichtung angemessen; sie erscheine daher nicht ermessensfehlerhaft (Widerspruchsbescheid vom 5. August 1986).
Während das Sozialgericht (SG) die hiergegen erhobene Klage abgewiesen hat (Urteil vom 8. Juli 1987), hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Beklagte verpflichtet, bei der Berechnung der Rentenversicherungsbeiträge, um die das Pflegegeld zu erhöhen sei, die Höhe des jeweiligen Pflegegeldes zugrundezulegen; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18. Januar 1989). Zur Begründung hat es ua ausgeführt, der Anspruch des Klägers beruhe auf § 568 Abs 3 Satz 5 RVO, wonach das Pflegegeld angemessen erhöht werden könne, wenn die Aufwendungen für fremde Wartung und Pflege den Betrag des Pflegegeldes überstiegen. Unter einer angemessenen Erhöhung könne nicht nur eine solche entsprechend der Mindestbeitragszahlung zur gesetzlichen Rentenversicherung zu verstehen sein; vielmehr ergebe sich eine sinnvolle Auslegung des in vollem Umfang nachprüfbaren unbestimmten Rechtsbegriffs "angemessen", wenn man sich an der Höhe des Pflegegeldes orientiere.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung der §§ 558 Abs 3 Satz 5 und § 563 RVO. Der unterschiedliche Wortlaut des Absatzes 1 Satz 1 und des Absatzes 3 Satz 5 des § 558 RVO schließe eine Erhöhung des Pflegegeldes gemäß Absatz 3 Satz 5 dieser Vorschrift bei einer Pflege durch einen Familienangehörigen aus. In solchen Fällen sei § 563 RVO anwendbar, der einen Ausgleich unbilliger Härten vorsehe. Zu Unrecht habe das LSG auch eine "Ermessensreduzierung auf Null" angenommen; insoweit habe das Berufungsgericht ohne jede Bezugnahme auf die finanzielle Gesamtsituation des Klägers unterstellt, es sei ihm nicht zumutbar sei, die freiwillige Weiterversicherung aus seiner Altersrente, seiner Verletztenrente und seinem Pflegegeld zu bestreiten. Schließlich rügt die Beklagte, daß sie sowohl die entsprechenden Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberanteile zu tragen habe.
Die Beklagte beantragt nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,das Urteil des LSG vom 18. Januar 1989 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 8. Juli 1987 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist teilweise begründet.
Entgegen der Auffassung der Beteiligten und der Vorinstanzen ist Rechtsgrundlage des vom Kläger geltend gemachten Erhöhungsanspruchs weder § 558 Abs 3 Satz 5 RVO noch § 563 RVO, sondern § 558 Abs 3 Satz 1 RVO. Da die Beklagte wegen der Anwendung der unrichtigen Rechtsgrundlage das ihr durch diese Vorschrift eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt hat, ist auf ihre Revision das angefochtene Urteil zu ändern, soweit es sie verpflichtet, bei der Berechnung der Rentenversicherungsbeiträge, um die das Pflegegeld zu erhöhen ist, die Höhe des jeweiligen Pflegegeldes zugrundezulegen. Soweit die Beklagte in den insoweit nicht bestandskräftigen und angefochtenen Bescheiden einen über den Mindestbeitrag zur freiwilligen Weiterversicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung hinausgehenden Erhöhungsanspruch verneint hat, ist sie verpflichtet, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu bescheiden. Die Rechtsstellung der Beklagten, die sie durch die vorinstanzlichen Urteile erlangt hat, ist durch dieses Ergebnis nicht verschlechtert. Der Umfang der Erhöhung ist anders als nach der Entscheidung des LSG offen. Damit liegt auch kein Verstoß gegen das Verbot der reformatio in peius vor (s BSGE 2, 225, 228/229; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 250a mwN).
Nach § 558 Abs 3 Satz 1 RVO kann einem Versicherten, welcher der Wartung und Pflege iS des Absatzes 1 Satz 1 dieser Vorschrift bedarf, statt der erforderlichen Pflege ein Pflegegeld gewährt werden. Dies gilt auch dann, wenn die Pflege nicht von einer bezahlten Pflegekraft, sondern von der Ehefrau des Versicherten erbracht wird (BSG SozR Nr 2 zu § 558 RVO; Brackmann aaO S 560p mwN; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 558 Anm 7). Das durch diese Vorschrift ("kann") eröffnete Ermessen (s § 39 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - -SGB -I-) erstreckt sich nicht nur auf die Entscheidung, ob statt der Gewährung der Sachleistung ein Pflegegeld gezahlt wird, sondern auch darauf, in welcher Höhe dies innerhalb des von § 558 Abs 3 Satz 2 RVO vorgegebenen Rahmens geschieht (Urteil des Senats vom 25. August 1970 - 2 RU 166/67 -, Brackmann aaO S 560u). Dadurch wird der Verwaltung die Möglichkeit eröffnet, nach eigener Abwägung dem Zweck der Ermächtigung entsprechend zwischen mehreren rechtmäßigen Handlungsweisen zu wählen (s BSGE 26, 146, 153). Daher lassen sich für die Bestimmung der Höhe des Pflegegeldes keine generell verbindlichen Kriterien festlegen. Maßgebend sind vielmehr im Einzelfall die individuellen Verhältnisses des Verletzten. Bei der Abwägung kommen als maßgebende Kriterien nicht nur die Art und Schwere der Verletzung sowie das Ausmaß der konkreten Hilflosigkeit, sondern auch der Umfang der tatsächlich gewährten Hilfe und die dadurch bedingten Kosten in Betracht (s BSG SozR 2200 § 558 Nr 1; Brackmann aaO S 560r; Lauterbach/Watermann aaO § 558 RdNr 17). Die vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (s VB 10/86, abgedruckt bei Lauterbach/Watermann aaO § 558 RdNr 17) herausgegebenen, auf das Ausmaß der Hilflosigkeit abstellenden "Anhaltspunkte für die Bemessung von Pflegegeld" beinhalten zwar wichtige, aber nicht alle maßgebenden Beurteilungskriterien. Sie dürfen daher nicht schematisch angewendet werden (Lauterbach/Watermann aaO § 558 RdNr 17). Bei der Feststellung der Höhe des Pflegegeldes nach § 558 Abs 3 Sätze 1 und 2 RVO gehört auch zur notwendigen sachgerechten Würdigung der im Einzelfall gegebenen Verhältnisse die Frage der Aufwendungen des Verletzten, die zur Absicherung der ihn pflegenden Ehefrau in der gesetzlichen Rentenversicherung erforderlich sind.
Erst wenn aufgrund der Ermessensentscheidung iS des § 558 Abs 3 Satz 1 RVO der Höchstbetrag des Satzes 2 dieser Vorschrift erreicht ist, stellt sich die Frage, ob besondere Umstände vorliegen, die nach der Ausnahmevorschrift des § 558 Abs 3 Satz 5 RVO im Rahmen einer eigenständigen Ermessensentscheidung zu einer Erhöhung des Pflegegeldes über den vorgesehenen Höchstbetrag hinaus führen können. Der Betrag des Pflegegeldes, der nach § 558 Abs 3 Satz 5 RVO angemessen erhöht werden kann, ist der Höchstbetrag des § 558 Abs 3 Satz 2 RVO. Denn eine Erhöhung im Rahmen dieser Vorschrift hätte keiner Sondervorschrift bedurft (Brackmann aaO S 560t; Lauterbach/Watermann aaO § 558 Anm 19; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl, Kennzahl 345 S 5; s in diesem Sinne auch den Schriftlichen Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, BT-Drucks IV/938 (neu) S 8 zu § 558).
Unter Beachtung dieser Grundsätze hätte die Beklagte auf den Erhöhungsantrag des Klägers zunächst eine Ermessensentscheidung iS von § 558 Abs 3 Satz 1 RVO darüber herbeiführen müssen, ob und in welchem Umfang das zu diesem Zeitpunkt 60 vH des Höchstsatzes des § 558 Abs 3 Satz 2 RVO betragende Pflegegeld aufgrund der im Rentenversicherungsrecht eingetretenen Rechtsänderung (s insbesondere Art 2 § 6 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983 - BGBl I S 1532 -) neu zu bemessen ist. Nur falls sie aufgrund dieser Prüfung zur Festsetzung des Höchstbetrages des § 558 Abs 3 Satz 2 RVO gelangt wäre, hätte sie eine eigenständige Ermessensentscheidung nach Satz 5 der Vorschrift sowie - im Fall eines negativen Ergebnisses der Prüfung - nach der Härtefallregelung des § 563 RVO treffen müssen.
Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden. Dadurch daß der angefochtene Bescheid idF des Widerspruchsbescheides (s § 95 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) auf einer unrichtigen Rechtsgrundlage beruht, ist die zwar im Widerspruchsbescheid enthaltene, aber nur zu § 563 RVO vorgenommene Ermessensabwägung nicht tragfähig. Sie kann auch nicht wie eine Ermessensentscheidung iS von § 558 Abs 3 Sätze 1 und 2 RVO behandelt und einer auf diese Vorschrift ausgerichteten Prüfung auf Ermessensfehler unterzogen werden. Dies folgt aus dem unterschiedlichen Zweck, den der Gesetzgeber mit der Einräumung des Ermessensspielraums in den genannten Vorschriften verfolgt. Der Normzweck ergibt sich in erster Linie aus der Entstehungsgeschichte und dem Regelungsbereich einer Vorschrift sowie ihrem Kontext, also ihrer systhematischen Stellung im Gesetz (s Bley im SGB - SozVers - Ges Komm, § 39 SGB I Anm 5b). Erst recht hat der durch eine Härtefallregelung wie § 563 RVO eröffnete Handlungsspielraum daher von vornherein andere Grundlagen als der im Rahmen einer bestimmten Leistungsnorm desselben Rechtsgebiets begründete Ermessensfreiraum. Während die Leistungsnorm, hier also § 558 Abs 3 Satz 1 RVO, eine möglichst individuelle, aber doch gleichmäßige Behandlung aller Versicherten in einer typischen Bedarfssituation ermöglichen soll, hat eine Härtefallregelung wie § 563 RVO eine Ergänzungsfunktion. Sie ermöglicht es, bei der Abwägung im Einzelfall gerade auch solche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die im Rahmen der konkreten Leistungsnorm keine oder nur eine eingeschränkte Rolle spielen können. Durch diese Elastizität und Flexibilität können vereinzelt Lücken im Leistungssystem geschlossen bzw untypischen Bedarfssituationen Rechnung getragen werden (s Bley aaO mwN). Den angefochtenen Bescheiden fehlt daher eine dem Normzweck entsprechende Ermessensausübung. Dabei wird die Beklagte auch die Verwaltungspraxis und Rechtsprechung zu § 69 Abs 2 Bundessozialhilfegesetz in ihre Erwägungen insofern einbeziehen müssen, als die dort für angemessen angesehenen Aufwendungen jedenfalls nicht unterschritten werden sollten (Mergler/Zink ua, Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl, § 69 Rdnr 56a).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen