Entscheidungsstichwort (Thema)
Aberkennung von Entschädigungsrente wegen Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit. Mitglied des Politbüros der ehemaligen DDR. Unmenschlichkeit und Unverhältnismäßigkeit der Grenzsicherungsanlagen
Leitsatz (amtlich)
1. Der Senat hält daran fest, daß die Ermächtigung zur Aberkennung einer Entschädigungsrente bei Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit mit Grundgesetz und Völkerrecht vereinbar ist (vgl BSG vom 30.1.1997 – 4 RA 99/95 = BSGE 80, 72 = SozR 3-8850 § 5 Nr 2). Derartige Verstöße muß sich der Hinterbliebene zurechnen lassen, wenn er aus abgeleitetem Recht eine Entschädigungsrente beansprucht.
2. Durch den rückwirkend zum 1.5.1992 in Kraft getretenen § 5 Abs 3 S 1 Halbs 2 EntschRG ist keine Ermächtigungsgrundlage für eine „vorläufige” Aberkennung der Entschädigungsrente geschaffen worden.
3. Zur Unmenschlichkeit und Unverhältnismäßigkeit der Grenzsicherungsanlagen der DDR.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
EntschRG § 2 Abs. 2, § 5 Abs. 1, 3 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1997-04-29, § 6 Abs. 3 S. 3; VersRuhG § 4; EinigVtr Art. 19; EinigVtr Anl. II Kap. VIII H III Nr. 5; EinigVtr Anl. II Kap. VIII H; GG Art. 1, 3 Abs. 1, 3 S. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 20; EMRK Art. 6; SGB X § 42 S. 2, § 24 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 1995 insoweit aufgehoben, als die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. November 1992 abgewiesen worden ist; der Bescheid vom 10. November 1992 wird aufgehoben.
Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin ein Viertel der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die beklagte Bundesrepublik Deutschland berechtigt war, der Klägerin das Recht auf Entschädigungsrente mit Wirkung ab Dezember 1992 abzuerkennen.
Die Klägerin ist die Witwe des 1916 geborenen H … A … (A.). Dieser war 1932 in den kommunistischen Jugendverband eingetreten. 1935 wurde er wegen sog illegaler Tätigkeit für diese Organisation durch das Oberlandesgericht (OLG) D … zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. 1938 emigrierte er nach Frankreich. Nach seiner Verhaftung im Jahre 1940 war er bis 1945 in den Konzentrationslagern V …, A … und B … … inhaftiert.
Nach Kriegsende übernahm A. zunächst in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR verschiedene politische Funktionen. 1950 wurde er Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei (SED) und war bis 1966 Sekretär für Internationale Verbindungen. Ab 1954 war er zugleich Abgeordneter der Volkskammer der DDR und seit November 1971 Vorsitzender des dortigen Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. Von 1963 bis 1970 war er Kandidat und im Anschluß daran bis 1989 Mitglied des Politbüros der SED. In dieser Funktion nahm er an dessen Sitzungen am 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973 teil, in denen ua Beschlüsse zum „pionier- und signaltechnischen Ausbau der innerdeutschen Grenze unter Einsatz von Schützenminen und richtungsgebundenen Splitterminen” gefaßt wurden.
Aufgrund der Anordnung über Ehrenpensionen für Kämpfer gegen den Faschismus und für Verfolgte des Faschismus sowie deren Hinterbliebene (EhPensAO) vom 20. September 1976 (vertrauliche Dienstsache – VD 26/19/76) war A. in der DDR eine Ehrenpension im Wert von monatlich 1.700,00 M zuerkannt worden. Diesen Betrag – ab Juli 1990 aufgewertet auf DM – zahlte die beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) vom 3. Oktober 1990 bis einschließlich Februar 1992 zu Lasten der Beklagten weiter. Im Februar 1992 verstarb A.
Mit Bescheid vom 4. Oktober 1992 erkannte die BfA gegenüber der Klägerin für die Zeit vom 1. März bis 30. April 1992 einen Anspruch auf eine Ehrenpension für Hinterbliebene von Kämpfern gegen den Faschismus in Höhe von monatlich 900,00 DM an. Ferner bewilligte sie der Klägerin ab 1. Mai 1992 in Ersetzung dieses Rechts eine Entschädigungsrente nach dem Gesetz über Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet (EntschRG) vom 22. April 1992 (BGBl I 906) in Höhe von 800,00 DM monatlich.
Mit Schreiben vom 12. Oktober 1992 wies die beigeladene Kommission die Klägerin darauf hin, A. habe als Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED sowie als Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der DDR möglicherweise Unterdrückungs- und Verfolgungsmaßnahmen mitentschieden, an solchen Maßnahmen mitgewirkt, sie organisiert, ausgeführt oder kontrolliert und damit gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Bevor die Kommission ihren Entscheidungsvorschlag an das Bundesversicherungsamt (BVA) beschließe, erhalte sie – die Klägerin – Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb von drei Wochen. Mit Schreiben vom 27. Oktober 1992 gab die Klägerin gegenüber der Kommission eine Stellungnahme ab.
Bereits mit Beschluß vom 19. Oktober 1992 hatte die Kommission dem BVA die vorläufige Aberkennung der Rente vorgeschlagen. Daraufhin erkannte das BVA mit Bescheid vom 10. November 1992 das gegen die BfA gerichtete Recht der Klägerin auf Entschädigungsrente „mit sofortiger Wirkung … vorläufig” ab. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Klage.
Während des Klageverfahrens schlug die beigeladene Kommission dem BVA die endgültige Aberkennung der Entschädigungsrente vor (Beschluß vom 16. März 1993). Das BVA gab der Klägerin mit Schreiben vom 30. Mai 1994 Gelegenheit zur Stellungnahme und stützte in Ergänzung zu den Ausführungen in dem Beschluß der Kommission den Vorwurf der Mitverantwortlichkeit des A. an Menschenrechtsverletzungen auch auf dessen Teilnahme an den Politbürositzungen vom 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973.
Mit Bescheid vom 9. August 1994 erkannte das BVA „mit sofortiger Wirkung” die bereits „vorläufig” aberkannte Entschädigungsrente endgültig ab. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Januar 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 23. Oktober 1996).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 5 Abs 1 EntschRG, des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der Art 3, 14 und 20 Grundgesetz (GG) sowie des Art 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Zur Begründung trägt sie vor, die Tatsache, daß ihr verstorbener Ehemann Mitglied des Politbüros der SED gewesen sei und ua an dessen Sitzungen vom 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973 teilgenommen habe, begründe schon objektiv keinen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Zum anderen seien ihm solche – unterstellten – Verstöße nicht zuzurechnen. Darüber hinaus verletze § 5 Abs 1 EntschRG, auf den die Rentenaberkennung gestützt worden sei, die Art 3, 14 und 20 GG. Schließlich seien die Grundsätze des fairen Verfahrens nach Art 6 EMRK verletzt.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 23. Oktober 1996 und des Sozialgerichts Berlin vom 10. Januar 1995 sowie die Bescheide der Beklagten vom 10. November 1992 und 9. August 1994 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß die angefochtenen Entscheidungen rechtlich nicht zu beanstanden seien.
Die beigeladene Kommission beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.
Die beigeladene BfA hat von einer Stellungnahme und Antragstellung abgesehen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist teilweise begründet.
A. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die Bescheide des BVA vom 10. November 1992 über die vorläufige Aberkennung des gegen die beigeladene BfA gerichteten Rechts der Klägerin auf Entschädigungsrente und vom 9. August 1994 über die endgültige Aberkennung dieses Rechts. Der letztgenannte Bescheid hat den Bescheid vom 10. November 1992 nicht in vollem Umfang, sondern lediglich für die Zeit ab September 1994 ersetzt. Dies ergibt sich schon aus seinem Wortlaut, nach dem das bereits vorläufig aberkannte Recht auf Entschädigungsrente „mit sofortiger Wirkung”, also nicht mit Wirkung für die Vergangenheit, endgültig aberkannt werde. Es handelt sich insoweit um einen Anschlußverwaltungsakt, der nach § 96 SGG neben dem ursprünglich angefochtenen Bescheid vom 10. November 1992 Gegenstand des Rechtsstreits geworden ist und den letztgenannten Bescheid ab September 1994 ersetzte. Auch wenn das LSG (ebenso wie das SG) ausdrücklich nur über den Bescheid vom 9. August 1994 entschieden hat, konnte der Senat dennoch auch über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 10. November 1992 mitentscheiden. Das LSG (wie das SG) hat dessen Inhalt als vom Regelungsinhalt des Bescheides vom 9. August 1994 mitumfaßt angesehen und damit auch über die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Aberkennung mitentschieden. Eines Vorverfahrens bedurfte es bzgl dieser Bescheide nicht (§ 6 Abs 4 Satz 2 EntschRG iVm § 2 Abs 3 Satz 1 des Gesetzes über das Ruhen von Ansprüchen aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen ≪Versorgungsruhensgesetz – VersRuhG -≫ vom 25. Juli 1991 ≪BGBl I 1606≫).
B. Die Revision der Klägerin ist begründet, soweit sie die Aufhebung des Bescheides vom 10. November 1992 begehrt. In Ermangelung einer ausreichenden Ermächtigungsgrundlage war die Beklagte weder nach dem Recht, das im Zeitpunkt des Erlasses dieses Verwaltungsaktes galt (vgl dazu unten 1.) noch aufgrund einer späteren Gesetzesänderung (vgl dazu unten 2.) befugt, das der Klägerin zuerkannte Recht auf Entschädigungsrente „vorläufig” abzuerkennen.
1. Die beigeladene BfA hatte der Klägerin mit Bescheid vom 4. Oktober 1992 ein Recht auf Entschädigungsrente im Wert von 800,00 DM monatlich nach § 2 Abs 2 EntschRG für die Zeit ab 1. Mai 1992 zuerkannt. Mit dem angefochtenen Bescheid des BVA vom 10. November 1992 hatte die Beklagte dieses bindend zuerkannte subjektive Recht mit sofortiger Wirkung „vorläufig” aberkannt. Aufgrund dieser Aberkennung zahlte die BfA mit Ablauf des Monats November, dh ab 1. Dezember 1992, keine Entschädigungsrente mehr. Zu einem solchen „vorläufigen” Eingriff war die Beklagte durch kein Gesetz ermächtigt. Soweit § 5 EntschRG in seiner ursprünglichen Fassung durch das Gesetz vom 22. April 1992 zugrunde gelegt wird, läßt sich die notwendige Ermächtigung weder seinem Abs 1 noch Abs 3 Satz 1 aaO entnehmen. Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat insoweit auf die Ausführungen in seinem Urteil vom 30. Januar 1997 (BSGE 80, 72, 74 ff = SozR 3-8850 § 5 Nr 2).
2. Die nachträgliche Einfügung eines Halbsatzes 2 in Satz 1 des § 5 Abs 3 EntschRG führt nicht zu einer anderen Bewertung. Gemäß Art 7 des Dritten Gesetzes zur Verbesserung des Wahlrechts für die Sozialversicherungswahlen und zur Änderung anderer Gesetze (3. WRVG) vom 29. April 1997 (BGBl I 968) ist der bisherige Satz 1 „für das Verfahren nach Abs 1 gelten die Vorschriften des VersRuhG entsprechend”) Halbsatz 1 des Satzes 1 geworden und diesem folgende neue Regelung als Halbsatz 2 angefügt worden: „; insbesondere finden auf die vorläufige Aberkennung von Entschädigungsrenten die Vorschriften über ein vorläufiges Ruhen der Versorgung nach § 4 Abs 4 des VersRuhG entsprechende Anwendung.”. Die Neuregelung ist rückwirkend zum 1. Mai 1992 in Kraft getreten (Art 18 Abs 1 3. WRVG). Der Senat kann offenlassen, ob die Gesetzesänderung schon deshalb nicht greift, weil sich im Rahmen der hier vorliegenden isolierten Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes allein nach dem Recht beurteilt, das im Zeitpunkt seines Erlasses gültig war. Ferner kann dahinstehen, ob die nachträgliche Gesetzesänderung, enthielte sie eine „echt” rückwirkende Belastung, wegen des grundgesetzlichen Rückwirkungsverbots verfassungsrechtlich Bestand haben könnte. Denn das bisherige Recht ist durch die Ergänzung des Gesetzestextes inhaltlich nicht verändert worden. Außerdem ist der angefochtene Verwaltungsakt wegen Verletzung der Anhörungspflicht aufzuheben.
a) Der Senat hat bereits zu § 5 Abs 3 Satz 1 EntschRG aF in dem Urteil vom 30. Januar 1997 (BSGE, aaO, S 78) geklärt, daß durch die Verweisung auf § 4 Abs 3 und 4 VersRuhG kein Eingriffstatbestand für eine vorläufige Aberkennung geschaffen wurde. Soweit die letztgenannte Regelung im Rahmen eines möglichen vorläufigen Ruhens von Rechten auf Abs 1 des § 4 VersRuhG Bezug nimmt, ist sie für Fälle der vorliegenden Art von vornherein schon vom Sachverhalt her nicht einschlägig. Selbst wenn man im Hinblick auf die angeordnete „entsprechende Anwendung” anstelle von § 4 Abs 1 VersRuhG einen sachlichen Bezug auf § 5 Abs 1 EntschRG unterstellt, ist nicht erkennbar, unter welchen Voraussetzungen eine vorläufige Aberkennung in Fällen der vorliegenden Art zulässig sein sollte.
§ 5 Abs 1 EntschRG erlaubt dem BVA eine Aberkennung von Renten nur, falls nach ordnungsgemäßem Abschluß des Verwaltungsverfahrens (§ 8 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) die dort genannten gesetzlichen Voraussetzungen abschließend festgestellt sind. Zu einer „vorläufigen Entziehung auf Verdacht” wird in § 5 Abs 1 EntschRG nicht ermächtigt (Urteil des Senats vom 30. Januar 1997, aaO, S 77).
Im Rahmen der Neuregelung, dh im eingefügten Halbsatz 2 in § 5 Abs 3 Satz 1 EntschRG, wurden – möglicherweise aufgrund der irrigen Annahme, insoweit sei nur eine Klarstellung, nicht aber eine materielle Änderung erforderlich (vgl BT-Drucks 13/7270, Begründung zu Art 4c, S 18) – die materiell-rechtlichen Voraussetzungen nicht benannt, die es der Beklagten in Durchbrechung des rechtsstaatlichen Verbots eines vorzeitigen Verfahrensabschlusses gestatten könnten, „vorläufig” rechtsvernichtend in das der Klägerin bestandskräftig zuerkannte Recht auf Entschädigungsrente einzugreifen. Daher ist eine „entsprechende” Anwendung der Rechtsfolgen des § 4 Abs 3, 4 VersRuhG der Verwaltung nur erlaubt, wenn die Erfüllung des Tatbestandes des § 5 Abs 1 EntschRG abschließend im vorgeschriebenen Verfahren festgestellt ist. Normiert sind in § 5 Abs 1 Regelungen 2 und 3 EntschRG die Voraussetzungen, die für eine (Kürzung oder) Aberkennung vorliegen müssen. Diese können aber nicht gleichzeitig den wesentlich schwerer wiegenden Eingriff einer vorläufigen Entscheidung rechtfertigen, welche die Beklagte anordnet, obwohl das Erkenntnisverfahren darüber, ob der Tatbestand des § 5 Abs 1 EntschRG überhaupt erfüllt ist, weder in der gesetzlich gebotenen noch in einer rechtsstaatlichen Mindestanforderungen genügenden Weise abgeschlossen ist. § 5 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 EntschRG enthält also – wie auch dessen Wortlaut verdeutlicht – nur eine Rechtsfolgenklarstellung für den Fall, daß der Tatbestand des Abs 1 aaO erfüllt und dies verfassungs- und gesetzmäßig von der Verwaltung festgestellt ist, denn nur dann darf sie diese Rechtsfolgen anordnen. Diese „rückwirkende” Normtextergänzung kann also den angefochtenen Bescheid vom 10. November 1992 ohnehin nicht rechtfertigen. Die Klägerin kann dessen Aufhebung aufgrund ihres (materiellen) subjektiven (Abwehr-)Rechts auf Entschädigungsrente verlangen.
b) Außerdem kann die Klägerin auch deshalb verlangen, den angefochtenen Bescheid vom 10. November 1992 aufzuheben, weil die Beklagte die Klägerin vor Erlaß dieses Eingriffsaktes nicht ordnungsgemäß angehört hat. Der Klägerin steht also auch der (verfahrensrechtliche) Aufhebungsanspruch aus § 42 Satz 2 iVm § 24 Abs 1 SGB X zu. Nach Abs 1 aaO ist einem Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern, bevor ein Verwaltungsakt erlassen wird, der in seine Rechte eingreift. Dieses Anhörungsrecht der Klägerin hatte die Beklagte auch bei der „vorläufigen” Aberkennung zu respektieren; ein Fall des § 6 Abs 3 Satz 3 EntschRG, in dem die Anhörung eines Beteiligten vor Erlaß des Bescheides nicht erforderlich ist, liegt nicht vor.
Anhörung ist der Klägerin allein von der beigeladenen Kommission mit Schreiben vom 12. Oktober 1992 und nur im Blick auf die „endgültige” Entziehung gewährt worden; die hierbei gesetzte Frist von drei Wochen war außerdem noch nicht abgelaufen, als die Kommission mit Beschluß vom 19. Oktober 1992 dem BVA die „vorläufige” Aberkennung vorschlug. Die Stellungnahme der Klägerin vom 27. Oktober 1992, die an die Kommission gerichtet war, ist zudem bis zum Erlaß des „vorläufigen” Entziehungs-)Bescheides vom 10. November 1992 nicht in den Kenntnisbereich der Beklagten gelangt; jedenfalls hat diese hiervon keine Kenntnis genommen. Dies wird durch die Ausführungen zum Anhörungsrecht im Bescheid vom 10. November 1992 und durch die Erklärungen der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bestätigt. Sie hat erklärt, bei dringendem Tatverdacht könne auch ohne vorherige Anhörung des Betroffenen der „vorläufige” Entzug erfolgen und sie verfahre auch so.
Die Beklagte verstößt insoweit gegen § 6 Abs 3 Satz 3 EntschRG iVm § 24 Abs 1 SGB X. Ein Ausnahmetatbestand iS des § 24 Abs 2 SGB X, der es erlaubt hätte, von einer vorherigen Anhörung abzusehen, liegt nicht vor. Es sind auch nicht andeutungsweise Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß es der Beklagten wegen „Gefahr im Verzug” oder „im öffentlichen Interesse” (§ 24 Abs 2 Nr 1 SGB X), worauf sie sich beruft, nicht möglich gewesen wäre, der Klägerin eine zumindest kurze Frist zur Stellungnahme einzuräumen, ohne daß dadurch die von der Beklagten beabsichtigte Aberkennung „mit sofortiger Wirkung”, die ohnehin nur Rentenzahlungen ab 1. Dezember 1992 hätte betreffen können, gefährdet worden wäre. Deshalb ist nicht darzulegen, daß in Fällen der vorliegenden Art die Voraussetzungen des § 24 Abs 2 Nr 1 SGB X nicht erfüllt sein können. Der Bescheid vom 10. November 1992 ist daher auch wegen Verletzung des Anhörungsrechts der Klägerin aufzuheben.
C. Die Revision der Klägerin ist unbegründet, soweit sie die Aufhebung des Bescheides vom 9. August 1994 begehrt. Das LSG hat insoweit zutreffend die Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen. Die Entscheidung der Beklagten ist verwaltungsverfahrens- und materiell-rechtlich nicht zu beanstanden.
1. Nach § 5 Abs 2 EntschRG entscheidet das BVA über die Kürzung oder Aberkennung einer Entschädigungsrente auf Vorschlag der Kommission nach § 3 VersRuhG, hier also der Beigeladenen zu 1). Den gesetzlich geforderten Vorschlag zur „endgültigen” Aberkennung hat die Kommission mit Beschluß vom 16. März 1993 dem BVA unterbreitet. Eine Verletzung der im übrigen für das Verfahren entsprechend geltenden Vorschriften des VersRuhG (§ 5 Abs 3 Satz 1 EntschRG aF bzw Satz 1 Halbsatz 1 dieser Norm nF) ist nicht erkennbar. Einen Antrag an die Kommission, eine von ihr benannte Verfolgtenorganisation zu hören (§ 5 Abs 3 Satz 2 EntschRG), hat die Klägerin nicht gestellt.
Im übrigen hat die Beklagte vor Erlaß des Bescheides vom 9. August 1994 der Klägerin mit Schreiben vom 30. Mai 1994 Gelegenheit zur Stellungnahme zu den – voraussichtlich – tragenden Gesichtspunkten für eine Aberkennung gegeben und dabei – anders als noch die Kommission – insbesondere auf die Teilnahme des A. an den Sitzungen des Politbüros der SED am 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973 sowie die dort erörterten Maßnahmen zum weiteren Ausbau der Grenzsicherung hingewiesen. Damit ist eine ordnungsgemäße Anhörung iS des § 24 Abs 1 SGB X durchgeführt worden.
2. Einfachgesetzlich trägt § 5 Abs 1 EntschRG die im Bescheid vom 9. August 1994 getroffene Regelung, nämlich das durch Bescheid vom 4. Oktober 1992 zuerkannte Recht auf Entschädigungsrente „mit sofortiger Wirkung” abzuerkennen. Dies hat zur Folge, daß die beigeladene BfA der Klägerin für Bezugszeiträume ab 1. September 1994 Entschädigungsrente nicht mehr zu zahlen hat. Nach § 5 Abs 1 EntschRG sind Entschädigungsrenten zu kürzen oder abzuerkennen, wenn der Berechtigte oder derjenige, von dem sich die Berechtigung ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maße seine Stellung zu eigenem Vorteil oder zum Nachteil anderer mißbraucht hat. Die Norm statuiert damit eine Unwürdigkeitsklausel, dh das Recht auf Entschädigungsrente besteht insoweit nicht mehr, wie die Beklagte zu Recht den Einwand erhebt, daß der Betroffene selbst gegen die Grundsätze verstoßen hat, auf denen die Gewährung der Entschädigungsrente beruht. Insoweit enthält die Vorschrift eine spezialgesetzliche Ermächtigung „aberkennen”, „kürzen”) für das BVA, die Bindungswirkung des – früheren – Verwaltungsaktes zu durchbrechen, mit dem ein Recht auf Entschädigungsrente zuerkannt worden war (Urteil des Senats vom 30. Januar 1997, aaO, S 85 f).
Im Rahmen der von der Klägerin erhobenen isolierten Anfechtungsklage unterliegt hierbei der gerichtlichen Prüfung nur, ob der von der Beklagten im Bescheid vom 9. August 1994 geltend gemachte Aberkennungsgrund vorliegt und den vorgenommenen Eingriff rechtfertigt. Die Beklagte hat die Befugnis zur Aberkennung auf Verstöße des A. gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit durch dessen Mitwirkung an den Beschlüssen des Politbüros vom 6. Juli 1971 und vom 23. Januar 1973 gestützt, in der Sache also ihre Befugnis insbesondere daraus hergeleitet, daß A. an den Sitzungen des Politbüros am 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973 teilgenommen und die dort gefaßten Beschlüsse „zur Sicherung der Staatsgrenze West” bzw zum „Grenzregime” mitgefaßt und mitgetragen hat. Ihre Entscheidung, der Aberkennungsgrund liege vor, ist nicht zu beanstanden.
a) Der objektive Tatbestand des § 5 Abs 1 EntschRG setzt folgendes voraus:
aa) Der Betroffene muß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit „verstoßen” haben. Insoweit genügt eine nur allgemeine Förderung des Unrechts- und Gewaltsystems der SED (sog Vorschubleisten) nicht, er muß vielmehr durch ein konkretes und nachweisbares Verhalten gegen die genannten Grundsätze verstoßen haben. Hierbei reicht es ua aus, wenn er die Befehle zur Verletzung der Grundsätze selbst mitbeschlossen hat und es zu einer solchen Verletzung gekommen ist (vgl zum ganzen Urteil des Senats vom 30. Januar 1997, aaO, S 86 ff). Die geschützten Rechtsgüter messen sich an folgenden Kriterien:
bb) Der Grundsatz der Menschlichkeit schützt die (Ansehens-)Würde (Art 1 Abs 1 GG) und die unveräußerlichen Menschenrechte (Art 1 Abs 2 GG) eines jeden, der in einem Gemeinwesen dem jeweiligen Inhaber der Macht sowie den Menschen unterworfen ist, denen jener Herrschaftsmacht verliehen oder faktisch eingeräumt hat. Es ist also – aus der absoluten und universalen Geltungsordnung des Art 1 GG – jedem Machtinhaber sowie dem Machtsystem, dem er angehört, schlechthin untersagt, die Würde des Menschen zu mißachten oder seine Rechtsgüter Leben, Körper, Gesundheit oder Freiheit anderen „Werten” soweit unterzuordnen, daß sie im Kern vernichtet werden (Urteil vom 30. Januar 1997, aaO, S 88).
cc) Schutzgut des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit (Art 1 Abs 3, 3, Abs 1 bis 3, 20 Abs 3 GG) ist, daß jeder Gewaltinhaber sich um eine den jeweiligen Lebensverhältnissen angemessene Sachbehandlung, vor allem unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, bemühen muß und insbesondere nicht willkürlich handeln darf; keinesfalls darf jemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat, seiner Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen und politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden (Urteil des Senats vom 30. Januar 1997, aaO).
Die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit gebieten den Machtinhabern also nur eine elementare Rechtsorientierung. Ein Unrechts- und Willkürsystem gibt sich gerade dadurch zu erkennen, daß es diese elementaren Grundsätze anderen – zB ideologischen – Zielsetzungen unterordnet, nach dem Motto, der Zweck „heilige” die Mittel.
b) Mit den aufgezeigten Grundsätzen der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit sind die vom Politbüro der SED und von A. als dessen Mitglied am 6. Juli 1971 (Tagesordnungspunkt 4 betreffend Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit und Ordnung an der innerdeutschen Grenze) und am 23. Januar 1973 (Tagesordnungspunkt 9 betreffend die Durchführung des vorgenannten Beschlusses und weiterer Maßnahmen zur Grenzsicherung) beschlossenen Maßnahmen nicht vereinbar. Mit diesen Beschlüssen stimmte das Politbüro ua der jeweils vom Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR vorgeschlagenen weiteren Verminung der innerdeutschen Grenze mit Schützenminen und richtungsgebundenen Splitterminen (sog Selbstschußanlagen) zu, die dazu dienen sollte, im Rahmen des Grenzregimes – nach DDR-Recht unerlaubte – Grenzübertritte einer Vielzahl von fluchtwilligen „DDR-Bürgern” dadurch zu verhindern, daß die Drohung der SED mit dem Tod oder einer schwerwiegenden Gesundheitsstörung beim Betreten des Grenzbereichs möglichst ernstgenommen und durch ein aus der Sicht des SED-Regimes unvermeidbares Maß an Tötungen an der innerdeutschen Grenze umgesetzt wurde. Dieser Beschluß war nach der Machtstruktur in der DDR, in welcher das SED-Politbüro (unter der sowjetischen Besatzungsmacht) die oberste Gewalt inne hatte, die entscheidende Voraussetzung für die Durchführung der Verminung und die durch die verlegten Minen in der Folgezeit eingetretenen Verletzungen und Tötungen von Menschen auf der Flucht. Der Einsatz derartiger streuender Kriegswaffen gegen (bis auf wenige Ausnahmen) unbewaffnete Zivilisten zur bloßen Verhinderung des Grenzübertritts stellt eine eklatante Verletzung elementarer Menschenrechte und Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit dar; denn das staatliche Interesse an Ausreiseverhinderung wurde ausnahmslos und von vornherein den Rechtsgütern Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit übergeordnet und unterschiedslos durchgesetzt. Daß es an der innerdeutschen Grenze nach 1971 zur Verletzung und Tötung von Menschen gerade durch Minen und Selbstschußanlagen gekommen ist, ist eine zeitgeschichtliche Tatsache, die auch von der Klägerin nicht bestritten wird. A. hat in den genannten Politbüro-Sitzungen maßgeblich daran mitgewirkt, daß es dazu kam.
Dagegen greift das Vorbringen der Klägerin nicht durch, die betroffenen Personen seien durch entsprechende Verlautbarungen und Warnschilder auf die von den Grenzsicherungsanlagen und damit auch von den Minen ausgehenden Gefahren hingewiesen worden und hätten mit dem Betreten der Minenfelder ihre Verletzung oder Tötung „billigend in Kauf genommen”. Die Androhung der Verletzung elementarer Rechtsgüter zur Abschreckung von der Inanspruchnahme anderer Menschenrechte – hier der Freiheit der Person, die auch die grundsätzliche Ausreisefreiheit umfaßt – ist für sich bereits mit elementaren rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar (vgl Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Beschluß vom 24. Oktober 1996 – 2 BvR 1851/94 ua, NJW 1997, 929 ≪931≫), denn sie verfolgt erkennbar den Zweck, den Betroffenen Kernbereiche ihrer unveräußerlichen Menschenrechte zu entziehen.
In dieser Art der kriegerischen Absicherung der innerdeutschen Staatsgrenze gegen die der eigenen Macht unterworfene Bevölkerung läge allenfalls dann kein Verstoß gegen die genannten „Grundsätze”, wenn den Menschen die Ausreise auf ungefährlichen Wegen möglich und erlaubt gewesen wäre, auf denen also insbesondere weder Minen noch andere Anlagen oder Maßnahmen das Leben und die körperliche Unversehrtheit des Ausreisenden gefährden konnten; nur dann könnte – ohne menschenverachtenden Zynismus – behauptet werden, der den Grenzbereich Betretende habe tatsächlich freiwillig durch seine Wahl des „Ausreiseweges” das Verletzungs- oder Tötungsrisiko in Kauf genommen.
Legt man das geschriebene DDR-Recht zugrunde, gab es – jedenfalls seit Aufhebung des Verfassungsrechts auf Ausreise (Art 10 Abs 3 der Verfassung vom 7. Oktober 1949, GBl I Nr 1 S 5) durch die Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit auf das Staatsgebiet der DDR durch Art 32 der Verfassung vom 6. April 1968 (GBl I Nr 8 S 199) und 7. Oktober 1974 (GBl I Nr 47 S 432) – bis 1983 und damit im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlußfassungen überhaupt kein Recht auf Ausreise. Insoweit hier relevante Regelungen betrafen vor 1983 nur die in sehr begrenztem Umfang gestattete – vorübergehende – Reise in nichtsozialistische Staaten (vgl ua Anordnung über Regelungen zum Reiseverkehr von Bürgern der DDR vom 15. Februar 1982, GBl I Nr 9 S 187). Erstmals durch die Verordnung (VO) zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern vom 15. September 1983 (GBl I Nr 26 S 254), zum 1. Januar 1989 ersetzt durch die VO über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland vom 30. November 1988 (GBl I Nr 25 S 271), wurde für einen nur sehr begrenzten Personenkreis eine Rechtsgrundlage für die „legale” Ausreise geschaffen (vgl hierzu von Hoerschelmann in ROW 1989, 90), allerdings immer unter dem Vorbehalt von Versagungsgründen, wie zB dem entgegenstehenden Schutz der öffentlichen Ordnung oder staatlicher bzw gesellschaftlicher Interessen der DDR. Dagegen hatte die ganz überwiegende Zahl der Ausreisewilligen weiterhin keinen Rechtsanspruch auf Ausreise. Wenn dennoch eine Vielzahl von DDR-Bürgern – aus der Sicht der DDR rechtswidrige – Ausreiseanträge (bzw Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR; vgl dazu Gesetz über die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Februar 1967, GBl I Nr 2 S 3) stellte, dann vor allem in der Hoffnung, daß die DDR-Behörden aus den unterschiedlichsten – stets nicht vorhersehbaren – faktischen Gründen diesen stattgeben könnten (zB bei hohem außen- oder innenpolitischen Druck, Freikauf, „Mißliebigkeit” des Antragstellers etc; vgl hierzu auch Materialien der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland”, hier: Die Flucht- und Ausreisebewegung in verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte, Bd VII 1. Teilband, S 314 ff). Immer mußten die Antragsteller mit erheblichen Schikanen rechnen, wie Post- und Telefonüberwachung sowie sonstige Bespitzelung durch MfS, Hausdurchsuchungen, häufige Vorladungen zu den Behörden, Verlust des Arbeitsplatzes oder Umsetzung auf einen schlechteren Arbeitsplatz, Sanktionen gegen Familienmitglieder (zB Ausbildungsbeschränkungen bei Kindern), ferner Verschlechterung der medizinischen Versorgung, Ächtung durch SED- und staatliche Organisationen; befürchten mußten sie auch Kriminalisierungen und Inhaftierungen (zB wegen des Vorwurfs der Vorbereitung von Republikflucht oder wegen einer Behinderung von staatlichen Organen, wegen Asozialität, ferner wegen unerlaubter Kontaktaufnahme zu „DDR-feindlichen” Organisationen etc (vgl insoweit beispielhaft Berg in DRiZ 1986, 214), schließlich auch die Wegnahme der Kinder, insbesondere im Zusammenhang mit eingeleiteten Strafverfolgungsmaßnahmen.
Vor dem Hintergrund dieses massiven Bedrohungspotentials mutet es wie menschenverachtender Zynismus an, wenn auf die Warnungen vor den todbringenden Grenzsicherungsanlagen verwiesen wird, um deren Unmenschlichkeit zu widerlegen. Um den real drohenden Schikanen, verbunden mit einer völligen Rechtsunsicherheit, zu entgehen, stand nur der Weg (des sog illegalen Grenzübertritts) durch Sperrzonen, vorbei an Wachtürmen und Streifen der Grenztruppen sowie auf den Menschen dressierten Hunden, über den Todesstreifen, durch Minenfelder, zwischen Selbstschußanlagen und über/durch den elektrischen Zaun „offen”. Die objektive Unvereinbarkeit dieses Grenzregimes, zu dessen wesentlichen Bestandteilen auch die Verminung der Grenze mit Schützenminen und mit richtungsgebundenen Splitterminen (Selbstschußanlagen) gehörte, deren Abbau die Bundesrepublik später erkauft hat, mit Grundsätzen der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit schließt gleichzeitig eine Rechtfertigung durch Normen der DDR aus (zum Ganzen bereits Senatsurteil BSGE 80, 72, 89 bis 92 mwN).
Rechtfertigungsgründe könnten sich allenfalls aus solchen Umständen ergeben, die unter Abwägung der bedrohten oder verletzten Rechte der von der Machtausübung betroffenen Bürger mit höherrangigen Rechten des Machtausnutzenden ausnahmsweise einen Eingriff sogar in den Kernbereich einzelner Menschenrechte erlauben könnten (zB Gesundheitsgefährdung anderer zur Abwehr eigener Lebensgefahr, vgl § 34 des Strafgesetzbuches). Hierfür sind jedoch keine Anhaltspunkte gegeben. Gleichfalls ist nicht ersichtlich, daß die genannten Beschlüsse des Politbüros der SED zur Verhinderung bewaffneter Konflikte notwendig gewesen sein könnten. Soweit die Klägerin hierzu vorträgt, A. habe das Grenzregime für notwendig erachtet, um den Ausbruch eines bewaffneten Konflikts oder gar eines Dritten Weltkrieges zu verhindern, da bei einer (weiteren) Destabilisierung der DDR durch die Ausreise ihrer Bewohner ein Eingreifen der Sowjetunion zur Sicherung ihrer Einflußzone in Mitteleuropa zu erwarten gewesen wäre, fehlen hierfür bereits hinreichend konkrete zeitgeschichtliche Anhaltspunkte. Die aus dem Zusammenhang genommenen Äußerungen einzelner „Zeitzeugen” reichen jedenfalls nicht aus zu belegen, daß die UdSSR oder die SED/DDR einen Krieg bzw – über das Grenzregime selbst hinaus – Bürgerkrieg gegen die Bevölkerung in der DDR begonnen oder einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik und ganz Westeuropa geführt hätten, wenn das Politbüro der SED in den beiden genannten Sitzungen nicht beschlossen hätte, die innerdeutsche Staatsgrenze mit Landminen und Selbstschußanlagen gegen ausreisewillige Zivilisten „zu sichern”. Ebenso ist weder dargetan noch ersichtlich, daß die Sowjetunion auf die Einbeziehung dieser Maßnahmen in das Grenzregime bestimmenden, eine freie Entschließung der zuständigen SED-Organe und Politbüro-Machthaber ausschließenden Einfluß genommen hätte (vgl auch Urteil des Senats vom 30. Januar 1997, aaO, S 92). Verminte Todesstreifen, Ketten von Wachtürmen, schießbereite Grenzsoldaten dienten nicht der Abwehr einer Aggression von außen, sondern zur Verhinderung der Flucht „eigener Bürger”.
c) Das LSG hat rechtsfehlerfrei die persönliche (Mit-)Verantwortung des Ehemanns der Klägerin für diese „Grenzsicherungsmaßnahmen” und die hiervon ausgehenden Tötungs- und Verletzungserfolge bejaht. Dessen (Mit-)Verantwortung muß sich die Klägerin zurechnen lassen, da sich von ihm ihr Recht auf Entschädigungsrente ableitet.
aa) A. hat diese Beschlüsse mitgefaßt. Nach den Feststellungen des LSG war der Ehemann der Klägerin von Dezember 1970 bis Dezember 1989 Vollmitglied des Politbüros und anderer hochrangiger Gremien, namentlich als Sekretär des ZK bis Februar 1966 und als Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten der Volkskammer der DDR seit November 1971. Er nahm ua an den Sitzungen des Politbüros vom 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973 teil, in denen Beschlüsse zum pionier- und signaltechnischen Ausbau der innerdeutschen Grenze unter Einsatz von Schützenminen und richtungsgebundenen Splitterminen gefaßt wurden. Die Sitzungsprotokolle enthalten nach Feststellung des LSG keine Hinweise für eine Stimmenthaltung oder für eine von den gefaßten Beschlüssen abweichende oder sich persönlich distanzierende Haltung des A. Diese Feststellungen sind für den Senat gemäß § 163 SGG bindend, da sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden sind.
Soweit die Klägerin unter Hinweis auf § 103 SGG geltend macht, der der Aberkennung zugrundeliegende Sachverhalt und insbesondere das tatsächliche Verhalten ihres Ehemannes in den angegebenen Politbürositzungen sei nicht hinreichend aufgeklärt worden, das Urteil des LSG beruhe dementsprechend auf bloßen Unterstellungen, liegt hierin keine zulässige und begründete Verfahrensrüge. Die Revisionsbegründung läßt nicht erkennen, aufgrund welcher konkreten Anhaltspunkte sich das LSG – von seiner Rechtsauffassung ausgehend – zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, welches Ergebnis diese voraussichtlich erbracht hätten und inwieweit das Urteil des LSG auf den unterlassenen Ermittlungen beruht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 24). Die Angaben zur (denkbaren) geistigen oder körperlichen Abwesenheit des A. bei der Abstimmung zu den das Grenzregime betreffenden Tagesordnungspunkten beruhen ihrerseits nicht auf konkreten Anhaltspunkten, sondern auf Spekulationen über mögliches (Alternativ-)Verhalten. Auch ist nicht dargetan, daß und in welcher Weise die vom LSG aus den festgestellten (Hilfs-)Tatsachen im Wege der Beweiswürdigung gezogene Schlußfolgerung, der Ehemann der Klägerin habe sich zustimmend zu den das Grenzregime betreffenden Beschlüssen verhalten und sich mit diesen identifiziert, einen Verstoß gegen Erfahrungssätze oder Denkgesetze enthalten könnte, der (allein) geeignet wäre, eine revisionsrechtliche Rüge fehlerhafter Beweiswürdigung zu begründen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die erstmals im Revisionsverfahren vorgetragene Begründung, A. sei für Fragen der Grenzsicherung nicht zuständig gewesen und habe im Rahmen seiner Tätigkeit im Politbüro hierauf keinen Einfluß nehmen können, stellt ebenfalls keine zulässige Verfahrensrüge dar, sondern ein neues tatsächliches Vorbringen, das schon deshalb vom Revisionsgericht nicht zu beachten ist. Im übrigen ist nicht dargetan, daß bereits in der Tatsacheninstanz Anhaltspunkte für eine strikte, eine Mitwirkung oder Einflußnahme anderer Politbüromitglieder – sogar bei Beschlüssen des SED-Politbüros – ausschließende Zuständigkeitszuweisung bei Fragen der Grenzsicherung vorgelegen haben, die das LSG zu weiteren Ermittlungen hätten drängen müssen. Schon deshalb vermag das Vorbringen keinen Verstoß gegen § 103 SGG zu begründen. Die behauptete Zuständigkeitsverteilung, die im Ergebnis auf die Behauptung hinausläuft, jedes Politbüromitglied habe im Rahmen seiner Aufgaben ein alle anderen Politbüromitglieder ausschließendes Alleinentscheidungsrecht gehabt, Beschlüsse des Politbüros seien nur dem bloßen Schein nach solche eines Kollegialorgans gewesen, widerspricht der zeitgeschichtlich gesicherten Erkenntnis über die Arbeitsweise in diesem SED-Organ; die Sitzungen des Politbüros hatten nicht lediglich informatorische Funktion für die anderen Organmitglieder, die bloß hätten zustimmen können. Soweit die Revision vorträgt, der für auswärtige Beziehungen zuständige Ehemann der Klägerin habe weder Kenntnis über die getroffenen Maßnahmen gehabt, noch habe er diesbezüglich aus seiner Zuständigkeit heraus Einfluß nehmen oder eine ablehnende Stellungnahme abgeben können, ist dies schlechthin nicht nachvollziehbar. Denn die „Grenzsicherung” in der von der SED vollzogenen Weise war für die innerdeutschen Beziehungen sowie für diejenigen zu den Nachbarländern und auch für das Ansehen der DDR im Ausland nach den zeitgeschichtlichen Gegebenheiten von außerordentlicher Bedeutung. Mangels zulässiger und begründeter Verfahrensrüge bedarf der Tatsachenvortrag der Klägerin indes keiner weiteren Erörterung.
bb) Die aufgezeigten Verstöße gegen Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit sind dem verstorbenen Ehemann der Klägerin (nicht nur objektiv, sondern) auch subjektiv zuzurechnen. Daß A. während der beiden Sitzungen nicht zurechnungsfähig gewesen wäre, wurde weder von der Klägerin vorgetragen noch sind hierfür Anhaltspunkte ersichtlich. Es ergeben sich auch keine Hinweise darauf, daß er durch einen äußeren, seine persönliche freie Willensentschließung ausschließenden Zwang zur Zustimmung zu den genannten Beschlüssen genötigt worden sein könnte. A. hätte den Beschlüssen widersprechen können; er war auch nicht gezwungen, im Politbüro mitzuwirken; für die Tätigkeit in diesem Gremium hatte er sich freiwillig zur Verfügung gestellt; dasselbe gilt für sein Verbleiben darin. Deshalb kommt auch der nur hypothetischen Frage, ob er allein oder gemeinsam mit anderen Politbüromitgliedern durch eine ablehnende oder distanzierende Haltung im Politbüro eine Beschlußfassung und in deren Folge eine (weitere) Verminung der innerdeutschen Grenze (die er nach dem Vortrag der Klägerin für notwendig gehalten hat) hätte verhindern können, keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu. Der mit der Unwürdigerklärung iS des § 5 Abs 1 EntschRG verbundene ethische Vorwurf schuldhaften Verhaltens (BVerfGE 12, 264 ≪270≫) basiert auf der tatsächlichen, wissentlichen und willentlichen Mitwirkung an (mindestens) einer Verletzungshandlung. Nicht vorausgesetzt wird, daß der Machtausübende mit seiner bewußt und gewollt vorgenommenen Verletzungshandlung gerade die Absicht verfolgte, die genannten Grundsätze zu verletzen; vielmehr reicht aus, daß er bei gehöriger Gewissensanspannung hätte erkennen können, daß er jene verletzt; Rechtsblindheit entschuldigt nicht.
A. waren die Tatsachen bekannt, aus denen sich die Unvereinbarkeit der von ihm mitgetragenen Grenzverminung mit den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit ergab. Seine – vom LSG bindend festgestellte – Tatsachenkenntnis ist im übrigen belegt durch seine Funktion in der Außenpolitik der DDR und aus den Protokollen der genannten Politbürositzungen, in denen der Einsatz von Schützen- und richtungsgebundenen Splitterminen zur „Grenzsicherung” ausdrücklich genannt wird. Es war – auch für A. – evident, daß der Einsatz dieser Minen das Leben und die Gesundheit von „Grenzverletzern” gefährden sollte. Daß sich A. des – wie oben ausgeführt – daraus resultierenden eklatanten Widerspruchs zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und der Verletzung der Grundsätze der Menschlichkeit – wie die Klägerin sinngemäß vorträgt – möglicherweise nicht bewußt war, schließt die ethische Vorwerfbarkeit seiner Zustimmung hierzu gerade nicht aus. Bei einer ihm zumutbaren Gewissensanspannung hätte er die Unmenschlichkeit und Rechtsstaatswidrigkeit/Unverhältnismäßigkeit der beiden Beschlüsse unschwer erkennen können.
d) Die dem verstorbenen Ehemann der Klägerin objektiv und subjektiv zuzurechnenden Verletzungen der genannten Grundsätze rechtfertigen die vollständige Aberkennung ihres Rechts auf Entschädigungsrente.
Nach § 5 Abs 1 EntschRG ist im Falle eines (nachgewiesenen) Verstoßes die bereits bewilligte Rente zu kürzen oder abzuerkennen. Dieser an das BVA gerichtete (§ 5 Abs 2 EntschRG) strikte Anwendungsbefehl eröffnet weder ein Betätigungs- noch ein Auswahlermessen. Seine Umsetzung erfordert auch keine Beurteilung oder Abwägung, die dem BVA einen der gerichtlichen Überprüfung entzogenen Spielraum böte. § 5 Abs 1 EntschRG läßt allerdings die vom BVA zu setzende Rechtsfolge insofern offen, als grundsätzlich sowohl eine Kürzung als auch eine (vollständige) Aberkennung in Betracht kommt. Sie ermöglicht somit in Wahrung des rechtsstaatlichen Gebots der Verhältnismäßigkeit die Bestimmung einer dem Verstoß angemessenen Rechtsfolge, die als Angemessenheitsprüfung der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die Abwägungsmaßstäbe, die bei der Bestimmung der Rechtsfolge anzuwenden sind, erschließen sich aus dem Zweck des § 5 Abs 1 EntschRG.
Die Norm orientiert sich am Gedanken von Treu und Glauben, wie er vergleichbaren Regelungen anderer Gesetze des wiedergutmachungsrechtlichen, lastenausgleichenden und sozialen Entschädigungsrechts zugrunde liegt (vgl zB Kühne/Wolff, Komm zum Lastenausgleichsgesetz, Bd II, Stand Juli 1986, § 359 Ziff 5; BVerwGE 25, 128 ≪129 f≫). Danach können Opfer nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen eine Wiedergutmachung der hierdurch erlittenen Verletzung ihrer Menschenwürde und ihrer Menschenrechte von der Bundesrepublik Deutschland nur fordern, soweit sie nicht selbst in Ausübung obrigkeitlicher Funktion die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit gegenüber Dritten mißachtet haben und somit nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren.
Die daraus abzuleitende Rechtsfolge bestimmt sich aber – anders als vom LSG angenommen – nicht durch einen Vergleich des vom Berechtigten erlittenen NS-Unrechts mit den von ihm begangenen Unrechtshandlungen. „NS-Unrecht” ist – worauf die Revision zutreffend hinweist – nicht schlechthin mit „SED-Unrecht” vergleichbar (vgl BGH NJW 95, 2728 ≪2730 f≫ mwN). Dies betrifft nicht nur das Ausmaß des von diesen Systemen verübten Unrechts, sondern auch die durch das NS-Regime einerseits und die tatsächlichen Gegebenheiten in der DDR andererseits gesetzten Rahmenbedingungen individuellen Unrechtshandelns. Vor allem aber hat das von diesen Systemen und Ideologien verübte Unrecht konkret immer die Menschenwürde und die Menschenrechte einer Vielzahl je einzelner, bestimmter Menschen verletzt, deren Erniedrigungen, Leiden und Tod im wesentlichen unvergleichbar und in ihrer jeweiligen Einmaligkeit zu achten sind (Art 1 Abs 1 GG). Schon deshalb verbietet es sich, von A. erlittenes NS-Unrecht gegen dessen Unrechtshandlungen in der DDR aufzurechnen.
Entscheidend kommt es vielmehr auf der Schwere und Intensität der Unrechtshandlungen des Betroffenen selbst in der DDR an. Maßgebend sind Anzahl, Art, Umfang und Dauer seiner Unrechtshandlungen sowie diejenigen der Verletzungen seiner Opfer.
Die Folgen der Beschlüsse, an denen A. verantwortlich mitgewirkt hat, haben vielen Menschen Tod und Verstümmelung gebracht. Der Einsatz von Kriegswaffen, nämlich von Schützenminen und richtungsgebundenen Splitterminen als Bestandteil der „Grenzsicherungsanlagen” und des Grenzregimes der DDR, hat – wie keiner Darlegung bedarf – zum Tod und zu schwersten Verletzungen von unbewaffneten Menschen geführt. A. hat dies durch seine Zustimmung in den Politbürositzungen vom 6. Juli 1971 und 23. Januar 1973 an der allein maßgeblichen Stelle mitverantwortlich veranlaßt und diese höchstrangigen Anordnungen nicht nur in diesen Sitzungen, sondern – wie das LSG rechtsfehlerfrei festgestellt hat – auch in den Folgejahren mitgetragen und sie zu rechtfertigen versucht. Die Schwere dieser Unrechtshandlungen an den Opfern seiner Amtsausübung im Politbüro der SED rechtfertigt die Entscheidung der Beklagten, das Recht auf eine Entschädigung für die dem A. von den Nationalsozialisten zugefügten Menschenrechtsverletzungen in vollem Umfang abzuerkennen.
Für die Klägerin, deren Recht auf Entschädigungsrente von der früheren Rechtsposition des A. abgeleitet ist, bedeutet die völlige Aberkennung des Rechts auch dann keine atypische Härte, welche möglicherweise nur eine Kürzung des Wertes dieses Rechts zuließe, wenn der Rechtsentzug dazu führte, daß sie – wie sie behauptet – ihren Rechtsanspruch auf Sozialhilfe gegen die nach Landesrecht zuständige Stelle geltend machen müßte. Denn sie hatte noch keine für die Zukunft schutzwürdige Vertrauensposition erlangt. Sie bezog nämlich nur „rückwirkend” eine Ehrenpension vom 1. März 1992 bis 30. April 1992 und eine Entschädigungsrente vom 1. Mai 1992 bis Oktober 1992 sowie laufend für November 1992 jeweils aufgrund des Bescheides der beigeladenen BfA vom 4. Oktober 1992. Schon weil Zahlungen der BfA an sie nur im Oktober und November 1992 erfolgten, konnte dies die Lebensführung der Klägerin nicht nachhaltig für die Zukunft beeinflussen. Falls die Klägerin – wenn man dies zu ihren Gunsten unterstellt – die Unrechtshandlungen ihres Ehemannes nicht kannte, ergibt sich daraus kein Bestandsinteresse, das rechtsfolgeneinschränkend zu schützen wäre, weil ihre Rechtsstellung davon abhängt, ob eine Aberkennung gegenüber A. berechtigt und geboten wäre. Dies ist der Fall.
3. Die Regelungen des § 5 Abs 1 EntschRG sind verfassungsgemäß und stehen mit den völkervertragsrechtlich begründeten Pflichten der Bundesrepublik Deutschland im Einklang. Wie der Senat ua bereits in seinem Urteil vom 30. Januar 1997 (aaO, S 81 bis 85) dargelegt hat, verstößt die Norm nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art 14 GG, den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG, das Verbot der Benachteiligung aufgrund politischer Anschauungen (Art 3 Abs 3 Satz 1 GG), das Rechtsstaatsgebot (Art 20 GG) oder gegen Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland im Überleitungsvertrag zum Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952 eingegangen ist. Diese Ausführungen sind im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin nochmals wie folgt zusammenzufassen:
a) Das (allein) vom Bewilligungsbescheid der BfA vom 4. Oktober 1992 betroffene Recht der Klägerin auf Entschädigungsrente nach § 2 Abs 2 EntschRG wird nicht von der Eigentumsgarantie des Art 14 GG erfaßt, denn dieses Recht stand bereits bei seiner Entstehung unter dem Vorbehalt der Entziehung nach § 5 Abs 1 EntschRG. Das Recht auf Entschädigungsrente bestand bundesrechtlich erstmals ab 1. Mai 1992, dh mit Inkrafttreten des EntschRG als gesetzlicher Grundlage für die Gewährung von Entschädigungsrenten. § 5 Abs 1 EntschRG stellt schon deshalb keinen Eingriff in ein bestehendes Recht auf Entschädigungsrente dar, sondern bestimmt dessen Inhalt im Zeitpunkt seiner Entstehung mit. Diese Inhaltsbestimmung ist nicht an den Maßstäben des Art 14 GG zu messen.
Zu einer anderen Bewertung führen nicht die Regelungen in der Nr 5 der Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III zum Einigungsvertrag vom 30. August 1990 (EV Nr 5), der aufgrund des Gesetzes vom 23. September 1990 (BGBl II 885) bundesrechtliche Geltung hat. EV Nr 5 hat nur vorübergehend sekundär-bundesrechtlich ein Recht auf Ehrenpension begründet. Soweit die Entschädigungsrente ab 1. Mai 1992 dieses Recht ersetzt, stellt das EntschRG ebenfalls keinen Eingriff in – vermeintlich eigentumsgeschützte – Rechte dar. Das Recht auf Entschädigungsrente ist nicht mit dem Recht auf Ehrenpension identisch. Die Regelungen des EntschRG greifen – mangels Rückwirkung auf die Zeit vor dem 1. Mai 1992 – auch nicht in bis dahin bestehende Rechte auf Ehrenpension ein. Rechtsgrundlage für die Gewährung von Ehrenpensionen war sekundär-bundesrechtlich vom 3. Oktober 1990 bis 31. Dezember 1991 die EhPensAO idF des Rentenangleichungsgesetzes (RAnglG) mit den Maßgaben des EV Nr 5, und zwar vom 1. Januar bis 30. April 1992 allein die bloße, nur bis zur Neuregelung durch originäres Bundesrecht verbindliche Weiterzahlungsanordnung in EV Nr 5a Satz 2. Ab 1. Mai 1992, also mit dem Inkrafttreten des EntschRG, konnte auch kein (monatlicher) Anspruch auf (weitere Zahlung einer) Ehrenpension mehr entstehen, in den § 5 Abs 1 EntschRG hätte eingreifen können. Die BfA hatte also die Bewilligung der Ehrenpension an die Klägerin rechtmäßig auf die Zeit vom 1. März bis 30. April 1992 begrenzt.
Zudem stand auch das Recht auf Ehrenpension bundesrechtlich von Anfang an, dh ab 3. Oktober 1990, sowohl unter dem Vorbehalt der Angleichung an das im bisherigen Bundesgebiet geltende Recht (zum fehlenden Eigentumsschutz bei vorläufiger Regelung von Rechtspositionen vgl BVerfGE 15, 167 ≪200≫), als auch unter dem Vorbehalt der Kürzung oder Aberkennung bei Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit. Die EhPensAO galt sekundär-bundesrechtlich nach §§ 27 Abs 1, 32 Abs 1 RAnglG in der Neufassung durch Art 4 Nr 15 der Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. September 1990 (BGBl II 1239). Gemäß § 27 Abs 1 RAnglG konnten danach Ansprüche und Anwartschaften aus zusätzlichen Versorgungssystemen gekürzt oder aberkannt werden, wenn der Berechtigte oder die Person, von der sich die Berechtigung ableitet, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen oder in schwerwiegendem Maß seine/ihre Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer mißbraucht hat. Unter diesen Voraussetzungen konnten gemäß § 32 Abs 3 RAnglG auch Ehrenpensionen gekürzt oder entzogen werden.
Selbst wenn das EntschRG – die Maßgeblichkeit des Art 14 GG für Rechte auf Wiedergutmachung unterstellt – nicht als erstmalig inhaltsbestimmendes Gesetz über Wiedergutmachungsleistungen an NS-Verfolgte im Beitrittsgebiet zu qualifizieren wäre, würde § 5 Abs 1 EntschRG daher lediglich den zuvor für Ehrenpensionen sekundär-bundesrechtlich bereits ab 3. Oktober 1990 bestehenden, somit zum Inhalt des (vermeintlichen) Eigentumsrechts gehörenden Entziehungsvorbehalt unverändert fortschreiben. Ob und in welchem Umfang ein solcher Vorbehalt bereits vor dem 3. Oktober 1990 bestanden hat, bedarf keiner Prüfung, da von der Eigentumsgarantie des Art 14 GG nur bundesrechtlich begründete Eigentumspositionen erfaßt werden. Für das Gebiet der DDR und die durch diese begründeten Rechtspositionen galt die Eigentumsgarantie des Art 14 GG nicht. Das GG maß sich vor dem 3. Oktober 1990 keine Geltung für das Beitrittsgebiet bei und ist dort auch nicht mit dem Beitritt rückwirkend in Kraft gesetzt worden (stellvertretend Papier, aaO, RdNr 135; BVerfG, Beschluß vom 30. Oktober 1993 – 1 BvL 42/92 –, SozVers 1994, S 106 ≪109≫).
b) Bezüglich des Gleichheitsgrundsatzes des Art 3 Abs 1 GG behauptet die Klägerin nicht, § 5 Abs 1 EntschRG beinhalte eine gegen diesen Grundsatz verstoßende Ungleichbehandlung von NS-Verfolgten aus dem Beitrittsgebiet und anderen NS-Verfolgten (vgl hierzu BSGE 80, 72 ≪82≫). Soweit sie geltend macht, NS-Opfer würden gegenüber NS-Tätern benachteiligt, ist festzustellen, daß keine konkrete (Vergleichs-)Gruppe von NS-Tätern benannt worden oder ersichtlich ist, der trotz Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit Wiedergutmachungsleistungen für selbst erlittene Verfolgung zu gewähren ist. Andere Leistungsgesetze des sozialen Entschädigungsrechts enthalten teilweise ebenfalls eine dem § 5 Abs 1 EntschRG inhaltlich entsprechende Ermächtigungsgrundlage zur Versagung oder Aberkennung von Leistungen (vgl § 3 Satz 1 Nr 3a G 131, § 2 Abs 1 Nr 2 Häftlingshilfegesetz ≪HHG≫, §§ 3 Abs 2 Nr 2, 5 Nr 1 Buchst b Bundesvertriebenengesetz – BVFG – ≪die allgemeine Ausschlußklausel des § 11 BVFG wurde infolge Änderung des Aussiedler-Rechts zum 1. Januar 1993 als gegenstandslos gestrichen≫, § 359 Lastenausgleichsgesetz ≪LAG≫); im übrigen betreffen sie nicht die Wiedergutmachung für erlittene NS-Verfolgungsmaßnahmen und stellen daher keine dem EntschRG vergleichbaren Regelungswerke dar.
Soweit die Revision geltend macht, § 5 Abs 1 EntschRG erfasse nur SED-Politbüromitglieder und stelle insoweit ein gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 und Abs 3 GG und gegen das Rechtsstaatsgebot des Art 20 GG verstoßendes Einzelfallgesetz dar, entspricht dies nicht dem sachlichen Anwendungsbereich der Norm. Wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat, stellt § 5 Abs 1 EntschRG nicht darauf ab, in welcher politischen oder gesellschaftlichen Funktion der Betroffene einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit begangen hat. Von dieser Regelung werden vielmehr sowohl Personen betroffen, die eine Verletzungshandlung unmittelbar selbst gegenüber einem Dritten begangen haben, als auch solche Personen, die derartige Handlungen angeordnet, initiiert oder gefördert haben, ungeachtet ihrer politischen, weltanschaulichen oder sonstigen Motivation. § 5 Abs 1 EntschRG verfolgt allein das Ziel, diejenigen (zukünftig) von einer Wiedergutmachung des ihnen durch NS-Verfolgung zugefügten Unrechts ganz oder teilweise auszuschließen, die selbst als Inhaber staatlicher oder staatlich eingeräumter Macht die elementaren Rechte anderer verletzt haben (vgl hierzu ausführlich BSGE 80, 72 ≪83≫ ff), unabhängig von der funktionellen Ebene, auf der diese Macht ausgeübt wurde.
c) § 5 Abs 1 EntschRG enthält – wie bereits gesagt – auch einen noch hinreichend bestimmten Ermächtigungstatbestand, der in einer für die Betroffenen voraussehbaren Weise von den Organen der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt ausgelegt und angewandt werden kann (vgl ua BSGE 80, 72 ≪86≫ mwN). Der Begriff des Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, der bereits seit 1953 (§§ 3 Abs 1, 11 Nr 2 BVFG, § 1 Abs 2 des Gesetzes über die Notaufnahme von Deutschen in das Bundesgebiet – Notaufnahmegesetz ≪NAG≫ – idF des § 101 BVFG) in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland zum Kriegs- und NS-Folgen-Entschädigungsrecht Anwendung findet, ist insbesondere durch eine langjährige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des BVerfG konkretisiert worden. Es ist daher unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit nicht zu beanstanden, daß dieser Begriff auch Eingang in den Ermächtigungstatbestand des § 5 Abs 1 EntschRG gefunden hat.
Eines unmittelbaren Rückgriffs auf die Regelungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) oder des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) bedarf es zur Ausfüllung dieses Begriffes nicht. Die Unwürdigkeit des Verfolgten, staatliche Leistungen für eine durch das NS-Regime erfolgte Verletzung seiner elementaren Rechte, insbesondere seiner (im GG näher ausgeprägten) unverletzlichen Menschenwürde und seiner unveräußerlichen Menschenrechte, zu beanspruchen, kann sich nur an den rechtlichen Maßstäben messen, die für die Bestimmung des Rechts auf Entschädigung selbst gelten, also dem in Übereinstimmung mit den og Abkommen stehenden innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland. Maßstab für die Unwürdigerklärung iS des § 5 Abs 1 EntschRG sind daher die in der Wertordnung des GG und insbesondere in den Grundrechten auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freizügigkeit sowie dem Rechtsstaatsprinzip zum Ausdruck gebrachten Grundsätze dessen, was ein demokratischer Rechtsstaat als Mindestgarantien für ein menschenwürdiges, von staatlicher Willkür freies Dasein zu achten hat; Grundsätze wie sie auch in den og völkerrechtlichen Abkommen ihren Niederschlag gefunden haben. Daher ist es für die Bestimmung der og Grundsätze unerheblich, ob diese völkerrechtlichen Abkommen in der früheren DDR völker-, verfassungs- oder einfachrechtlich Geltung erlangt haben, ob nach dem innerstaatlichen Recht der DDR der der Unwürdigerklärung zugrundeliegende Lebenssachverhalt eine Verletzung der Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit darstellte bzw diese Verletzung als gerechtfertigt angesehen wurde.
Daß die Entschädigungsrenten nach § 2 Abs 2 EntschRG ohne Prüfung der Verfolgteneigenschaft unter Zugrundelegung der nach DDR-Recht ausgesprochenen Anerkennung als Kämpfer gegen das NS-Regime oder Verfolgter des NS-Regimes geleistet werden, ändert hieran nichts. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber den aufgrund des zwischenzeitlichen Zeitablaufs eingetretenen erheblichen Beweisschwierigkeiten sowie – hinsichtlich der Rentenhöhe – einem Bestandsschutzinteresse der Ehrenpensionsbezieher bezüglich (zukünftiger) staatlicher Entschädigungsleistungen Rechnung getragen (vgl hierzu die Begründung des Gesetzentwurfs zum EntschRG BT-Drucks 12/1790, Allgemeiner Teil), nicht jedoch die für die Anerkennung geltenden Wertmaßstäbe des DDR-Rechts übernommen. Vielmehr verfolgt das EntschRG den Zweck, unter Berücksichtigung der bei der Wiedervereinigung vorgefundenen tatsächlichen Gegebenheiten, die eine individualisierte Ausgleichsleistung entsprechend dem für NS-Verfolgte in den alten Bundesländern geltenden Bundesentschädigungsgesetz (BEG) nicht zuließen, auch für NS-Verfolgte im Beitrittsgebiet eine staatliche Entschädigungsleistung der Bundesrepublik Deutschland einzuführen. Es war dagegen nicht Sinn und Zweck des EntschRG, staatliche Leistungen der DDR zu perpetuieren (näher dazu BSGE 80, 54, 63 ff).
Soweit die Revision einwendet, der verwendete Begriff ermögliche pauschale, unbestimmte und undifferenzierte Vorwürfe gegen die Betroffenen und nehme ihnen damit die Möglichkeit, den der Anwendung des § 5 Abs 1 EntschRG zugrunde gelegten Sachverhalt zu widerlegen, trifft dies nicht zu. In der vom Senat vorgenommenen Auslegung erfordert die Anwendung dieser Ermächtigungsnorm den Nachweis (mindestens) einer konkreten Handlung, durch die in Ausübung staatlicher oder staatlich verliehener Macht unmittelbar oder mittelbar in den Kerngehalt eines die Menschenwürde schützenden Menschenrechts eingegriffen wird oder durch die elementare Rechtsstaatsprinzipien verletzt worden sind. Der Eingriffstatbestand setzt somit einen konkreten, sachlich und zeitlich eingegrenzten und dem Beweis zugänglichen Lebenssachverhalt voraus, dem die zum Verstoß führende Handlung, die ggf darauf basierende unmittelbare Verletzungshandlung und der Verletzungserfolg zu entnehmen ist. Ein derartiger Sachverhalt gibt, was keiner weiteren Darlegung bedarf, dem Betroffenen die Gelegenheit zur Erwiderung und ggf Widerlegung.
d) Der Ermächtigungstatbestand des § 5 Abs 1 EntschRG entspricht auch dem rechtsstaatlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit. Die darin zum Ausdruck gebrachte Unwürdigkeit zum Erhalt staatlicher Wiedergutmachungsleistungen für erlittenes NS-Unrecht setzt einen Verstoß gegen elementare Rechte Dritter voraus. Dabei führen einmalige, punktuelle und nach der Art der Begehung und dem eingetretenen Verletzungserfolg nicht schwerwiegende Verstöße schon aus Gründen der tatbestandlichen Verhältnismäßigkeit nicht zur Anwendung der Norm. Liegt ein nicht nur völlig unerheblicher Verstoß vor, führt dies auf der Rechtsfolgenseite nicht zwangsläufig zum vollständigen Entzug der Entschädigungsrente. Vielmehr bestimmen die Umstände des Einzelfalles auch den Umfang, in dem die Rente zu entziehen ist. Damit ermöglicht § 5 Abs 1 EntschRG unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit auch eine sachgerechte Differenzierung hinsichtlich der Rechtsfolgen für Bezieher einer Entschädigungsrente, die selbst einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit begangen haben und solchen, deren Recht auf Rente sich von einem Dritten ableitet, dem ein solcher Verstoß vorzuwerfen ist.
4. Das zur Klärung der Rechtmäßigkeit durchgeführte gerichtliche Verfahren einschließlich des Revisionsverfahrens verstößt auch nicht gegen die Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK. Zum einen wird das sozialgerichtliche Verfahren, mit dem Ansprüche auf staatliche Wiedergutmachungsleistungen verfolgt werden, nicht vom sachlichen Anwendungsbereich des Art 6 EMRK umfaßt (dazu unten a), zum anderen sind die Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK auch in der Sache nicht verletzt (dazu unten b).
a) Die EMRK wurde am 5. Dezember 1952 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Ihre Anwendung als (einfaches) Bundesgesetz unterliegt der revisionsgerichtlichen Prüfung.
Nach Art 6 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhendem Gericht, daß über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat (Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK). Diese Vorschrift findet somit Anwendung ausschließlich auf zivil- und strafrechtliche Verfahren. Das sozialgerichtliche Verfahren zur Durchsetzung eines Rechts auf Wiedergutmachungsleistungen betrifft jedoch öffentlich-rechtliche Ansprüche (vgl zum Entschädigungsrecht für NS-Verfolgte nach dem BEG: Miehsler in Internationaler Komm zur EMRK, Stand Januar 1995, Art 6 RdNr 175 f; Frowein/Peukert, Komm zur EMRK, 2. Aufl, Art 6 RdNr 52 unter Hinweis auf hierzu ergangene Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte; s auch die Begründung des Gesetzentwurfs zum BEG, BT-Drucks 2/1949, S 93) und fällt daher nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des Art 6 EMRK. Hierzu gehört auch das Recht auf Entschädigungsrente nach dem EntschRG.
Wie der Senat bereits im og Urteil ausgeführt hat, regelt das EntschRG die Gewährung staatlicher (Sonder-)Leistungen der Bundesrepublik Deutschland für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet. Diese Leistungen beruhen nicht auf einer zivilrechtlichen Einstandspflicht für die von NS-Tätern begangenen Schädigungshandlungen. Daß eine zivilrechtliche Inanspruchnahme der Täter in der Regel keinen Erfolg verspricht, stellt lediglich eines der Motive für die Gewährung staatlicher Wiedergutmachungsleistungen an NS-Opfer dar (s BT-Drucks 2/1949, S 69 ff). Die Bundesrepublik Deutschland unternahm mit dem BEG aufgrund ihres Bekenntnisses zur Achtung und zum Schutz der Menschenwürde und der unveräußerlichen Menschenrechte den Versuch, denjenigen, deren Ansehenswürde und Menschenrechte im Namen des Nationalsozialismus mit Füßen getreten worden waren, als Akt der staatlichen Wiederanerkennung ihrer Menschenwürde die erlittenen Beeinträchtigungen durch Schaffung besonderer, gegen die Bundesländer gerichteter Ansprüche eigener Art (BVerfGE 13, 39 ≪43≫) zumindest teilweise finanziell auszugleichen. Da die im Beitrittsgebiet lebenden NS-Opfer von der Inanspruchnahme dieser Wiedergutmachungsleistungen durch die faktische Teilung Deutschlands ausgeschlossen waren (die Regelung des Entschädigungsrechts für NS-Opfer außerhalb des Geltungsbereichs des BEG blieb dem gesamtdeutschen Gesetzgeber vorbehalten – vgl BT-Drucks 2/1949, S 74), und wegen der bis zur Wiedervereinigung vergangenen Jahrzehnte eine Sachverhaltsaufklärung, wie sie zur Anwendung des BEG erforderlich wäre, nicht mehr erfolgversprechend und zügig möglich erschien, wurde für diese NS-Opfer mit dem EntschRG eine pauschalierte Wiedergutmachung in Anlehnung an die nach dem Recht der früheren DDR gewährten Ehrenpensionen eingeführt (vgl BT-Drucks 12/1790, Allgemeiner Teil). Das EntschRG verfolgt damit dieselbe wiedergutmachungsrechtliche Zielsetzung wie sie dem BEG zugrunde liegt, dessen Leistungen nach den Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte nicht zivilrechtlicher Natur iS des Art 6 EMRK sind.
§ 5 Abs 1 EntschRG stellt auch keine strafrechtliche Vorschrift dar. Diese Norm regelt ausschließlich und ohne Bezug auf eine individuelle Tatschuld die teilweise oder vollständige Aberkennung eines staatlich gewährten Rechts auf Wiedergutmachung für NS-Opfer aufgrund eines von ihnen begangenen objektiven Verstoßes gegen Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit. Sie beinhaltet somit keine Strafsanktion, sondern verhindert bzw beseitigt Wertungswidersprüche, die sich daraus ergeben würden, daß ein Opfer menschenrechtsverachtender Maßnahmen eine Entschädigung für das dadurch erlittene Unrecht erhält bzw verlangt, obgleich das Opfer selbst menschenverachtende Maßnahmen gegenüber Dritten initiiert, gefördert oder durchgeführt hat. Das hier vorliegende sozialgerichtliche Verfahren stellt daher kein strafrechtliches Verfahren iS des Art 6 EMRK dar.
b) Aber auch in der Sache sind die Einwendungen der Revision hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Verfahrensgarantien des Art 6 EMRK unbegründet.
aa) Wie bereits ausgeführt, unterliegt der gerichtlichen Prüfung nur, ob der vom BVA dem angefochtenen Aberkennungsbescheid zugrunde gelegte Sachverhalt den Eingriffstatbestand des § 5 Abs 1 EntschRG erfüllt und die vollständige Aberkennung des Rechts auf Entschädigungsrente rechtfertigt. Dabei muß es sich, wie ebenfalls bereits ausgeführt, um einen konkreten, sachlich und zeitlich eingegrenzten und dem Beweis zugänglichen Lebenssachverhalt handeln, dessen Richtigkeit von den Tatsacheninstanzen im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu überprüfen ist. Ein solcher Lebenssachverhalt liegt in diesem Verfahren vor. Die entsprechenden Tatsachenfeststellungen des LSG sind von der Revision nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden. Deshalb ist die Begründung, das Verfahren basiere auf bloßen Unterstellungen und unbestimmten Vorwürfen, unzutreffend.
bb) Soweit die Klägerin vorträgt, das Verhalten ihres verstorbenen Ehemannes werde nach der verfassungsrechtlichen Wertordnung und dem Recht der Bundesrepublik Deutschland, nicht aber der früheren DDR beurteilt, ist dies zutreffend und entspricht auch den gesetzlichen Erfordernissen und damit den verfahrensrechtlichen Garantien des Art 6 EMRK auf unabhängige und unparteiische gerichtliche Überprüfung. Die Entschädigungsrente ist eine Wiedergutmachungsleistung, die von der Bundesrepublik Deutschland gewährt wird. Die DDR als Staat ist nach der Beitrittserklärung vom 23. August 1990 gemäß dem Art 1 EV nicht Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland geworden, sondern mit Ablauf des 2. Oktober 1990 untergegangen und als Rechtssubjekt erloschen. Seitdem gehören nur die zum 3. Oktober 1990 im früheren DDR-Gebiet wiedergegründeten Bundesländer zur Bundesrepublik. Die Zuerkennung des Rechts auf Wiedergutmachung (und als ihr Spiegelbild die Versagung des Rechts) richtet sich nach dem EntschRG, das Bestandteil der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ist und sich demgemäß an den verfassungsrechtlichen Vorgaben des GG orientiert. Dazu gehören insbesondere die Menschenrechte sowie das Rechtsstaatsprinzip, deren Inhalt durch die Wiedervereinigung nicht beeinflußt worden ist.
Dabei kann es für die Beurteilung, ob das Verhalten des Verstorbenen, an das bei der Erbringung dieser Leistung der Bundesrepublik Deutschland – nicht der DDR – tatbestandlich anzuknüpfen ist, den Vorwurf der Unwürdigkeit iS des § 5 Abs 1 EntschRG begründet, nicht darauf ankommen, ob dieses Verhalten nach der (erloschenen) Rechtsordnung der früheren DDR billigenswert war und/oder von den staatlichen Organen und der Rechtspflege der DDR und insbesondere von dem obersten Inhaber aller Staatsgewalt, dem SED-Politbüro, tatsächlich gebilligt worden ist. Maßgebend ist vielmehr, ob ein Verstoß gegen die – nach dem Grundverständnis des Rechts in Art 1 GG – von allen Menschen zu respektierenden – wenn auch tatsächlich nicht von allen respektierten – Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, deren Wahrung eine Verpflichtung jedes Staates ist und deren Verletzung daher nicht durch eine staatliche Rechtsordnung legitimiert sein kann. Bei diesen Grundsätzen des nunmehr in den neuen Bundesländern geltenden GG handelt es sich im übrigen auch um völkerrechtliche Prinzipien, denen die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet ist.
Insoweit gilt für NS-Opfer nichts anderes als für NS-Täter. Auch NS-Täter handelten vielfach in Übereinstimmung mit der für sie damals geltenden (Un-)Rechtsordnung (vgl Beschluß des BVerfG vom 26. Oktober 1996 – 2 BvR 1851/94 ua, NJW 1997, 929 ≪931≫ mwN). Es wäre jedoch wertungswidersprüchlich, könnte das Opfer einerseits geltend machen, daß ihm gegenüber verübte NS-Unrecht sei nicht an der damals geltenden (Un-)Rechtsordnung zu messen (so bereits BT-Drucks 2/1949, S 84), sich aber andererseits darauf berufen, eigene Unrechtshandlungen seien nach der für ihn geltenden (Un-)Rechtsordnung der DDR legitimiert gewesen. Darin liegt keine inhaltliche Gleichsetzung des „NS-Unrechts” mit dem „SED-Unrecht” oder des „Rechts des sog Dritten Reiches” mit dem „Recht der DDR”. Maßstäbe der Prüfung und ggf der Rechtfertigung sind allein universelle Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, die im GG der Bundesrepublik Deutschland festgeschrieben sind.
Somit vermögen die im Revisionsverfahren – wie auch in den Vorinstanzen – anzulegenden Maßstäbe für die rechtliche Bewertung des Verhaltens des A. in der ehemaligen DDR eine Parteilichkeit der mit diesem Rechtsstreit befaßten Richter iS des Art 6 EMRK nicht zu begründen.
5. Die Revision der Klägerin konnte also nur bezüglich der vorläufigen, nicht aber hinsichtlich der endgültigen Aberkennung des Rechts auf Entschädigungsrente Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175624 |
ZAP-Ost 1998, 273 |
NJ 1999, 109 |
SGb 1998, 362 |
SozR 3-8850 § 5, Nr. 3 |