Entscheidungsstichwort (Thema)
Erneute Vertreibung aus Rumänien. Aussiedler. Rücknahme eines Rentenbescheides mit Wirkung für die Vergangenheit
Leitsatz (amtlich)
1. Eine anerkannte Vertriebene, die sich 1955/56 für einen vorübergehenden Aufenthalt in ihre alte Heimat (Rumänien) begeben hat und von den dortigen Behörden an einer Rückkehr nach Deutschland gehindert worden ist, kann gemäß § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG als Aussiedlerin anzusehen sein, wenn sie 1983 in die Bundesrepublik kommt.
2. Die Rücknahme eines Rentenbescheides erfolgt iS von § 45 Abs 4 SGB 10 auch insoweit mit Wirkung für die Vergangenheit, als sie vor der Bekanntgabe des Rücknahmebescheides liegende Bewilligungszeiträume betrifft, für die – wegen einer vorläufigen Einbehaltung des Nachzahlungsbetrages – noch keine Leistungen erbracht worden sind.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
FRG § 1 Buchst. a, § 15; BVFG § 1 Abs. 2 Nr. 3; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3; SGB X § 45 Abs. 4; BVFG § 15 Abs. 5
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. Dezember 1994 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Rücknahme eines Neufeststellungsbescheides, durch welchen die Beklagte die Witwenrente der Klägerin unter Anrechnung weiterer Versicherungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) erhöht hatte.
Die am 6. April 1925 geborene Klägerin ist Witwe des 1920 geborenen und am 8. März 1974 verstorbenen Versicherten A. … H. … Beide Eheleute stammen als Volksdeutsche aus Rumänien. Der Versicherte war bis 1945 Soldat bei der deutschen Wehrmacht und nahm nach westalliierter Kriegsgefangenschaft im Jahre 1946 seinen Wohnsitz im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Die Klägerin wurde nach Kriegsende in die damalige Sowjetunion verschleppt und reiste dann in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier erfolgte im Jahre 1950 die Eheschließung. Beide Eheleute wurden als Vertriebene anerkannt und erhielten den Ausweis A.
Der Versicherte war zunächst bis 1951 in Bayern, anschließend bis 1952 in Österreich und sodann bis Ende 1955 erneut im Bundesgebiet versicherungspflichtig beschäftigt. Zum Jahreswechsel 1955/56 fuhren die Eheleute mit ihren Kindern nach Rumänien. Nach Angaben der Klägerin erfolgte die Reise, weil ihre eigene Mutter und die Eltern des Versicherten noch dort lebten und keine Ausreisegenehmigung erhalten hatten. Die Mutter des Versicherten sei wegen eines Schlaganfalls pflegebedürftig geworden und dessen Vater wegen eines Asthmaleidens zu ihrer Pflege nicht in der Lage gewesen. Man habe die Eltern in die Bundesrepublik holen wollen. In Rumänien hätten sie sich innerhalb einer Woche nach der Ankunft polizeilich gemeldet und für ihre Angehörigen Ausreiseanträge gestellt. Daraufhin seien ihnen ihre deutschen Reisepässe abgenommen worden. In der Folgezeit sei dann weder ihnen selbst noch ihren Angehörigen die Ausreise gestattet worden.
In Rumänien war der Versicherte von Januar 1956 bis März 1969 versicherungspflichtig beschäftigt. Danach bezog er bis zum seinem Tode eine Rente. Im Mai 1983 kam die Klägerin in die Bundesrepublik. Auf ihren Antrag wurde ihr eine Zweitschrift des am 8. November 1955 ausgestellten Vertriebenenausweises A erteilt.
Mit Bescheid vom 8. November 1983 bewilligte die Beklagte der Klägerin unter Hinweis auf eine mögliche Anerkennung weiterer Versicherungszeiten ab 26. Mai 1983 eine Witwenrente in Höhe von monatlich 117,80 DM, die durch Bescheid vom 24. Februar 1984 (auf 307,60 DM) neu festgestellt wurde. Dabei blieben die vom Versicherten in der Zeit ab 1956 in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten nach dem FRG unberücksichtigt, weil sie nach der Vertreibung zurückgelegt worden seien. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 28. Juni 1984, Urteil des Sozialgerichts Frankfurt ≪SG≫ vom 29. Mai 1985).
Im April 1991 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. Dezember 1984 – 11 RA 69/83 – (SozR 5050 § 15 Nr 27) eine Überprüfung des Rentenbescheides mit dem Ziel einer Anerkennung der rumänischen Beschäftigungszeiten des Versicherten. Mit Bescheid vom 29. Mai 1991 stellte die Beklagte die Witwenrente der Klägerin daraufhin unter Berücksichtigung der Zeit vom 21. Januar 1956 bis 28. Februar 1974 mit Wirkung ab 1. Januar 1987 (in Höhe von 704,90 DM) neu fest. Dabei wurde für die Zeit ab 1. Juli 1991 ein monatlicher Zahlbetrag von 787,07 DM (838,20 DM, zuzüglich 51,13 DM ≪Beitragszuschuß zur Krankenversicherung≫, abzüglich 102,26 DM ≪für Krankenversicherung≫) ausgewiesen und der Nachzahlungsbetrag für die Zeit vom 1. Januar 1987 bis 30. Juni 1991 (19.042,08 DM) vorläufig einbehalten. Zur Auszahlung dieser Summe kam es nicht, nachdem die Beklagte alsbald Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bekommen hatte.
Mit Schreiben vom 20. September 1991 wurde die Klägerin gemäß § 24 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) zu der beabsichtigten Rücknahme des Bescheides vom 29. Mai 1991 angehört. Durch Bescheid vom 16. Oktober 1991 stellte die Beklagte sodann die Witwenrente der Klägerin mit Wirkung ab 1. Januar 1987 auf 356,10 DM neu fest. Für die Zeit vom 1. Januar 1987 bis 30. November 1991 errechnete sie eine Überzahlung in Höhe von 1.946,55 DM, wobei sie berücksichtigte, daß erst ab 1. Juli 1991 die durch den Bescheid vom 29. Mai 1991 erhöhten Rentenbeträge ausgezahlt worden waren. Dem Widerspruch der Klägerin gab die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 1992 insoweit statt, als die für die Zeit von Juli bis November 1991 tatsächlich zur Auszahlung gekommenen Rentenbeträge in Höhe von 1.946,55 DM nicht zu erstatten seien. Im übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Das von der Klägerin angerufene SG hat den Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1992 durch Urteil vom 7. Juni 1993 aufgehoben, weil die im Jahre 1983 erfolgte Übersiedlung der Klägerin von Rumänien in die Bundesrepublik iS von § 1 Abs 2 Nr 3 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz ≪BVFG≫) als erneute Vertreibung zu werten sei. Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. Dezember 1994 die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. Dieses Urteil ist auf folgende Erwägungen gestützt:
Der angefochtene Verwaltungsakt erfülle die Voraussetzungen des § 45 SGB X. Der Bescheid vom 29. Mai 1991 sei rechtswidrig gewesen, da die Zeiten vom 21. Januar 1956 bis zum 28. Februar 1974 nicht anzurechnen gewesen seien. Zwar finde gemäß § 1 Buchst a FRG auf die Klägerin und den Versicherten das Fremdrentenrecht Anwendung, da sie als Vertriebene anerkannt worden seien. Entgegen der Auffassung des SG seien jedoch die hier strittigen rumänischen Versicherungszeiten von 1956 bis 1974 nicht gemäß § 15 FRG deutschen Beitragszeiten gleichzustellen. Entscheidend sei insoweit, daß die Klägerin und der Versicherte auf ihren Antrag hin den Vertriebenenausweis A bereits vor dem streitigen Zeitraum erhalten hätten. In der Erteilung des Vertriebenenausweises A, also der Anerkennung als Heimatvertriebener, liege zugleich die den Rentenversicherungsträger und damit auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bindende Feststellung der Vertreibung. Mithin sei auch im vorliegenden Fall durch die Ausstellung des Vertriebenenausweises A zugleich für Rentenversicherungsträger und SGe ein abgeschlossener Vertreibungsvorgang verbindlich bejaht worden. Sei aber hiernach die Vertreibung bereits abgeschlossen gewesen, so könnten die nachfolgenden streitigen Zeiten nach den Vorschriften des FRG nicht mehr den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt werden.
Entgegen der Auffassung des SG vermöge der Senat vorliegend auch keinen abweichend vom Wortlaut des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG ausnahmsweise anzuerkennenden Sonderfall der Rückkehr aus besonders schwerwiegenden Gründen nach dem Stichtag des 31. März 1952 zu erkennen. Er könne schon die Überzeugung des SG nicht teilen, daß die Klägerin und der Versicherte nicht aus freiem Entschluß zur Pflege ihrer Eltern nach Rumänien zurückgekehrt seien. So sprächen gegen diese Darstellung der Klägerin mehrere Gesichtspunkte, die das SG nicht weiter erörtert habe, wie zB die Tatsache, daß tatsächlich die gesamte Familie nach Rumänien gefahren sei, was bei dem angegebenen Vorhaben doch eher habe hinderlich erscheinen müssen. Gegen die Darstellung der Klägerin spreche ferner die Tatsache, daß sie erst viele Jahre nach dem Eintritt des Rentenfalles – sowohl bei dem Versicherten wie bei ihr selbst – ins Bundesgebiet zurückgekommen sei und zwischenzeitliche Ausreisebemühungen, die bei einem zwangsweise Festgehaltenwerden durch rumänische Behörden nahegelegen hätten, nicht dokumentiert seien. Ferner spreche gegen die Darstellung der Klägerin auch die Tatsache, daß keinerlei diplomatische Verwicklungen in dieser Angelegenheit bekannt geworden seien, was angesichts eines Zwangsaufenthaltes deutscher Staatsbürger in Rumänien nicht so ohne weiteres erklärbar scheine. Jedoch könnten diese Zweifel an der Darstellung der Klägerin dahingestellt bleiben, weil es nach Auffassung des Senats entscheidend auf den Abschluß der Vertreibung ankomme. Gerade, wenn man dem SG folge und keine erneute Wohnsitznahme im Vertreibungsgebiet annehme, müßte vorliegend gelten, daß der Wohnsitz in der Bundesrepublik die ganzen Jahre über beibehalten worden sei. Das verdeutliche, daß, sofern die Schilderung der Klägerin zutreffe, das völkerrechtswidrige Verhalten der rumänische Behörden einen Tatbestand geschaffen habe, der mit dem deutschen Vertreibungsrecht nicht zu erfassen sei. Nehme man schließlich entgegen der Auffassung des SG eine Rückkehr iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG an, so scheitere eine Vertreibung iS des Gesetzes schließlich an der gesetzlichen Stichtagsbegrenzung des 31. März 1952.
Bei ihrer Aufhebungsentscheidung habe die Beklagte auch das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme abzuwägen gehabt. Diese Abwägung habe die Beklagte jedenfalls im Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 1992 ordnungsgemäß vorgenommen, da sie die tatsächlich zur Auszahlung gekommenen Rentenbeträge für die Zeit vom 1. Juli 1991 bis 30. November 1991 nicht zurückverlangt und im übrigen ausgeführt habe, daß die noch nicht ausbezahlten Rentenbeträge nicht verbraucht worden seien. Zutreffend weise die Beklagte im Rahmen ihrer Ermessensabwägungen auch darauf hin, daß der Fehler unmittelbar nach Erlaß des Verwaltungsaktes bemerkt und korrigiert worden sei. Der Senat halte diese Abwägung für ausreichend. Obwohl die Beklagte in keinem ihrer Bescheide auf die Rechtsgrundlage des § 45 SGB X hingewiesen habe, habe sie die Erfordernisse dieser Vorschrift doch in vollem Umfang beachtet.
Mit ihrer vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 15 FRG und § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG. Der Versicherte und sie seien nach ihrer Wohnsitznahme im Bundesgebiet nicht mehr iS der letztgenannten Vorschrift nach Rumänien zurückgekehrt. Sie hätten 1955 Urlaub genommen und seien nach Rumänien gereist, um von dort die Eltern ihres Ehemannes und ihre eigene Mutter nach Deutschland zu holen. Sie hätten weder in der Bundesrepublik ihre Wohnung aufgegeben und ihren Hausrat verkauft noch bei der Einreise nach Rumänien 1955 den Willen gehabt, ihren Lebensmittelpunkt dorthin zu verlegen. Nur weil ihnen keine andere Wahl geblieben sei und sie sich in die damaligen Machtverhältnisse Rumäniens hätten einfügen müssen, hätten sie nicht mehr wie geplant nach Deutschland zurückreisen können. Vor ihrer Einreise nach Rumänien sei ihnen von den rumänischen Behörden versichert worden, daß ihnen eine Rückreise erlaubt werde. Der von ihnen gestellte Ausreiseantrag sei von den dortigen Behörden jedoch nicht genehmigt worden. Bis zum Mai 1983 habe sie gezwungenermaßen in Rumänien verbleiben müssen.
Die Ausstellung des Flüchtlingsausweises A stelle im vorliegenden Fall nicht einen für die SGe verbindlichen abgeschlossenen Vertreibungsvorgang dar, der dazu führen könnte, daß die streitigen rumänischen Zeiten nicht mehr nach dem FRG den deutschen Zeiten gleichzustellen sei. Es liege vielmehr ein Sonderfall vor, der abweichend vom Wortlaut des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG zur Anerkennung einer erneuten Vertreibung führe. Es habe nämlich ein unausweichlicher, besonders schwerwiegender Grund für die „Rückkehr” nach Rumänien vorgelegen. Der Umstand, daß die rumänischen Behörden ihr und ihrem Ehemann die Reisepässe abgenommen und die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt hätten, habe die „Rückkehr” für sie unausweichlich werden lassen, da sie sich den seinerzeitigen Machtverhältnissen hätten fügen müssen. Für die Beurteilung, ob eine Rückkehr iS des BVFG vorliege, komme es lediglich darauf an, ob sie freiwillig nach Rumänien zurückgekehrt seien oder nicht. Dies entspreche der Motivation des Gesetzgebers, mit der Stichtagsregelung bis zu einer bestimmten Zeit es als unschädlich anzuerkennen, daß Vertriebene, was die Regel gewesen sei, hin und her geirrt seien und nicht gewußt hätten, für welchen Staat sie sich entscheiden sollten. Die Vorschrift stelle eindeutig auf den freien Willen des Versicherten ab. Es sei nicht erkennbar, daß auch solche Gründe, die nicht im Entscheidungsbereich der Versicherten lägen, einer Gleichstellung entgegenstehen sollten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG vom 19. Dezember 1994 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 7. Juni 1993 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt im wesentlichen vor: Die Ausführungen der Klägerin seien in sich widersprüchlich, indem sie zum einen besonders schwerwiegende Gründe für die Rückkehr nach Rumänien geltend mache, zum anderen aber bestreite, daß bei der Reise nach Rumänien ein Rückkehrwille vorgelegen habe. Bei Fehlen eines Rückkehrwillens könne in Anbetracht des beschriebenen staatlichen Zwanges nicht von einer Wohnsitzbegründung ausgegangen werden. Darüber hinaus sei gemäß § 1 Buchst a FRG für eine Anrechnung der von 1956 bis 1974 in Rumänien zurückgelegten Beitragszeiten eine Anerkennung der Klägerin als Aussiedlerin durch die zuständige Vertriebenenbehörde zu fordern. Für Sachverhalte, die durch staatliche Zwangsmaßnahmen geschaffen würden, sei im übrigen zwar eine rentenrechtliche Berücksichtigung gemäß dem Ersatzzeitenkatalog des § 1251 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Betracht zu ziehen. Jedoch erfasse insbesondere § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO nicht eine Einreise nach Rumänien zum Jahreswechsel 1955/56 und einen anschließenden Zwangsaufenthalt.
Der erkennende Senat hat eine Stellungnahme des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) eingeholt, die am 21. Februar 1997 unter Beifügung von Äußerungen des Auswärtigen Amtes vom 28. Januar 1997 und des Bundesministeriums des Inneren (BMI) vom 4. Oktober 1996 abgegeben worden ist. Auf den Inhalt dieser Schreiben wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil die berufungsgerichtlichen Feststellungen für eine abschließende Entscheidung des erkennenden Senats nicht ausreichen. Zunächst bedarf es einer weiteren Sachaufklärung zum Vorliegen einer „erneuten Vertreibung” der Klägerin im Jahre 1983; ggf sind auch noch Ermittlungen dazu anzustellen, ob die Voraussetzungen einer Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO vorliegen. Sollte sich der Bescheid vom 29. Mai 1991 danach als rechtswidrig erweisen, müßten noch ergänzende Feststellungen zum Vorliegen der weiteren Voraussetzungen des § 45 SGB X getroffen werden.
Gegenstand des Verfahrens ist die Anfechtung des Bescheides vom 16. Oktober 1991 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1992 (vgl § 54 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Seinem Inhalt nach regelt dieser Verwaltungsakt im wesentlichen die Aufhebung des Bescheides vom 29. Mai 1991, durch den die Witwenrente der Klägerin unter Anrechnung der Zeit von Januar 1956 bis Februar 1974 mit Wirkung ab 1. Januar 1987 neu festgestellt worden war. Zwar enthält der Bescheid vom 16. Oktober 1991 auch den Hinweis, daß er den Bescheid vom 24. Februar 1984 ersetze. Diese Angabe hat jedoch nur technische Bedeutung. In der Sache verändert der Bescheid vom 16. Oktober 1991 die durch den Bescheid vom 24. Februar 1984 begründete Rechtsposition der Klägerin nicht; denn die Rente ist ab 1. Januar 1987 gemäß den ursprünglichen Berechnungsgrundlagen festgestellt worden. Die zunächst erfolgte Anordnung einer Erstattung überzahlter Rentenleistungen in Höhe von 1.946,55 DM ist im Widerspruchsbescheid fallen gelassen worden.
Ob der Bescheid vom 16. Oktober 1991 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1992 – wie das LSG angenommen hat – in vollem Umfang rechtmäßig ist, vermag der erkennende Senat gegenwärtig noch nicht zu beurteilen. Das zum Erlaß dieses Verwaltungsaktes führende Verwaltungsverfahren ist allerdings rechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere ist die nach § 24 SGB X erforderliche Anhörung der Klägerin erfolgt.
Zweifelhaft ist dagegen, ob der angefochtene Verwaltungsakt den Anforderungen des hier als Ermächtigungsgrundlage allein in Betracht kommenden § 45 SGB X genügt. Abs 1 dieser Vorschrift bestimmt: Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Während der Neufeststellungsbescheid vom 29. Mai 1991 im Hinblick auf die damit verbundene Rentenerhöhung ohne weiteres als begünstigender Verwaltungsakt iS dieser Regelung einzustufen ist, bedarf die Frage seiner Rechtswidrigkeit einer eingehenden Prüfung. Dabei kommt es hier darauf an, ob die Zeit vom 21. Januar 1956 bis 28. Februar 1974 zu Recht bei der Rentenberechnung berücksichtigt worden ist.
Der hier streitige Witwenrentenanspruch der Klägerin richtet sich noch nach dem zum 31. Dezember 1991 aufgehobenen Vierten Buch der RVO (vgl Art 6 Nr 24, Art 85 Abs 1 Rentenreformgesetz 1992 ≪RRG 1992≫). Dies ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 300 Abs 2 und 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI). Nach § 300 Abs 2 SGB VI sind aufgehobene Vorschriften dieses Gesetzbuchs (vgl Art II § 1 Nr 4 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB I≫) und durch dieses Gesetzbuch ersetzte Vorschriften auch nach dem Zeitpunkt ihrer Aufhebung noch auf den bis dahin bestehenden Anspruch anzuwenden, wenn der Anspruch bis zum Ablauf des dritten Kalendermonats nach der Aufhebung (also hier bis zum 31. März 1992) geltend gemacht worden ist. § 300 Abs 3 SGB VI sieht vor, daß Abs 2 auch gilt, wenn nach dem maßgebenden Zeitpunkt eine bereits geleistete Rente neu festzustellen ist und dabei die persönlichen Entgeltpunkte neu zu ermitteln sind. Aus diesen Bestimmungen läßt sich folgern, daß das alte Recht erst recht anwendbar ist, wenn es nicht um eine nach dem 1. Januar 1992 vorzunehmende Neufeststellung geht, sondern ein vor dem 1. Januar 1992 ergangener Bescheid streitig ist, durch den ein früherer Verwaltungsakt gemäß § 45 SGB X zurückgenommen werden soll (vgl dazu Kasseler Komm/Niesel, § 300 SGB VI RdNr 17).
Gemäß § 1268 Abs 1 RVO beträgt die Witwenrente 6/10 der nach § 1253 Abs 1 RVO ohne Berücksichtigung einer Zurechnungszeit berechneten Versichertenrente ohne Kinderzuschuß. § 1253 Abs 1 RVO bestimmt, daß der Jahresbetrag der Rente wegen Berufsunfähigkeit für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr (§ 1258 RVO) 1 vH der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage (§ 1255 RVO) ist. Bei der Ermittlung der Anzahl der anrechungsfähigen Versicherungsjahre iS von § 1253 RVO werden nach § 1258 Abs 1 RVO grundsätzlich die auf die Wartezeit anzurechnenden Versicherungszeiten (§§ 1249 bis 1251a RVO), die Ausfallzeiten (§ 1259 RVO) und die Zurechnungszeit (§ 1260 RVO) zusammengerechnet. Nach Maßgabe der §§ 14 ff FRG können dabei auch Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt worden sind (vgl § 15 FRG), sowie Zeiten einer vor der Vertreibung in den in § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG genannten ausländischen Gebieten verrichteten Beschäftigung (vgl § 16 FRG) Berücksichtigung finden. Dies kommt vorliegend in Betracht.
Gemäß § 1 Buchst a FRG findet dieses Gesetz auf Vertriebene iS des § 1 BVFG Anwendung, die als solche im Geltungsbereich dieses Gesetzes anerkannt sind. Da es hier um die Berechnung einer Witwenrente geht, ist insoweit auf den Vertriebenenstatus der Klägerin abzustellen. § 1 Buchst a FRG begründet nämlich eine eigenständige Berechtigung vertriebener Hinterbliebener (vgl BSGE 49, 175, 181 ff = SozR 5050 § 15 Nr 13). Nach den Feststellungen des LSG, die von den Beteiligten nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen worden und damit für den erkennenden Senat bindend sind (vgl § 163 SGG), hat die Klägerin (ebenso wie der Versicherte) in der Zeit bis 1955 einen Vertriebenenausweis A erhalten. Darüber hinaus ist ihr im Jahre 1983 eine Zweitschrift des am 8. November 1955 ausgestellten Ausweises erteilt worden. Somit kann die Klägerin als anerkannte Vertriebene angesehen werden, die vom FRG erfaßt wird.
Hinsichtlich der Bindungswirkung von Vertriebenenausweisen ist allerdings zu differenzieren. Maßgebend ist insofern der hier gemäß § 100 BVFG weiterhin anwendbare § 15 Abs 5 BVFG. Nach dieser Vorschrift ist die Entscheidung über die Ausstellung des Ausweises für alle Behörden und Stellen verbindlich, die für die Gewährung von Rechten und Vergünstigungen als Vertriebene nach dem BVFG oder einem anderen Gesetz zuständig sind.
Was die zeitliche Geltung dieser Regelung anbelangt, so ist hier zu berücksichtigen, daß sie erst durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des BVFG (2. ÄndGBVFG) vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1207) eingeführt worden ist, ohne daß eine Rückwirkung angeordnet worden wäre. Daher hat § 15 Abs 5 Satz 1 BVFG nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG), der sich der erkennende Senat anschließt, für Entscheidungen der Flüchtlingsbehörden, die vor dieser Neufassung ergangen sind, keine Bedeutung erlangt (vgl BVerwGE 6, 42, 44; BVerwG Buchholz 427.3 § 11 Nrn 16, 20, 27, 29). Bindungswirkung iS dieser Vorschrift entfalten nur solche Vertriebenenausweise, die in der Zeit ab dem Inkrafttreten des 2. ÄndGBVFG erteilt worden sind. Im vorliegenden Fall bedeutet dies zwar, daß der der Klägerin im Jahre 1955 ausgestellte Ausweis für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung keine Verbindlichkeit beanspruchen konnte. In der 1983 erteilten Zweitschrift des Vertriebenenausweises A ist jedoch eine Bestätigung der früheren Anerkennungsentscheidung zu sehen, so daß § 15 Abs 5 Satz 1 BVFG insoweit Anwendung findet.
Ihrem sachlichen Umfang nach erstreckt sich die Bindungswirkung des Vertriebenenausweises zwar auch auf die zur Feststellung des Vertriebenenstatus erforderlichen Voraussetzungen, wie zB die deutsche Volkszugehörigkeit (vgl BVerwGE 34, 90, 91 f; 35, 316, 317; ebenso BSG SozR 5050 § 15 Nr 34; SozR 3-2200 § 1252 Nr 2), nicht jedoch auf darüber hinausgehende Merkmale (vgl dazu BVerwG, RLA 1962, 169; BVerwGE 35, 316, 318; 70, 159, 161; BSG SozR 5050 § 15 Nr 27). Dies gilt zB für den genauen Zeitpunkt der Vertreibung. Jedenfalls kann der im Ausweis der Klägerin, dh der „Zeitschrift”, enthaltene Vermerk: „Ständiger Aufenthalt im Bundesgebiet seit September 1948/22.05.83” insoweit keine Bindungswirkung beanspruchen (vgl BVerwG, RLA 1962, 169, 170; ähnlich auch BSG SozR 5050 § 15 Nr 27). Das BSG hat sogar eine Verbindlichkeit des Ausweises für die Frage verneint, ob eine bestimmte Alternative des § 1 BVFG vorliegt (vgl BSG SozR Nr 3 zu § 1321 RVO; BSG SozEntsch VI § 100 Nr 2; für eine weitergehende Bindung aber wohl BSG SozR 3-2200 § 1252 Nr 2).
Da nach dem FRG nur solche in einem Vertreibungsgebiet zurückgelegten Versicherungszeiten berücksichtigt werden können, die vor der Vertreibung liegen (vgl BSGE 43, 224), kann die Klägerin eine Anerkennung der Zeit von 1956 bis 1974 nur erreichen, wenn ihre Einreise in die Bundesrepublik im Jahre 1983 als Vertreibung iS des § 1 BVFG gewertet werden kann. Ein derartiges Ergebnis ist – entgegen der Auffassung des LSG – nicht bereits durch den der Klägerin erteilten Vertriebenenausweis A ausgeschlossen. Nach der Konzeption des BVFG soll zum Zwecke der Ausstellung des Ausweises nur einmal und abschließend über die Vertriebeneneigenschaft entschieden werden (vgl BVerwG Buchholz 412.3 § 15 Nrn 9, 10; BVerwGE 49, 179f; BVerwG Buchholz 412.3 § 16 Nr 2). Ist bereits ein Vertriebenenausweis erteilt, so besteht für die Ausstellungsbehörde mithin keine Veranlassung, sich erneut mit der Frage einer Anerkennung des Ausweisinhabers als Vertriebener zu befassen. Schon deswegen kann dem Vertriebenenausweis der Klägerin keine rechtsverbindliche Aussage über eine möglicherweise eingetretene zweite Vertreibung entnommen werden (vgl dazu BVerwG, RLA 1962, 169, 170; BVerwG, Beschluß vom 1. Juni 1993 – 1 B 128/92 –). Soweit der 4. Senat des BSG die Auffassung vertreten hat, durch die Aushändigung des Vertriebenenausweises A werde der Abschluß der Vertreibung verbindlich festgestellt (vgl BSG SozR 5050 § 15 Nr 34, BSG, Urteil vom 21. Juli 1992 – 4 RA 37/91 –), ergibt sich daraus jedenfalls für den vorliegenden Fall nichts anderes. Denn ein gemäß § 15 Abs 5 BVFG verbindlicher Vertriebenenausweis ist der Klägerin erst im Mai 1983 ausgestellt worden.
Entgegen der Ansicht der Beklagten kann aus der Regelung des § 1 Buchst a FRG auch kein zusätzliches Erfordernis in dem Sinne herausgelesen werden, daß in bezug auf die Einreise der Klägerin im Jahre 1983 eine besondere Anerkennung als Aussiedlerin durch die zuständige Vertriebenenbehörde erfolgt sein müßte. Nach der Rechtsprechung des BSG ist insbesondere die Prüfung einer erneuten Vertreibung nicht den Vertriebenenbehörden vorbehalten, vielmehr haben insoweit die Rentenversicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit darüber in eigener Zuständigkeit zu entscheiden (vgl dazu zB BSG SozR 5050 § 15 Nrn 24, 27). Dabei können sie selbstverständlich die sachkundige Hilfe der Vertriebenenbehörden in Anspruch nehmen.
Wenn nach dem BVFG eine Anerkennung als Vertriebener nur einmal erfolgt und dieser Status grundsätzlich auch nicht durch eine Rückkehr in ein Vertreibungsgebiet verloren geht (vgl BVerwGE 9, 5, 6 ff; BVerwG, RLA 1962, 169, 170; BVerwG Buchholz 427.3 § 11 Nr 52; Buchholz 412.3 § 1 Nr 51), so folgt daraus nicht, daß eine erneute Vertreibung rechtlich ausgeschlossen wäre (vgl BVerwG, RLA 1962, 169, 170; BVerwGE 14, 107, 108; LSG Niedersachsen, Breithaupt 1964 497 f). Dies zeigt bereits die Regelung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG, wonach eine – allerdings bis zu einem bestimmten Stichtag erfolgte – Rückkehr in das Vertreibungsgebiet als unschädlich für die spätere Verwirklichung einer Aussiedlung anzusehen ist. Ein dann erworbener Aussiedlerstatus kann somit zu dem bereits bestehenden Vertriebenenstatus hinzutreten (vgl von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 1 BVFG Anm 9 Buchst f).
Die Annahme einer Vertreibung der Klägerin im Jahre 1983 könnte allein auf § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG gestützt werden. Andere Fallvarianten des § 1 BVFG kommen von vornherein nicht in Betracht. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG ist Vertriebener ua auch, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahme vor dem 1. Juli 1990 die ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete, Danzig, Estland, Lettland, Litauen, die ehemalige Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien, Albanien oder China verlassen hat oder verläßt, es sei denn, daß er, ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein, nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat (Aussiedler). Diese Regelung enthält also einen Anerkennungstatbestand (Verlassen eines Vertreibungsgebietes als Deutsche nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen) mit einer Ausnahme (Begründung eines Wohnsitzes in einem solchen Gebiet nach dem 8. Mai 1945), welche wiederum durch eine „Rückausnahme” (Vertreibung aus diesen Gebieten und Rückkehr dorthin bis zum 31. März 1952) eingeschränkt wird (vgl von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 1 BVFG Anm 9 Buchst f mwN).
Ausgehend von dieser gesetzlichen Systematik ist zunächst zu prüfen, ob die Klägerin im Jahre 1983 Rumänien „verlassen” hat. Ein Verlassen des Vertreibungsgebietes iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG setzt die Aufgabe eines dortigen Wohnsitzes voraus (vgl zB BVerwG Buchholz 412.3 § 10 Nr 2; BVerwGE 51, 298, 303). Wie sich aus § 1 Abs 2 Nr 5 BVFG schließen läßt, genügt insoweit ein gewöhnlicher Aufenthalt im Vertreibungsgebiet nicht.
Für das BVFG ist der Wohnsitzbegriff des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) maßgebend (vgl BVerwG Buchholz 412.3 §§ 1, 2 Nrn 1, 2; BVerwGE 9, 269, 272; 19, 117, 118). Die §§ 7 ff BGB enthalten keine ausdrückliche Bestimmung dieses Begriffes. Es werden vielmehr nur die Voraussetzungen für die Begründung und Aufhebung des Wohnsitzes normiert. Nach § 7 Abs 1 BGB begründet jemand an dem Ort seinen Wohnsitz, wo er sich ständig niederläßt. Der Wohnsitz wird aufgehoben, wenn die Niederlassung mit dem Willen aufgehoben wird, sie aufzugeben. In diesem Zusammenhang kommt es somit auf zwei Merkmale an: eine tatsächliche Niederlassung und einen entsprechenden Willen des Betroffenen (vgl zB Häußer/Kapinos/Christ, Die Statusfeststellung nach dem BVFG, 1990, § 1 BVFG RdNrn 7 ff; von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 1 BVFG Anm 3; jeweils mwN).
Aufgrund seiner materiellen Rechtsauffassung hat das LSG keine Feststellungen zu den Wohnsitzverhältnissen der Klägerin in der Zeit ab 1956 getroffen. Zwar spricht viel dafür, daß sie ihren Wohnsitz in Rumänien hatte, als sie im Jahre 1983 von dort in die Bundesrepublik Deutschland reiste, es ist jedoch – ausgehend von den eigenen Angaben der Klägerin – auch nicht ausgeschlossen, daß sie während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes in Rumänien (vom Jahreswechsel 1955/56 bis Mai 1983) ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland aufrechterhalten hat. Danach hatte sie zumindest bei ihrer Einreise nach Rumänien 1955/56 (noch) nicht die Absicht, dort auf Dauer zu bleiben. Sollte sie in der Folgezeit ihre Wohnung in Deutschland und damit ihren Rückkehrwillen nicht aufgegeben haben, so hätte der nur auf Zwang beruhende langjährige Aufenthalt in Rumänien als solcher nicht zur Begründung eines dortigen Wohnsitzes geführt (vgl dazu allgemein BVerwG Buchholz 412.3 §§ 1, 2 Nr 2 ≪zur Wohnsitzbegründung bei Evakuierung≫). Näher liegt es allerdings, daß sich die Klägerin früher oder später mit ihrer Lage abgefunden, die Wohnung in Deutschland aufgelöst und auch sonst ihren Willen darauf gerichtet hat, ihren rumänischen Wohnort zum dauernden Schwerpunkt der Lebensverhältnisse zu machen. Die bloße Absicht, bei sich bietender Gelegenheit wieder nach Deutschland zu gehen, stünde jedenfalls einer Wohnsitzbegründung in Rumänien nicht entgegen (vgl BVerwGE 82, 177, 179 f).
Unterstellt man für die weitere Prüfung, daß die Klägerin im Mai 1983 Rumänien iS von § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG „verlassen” hat, kommt es ferner darauf an, ob sie dies „als deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige” getan hat. Zwar war die Klägerin, wie aufgrund des ihr erteilten Vertriebenenausweises A bindend feststeht (vgl BVerwGE 35, 316, 317 f), zumindest deutsche Volkszugehörige (aus dem Zusammenhang der berufungsgerichtlichen Feststellungen ergibt sich zudem, daß sie auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß), hinzukommen muß nach der Rechtsprechung des BVerwG jedoch ein Fehlen von Anhaltspunkten dafür, daß keine vertreibungsfremden Gründe für ihre Wohnsitzverlegung von Rumänien nach Deutschland maßgebend waren (BVerwGE 52, 167, 178). Bei Aussiedlern iS von § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG wird nämlich vorausgesetzt, daß sie an ihrem Wohnort von einem gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Vertreibungsdruck betroffen und dadurch zum Verlassen des Vertreibungsgebietes bestimmt worden sind; dabei handelt es sich jedoch nur um eine widerlegbare Vermutung, so daß entgegenstehenden Tatumständen nachzugehen ist (vgl dazu BVerwGE 55, 40, 43 f; BVerwG Buchholz 412.3 § 6 Nr 49; BVerwGE 78, 147, 148 ff; BVerwG Buchholz 412.3 § 1 Nr 39; § 6 Nr 77; BVerwGE 91, 140, 143 ff). Auch dazu fehlen noch Feststellungen des LSG.
Da die Klägerin Rumänien „nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen vor dem 1. Juli 1990” verlassen hat, könnte sie den Grundtatbestand des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG erfüllen. Es fragt sich jedoch, ob sie nicht von der Ausnahme erfaßt wird. Danach ist eine Aussiedlung zu verneinen, wenn die Klägerin nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in Rumänien begründet hat. Stellt man insoweit auf die letzte Wohnsitzbegründung vor der Aussiedlung ab (vgl BVerwGE 55, 40, 45), so kann die Klägerin nach dem Wortlaut des Gesetzes bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1983 unter keinen Umständen einen Aussiedlerstatus erworben haben. Denn entweder fehlte es ihr für ein „Verlassen” Rumäniens an einem dortigen Wohnsitz oder sie hat diesen erst in der Zeit ab 1956, also nach dem 8. Mai 1945, begründet und scheitert damit an der Ausnahmebestimmung. Die Rückausnahme kommt der Klägerin nicht zugute, da sie zwar früher einmal vertrieben worden, aber nicht bis zum 31. März 1952 nach Rumänien zurückgekehrt ist.
Legt man die Angaben der Klägerin zugrunde, so gebieten indes die besonderen Umstände des vorliegenden Falles eine einschränkende Auslegung der Ausnahmeregelung zum Grundtatbestand des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die hier unterstellte erneute Wohnsitzbegründung der Klägerin in Rumänien nicht auf einer freiwilligen Übersiedlung in ein Vertreibungsgebiet beruhte, wie sie der Gesetzgeber bei der Gestaltung von Ausnahme und Rückausnahme in § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG in erster Linie erfassen wollte (vgl dazu BVerwGE 55, 40, 45 f; BVerwG Buchholz 427.3 § 11 Nr 52). Dies zeigt ein Blick in die Gesetzesentwicklung.
In seiner ursprünglichen Fassung vom 19. Mai 1953 (BGBl I 201) enthielt § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG nur den Ausnahmezusatz „es sei denn, daß er erst nach dem 8. Mai 1945 einen Wohnsitz in diesen Gebieten begründet hat”. Diese Regelung wurde vom BVerwG dahin ausgelegt, daß nur die erstmalige Begründung eines Wohnsitzes in den Vertreibungsgebieten nach dem 8. Mai 1945 dem Erwerb der Aussiedlereigenschaft entgegenstehe (vgl BVerwG, RLA 1962, 169, 170; BVerwGE 14, 107, 108; 14, 130, 131). Dieser Rechtsprechung lag der Gedanke zugrunde, daß der Ausschluß solcher Personen nicht gerechtfertigt wäre, die nach vollendeter Vertreibung versucht hatten, im Vertreibungsgebiet wieder Fuß zu fassen und so mitunter zwischen diesem Gebiet und dem Aufnahmeland (Deutschland) hin und her gewandert waren (vgl BVerwGE 47, 209, 213 f). Die Einfügung der Rückausnahme „ohne aus diesen Gebieten vertrieben und bis zum 31. März 1952 dorthin zurückgekehrt zu sein”) durch § 67 Nr 1 des Gesetzes zur Abgeltung von Reparations-, Restitutions-, Zerstörungs- und Rückerstattungsschäden (Reparationsschädengesetz ≪RepG≫) vom 12. Februar 1969 (BGBl I 105) hat für die Fälle einer erstmaligen Wohnsitzbegründung keine Änderung gebracht (vgl BVerwGE 67, 209, 214). Für die Rückkehrerfälle ist nunmehr der Stichtag 31. März 1952 bedeutsam. Darüber hinaus ergibt die Ausnahmeregelung in § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG angesichts der ausdrücklichen Rückausnahme nur dann einen vernünftigen Sinn, wenn insoweit auf die letzte Wohnsitzbegründung vor der Aussiedlung abgestellt wird (vgl BVerwGE 55, 40, 46). Anderenfalls würde nämlich der Rückkehrstichtag (31. März 1952) praktisch leerlaufen.
Soll die Ausnahmeklausel in § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG mithin nur solche Personen von dem Erwerb des Vertriebenenstatus ausschließen, die sich in Kenntnis der gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Verfolgungs- und Vertreibungsmaßnahmen – aus welchen Gründen auch immer – freiwillig in einem Vertreibungsgebiet niedergelassen haben (vgl BVerwGE 55, 40, 45 ff; BVerwG Buchholz 427.3 § 11 Nr 52), so erscheint es nicht angebracht, diese Regelung auch auf Fälle anzuwenden, in denen ehemals Vertriebene anläßlich eines Besuchsaufenthaltes in der alten Heimat von den dortigen Behörden festgehalten und erst dadurch zu einer erneuten Wohnsitzbegründung dort veranlaßt worden sind. Da es sich dabei nicht um eine „echte” Rückkehr handelt, findet die Rückausnahme mit dem Stichtag 31. März 1952 keine Anwendung. Es spricht daher einiges dafür, hier wieder auf die Rechtsprechung zur ursprünglichen Fassung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG (vgl BVerwG, RLA 1962, 169, 170; BVerwGE 14, 107, 108; 14, 130, 131) zurückzugreifen. Da die Klägerin nicht erstmalig nach dem 8. Mai 1945 in Rumänien einen Wohnsitz begründet hat, ist danach der Ausnahmetatbestand hier nicht gegeben.
Eine derartige Auslegung liegt auch insofern nahe, als das BVerwG bereits die Möglichkeit in Betracht gezogen hat, die Ausnahmeregelung zu § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG bei einer unausweichlichen Rückkehr nicht anzuwenden (vgl BVerwGE 55, 40, 47 f; vgl auch BSG SozR 5050 § 15 Nr 27). Dieser Gedanke hat um so mehr für eine Wohnsitzbegründung im Vertreibungsgebiet zu gelten, die sich erst aus einem anläßlich eines Besuchsaufenthaltes verhängten Ausreiseverbot ergeben hat. Durch die – nach ihrer Behauptung – 1955/56 gegen sie gerichteten Maßnahmen der rumänischen Behörden ist die Klägerin zwangsweise wieder in die dort lebende deutsche Bevölkerungsgruppe einbezogen und damit auch unfreiwillig dem auf dieser lastenden Vertreibungsdruck unterworfen worden. Unter diesen Umständen kann bei ihr auch für die Zeit von 1956 bis 1983 von einem echten Vertreibungsschicksal ausgegangen werden.
Dieser Beurteilung läßt sich nicht das Argument der Beklagten und des BMA entgegenhalten, der von der Klägerin geschilderte Sachverhalt lasse sich vom BVFG und vom FRG nicht erfassen, weil er in keinem direkten Zusammenhang mit den Auswirkungen des zweiten Weltkrieges stehe. Dabei bleibt nämlich unberücksichtigt, daß sich der Gesetzgeber trotz des immer größeren zeitlichen Abstandes von allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen und trotz der inzwischen in den Vertreibungsgebieten abgelaufenen Entwicklungen – jedenfalls bis 1990 – nicht veranlaßt gesehen hat, das Recht der Anerkennung von Aussiedlern neu zu regeln (vgl dazu allgemein von Bargen, Festschrift für Wolfgang Zeitler, 1987, 503 ff; Büschen, ZRP 1992, 288 ff; Häußer, DÖV 1990, 918 ff). Auch im Hinblick darauf vertritt das BVerwG zu Recht die Auffassung, daß die in § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG enthaltene gesetzliche Vermutung, die dort aufgeführten Vertreibungsgebiete würden wegen der Spätfolgen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen verlassen, durch die politischen Veränderungen in den Ost-Vertreibungsgebieten nicht entfallen sei (vgl BVerwGE 92, 140). Wenn selbst vorübergehende Aufenthalte in der Bundesrepublik einer späteren Anerkennung als Aussiedler grundsätzlich nicht entgegenstehen (vgl BSG SozR 5050 § 15 Nr 27; Häußer/Kapinos/Christ, Die Statusfeststellung nach dem BVFG, 1990, § 1 BVFG RdNrn 41 f), so ist bei Aussiedlern, die in den 80er-Jahren in die Bundesrepublik gekommen sind, allgemein von einem gelockerten Zusammenhang mit den Folgen des zweiten Weltkrieges auszugehen. Angesichts dieser Gesamtsituation ist es nicht gerechtfertigt, die Klägerin – die Richtigkeit ihrer Angaben unterstellt – von einer Anwendung des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG auszuschließen.
Im vorliegenden Fall ist darüber hinaus in Betracht zu ziehen, daß die Klägerin (als nach Kriegsende in die Sowjetunion Verschleppte) zu einer Personengruppe gehört, bei der – wie das BMI in seiner Stellungnahme vom 4. Oktober 1996 im einzelnen dargelegt hat – eine Rückkehr nach Rumänien zum Jahreswechsel 1955/56 für eine spätere Anerkennung als Aussiedler unschädlich gewesen ist, wenn davon ausgegangen werden kann, daß bis dahin ein rumänischer Wohnsitz aufrechterhalten worden war (vgl dazu auch Häußer/Kapinos/Christ, Die Statusfeststellung nach dem BVFG, 1990, § 1 BVFG RdNr 18; von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 1 BVFG Anm 3 Buchst d; derselbe, IFLA 1989, 3 ff). Zwar ist der Fall der Klägerin offenbar anders gelagert, gleichwohl zeigt die Situation jener Rumäniendeutschen, daß um den Jahreswechsel 1955/56 die Folgen des zweiten Weltkrieges in dem Spannungsfeld zwischen Deutschland und Rumänien noch ausgeprägt wirksam waren.
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte bedarf es zur Beantwortung der Frage, ob die mit dem Bescheid vom 29. Mai 1991 erfolgte rentenrechtliche Anerkennung der Zeit von 1956 bis 1974 iS von § 45 SGB X rechtswidrig ist, einer weiteren Aufklärung des Sachverhaltes, die der erkennende Senat im Revisionsverfahren nicht nachholen kann (vgl § 163 SGG).
Entsprechendes gilt für die weitere Frage, ob der betreffende Zeitraum, soweit eine Anrechnung nach dem FRG in Anbetracht der noch zu ermittelnden tatsächlichen Gegebenheiten ausscheiden sollte, nicht zumindest (ganz oder teilwese) als Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO zu berücksichtigen ist. Nach dieser Vorschrift werden für die Erfüllung der Wartezeit – und damit auch bei der Berechnung der Rentenhöhe (vgl § 1258 Abs 1 RVO) – als Ersatzzeiten auch Zeiten angerechnet, in denen der Versicherte während oder nach Beendigung eines Krieges, ohne Kriegsteilnehmer zu sein, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen oder dort festgehalten worden ist.
Die Rechtsprechung des BSG faßt als „feindliche Maßnahmen” solche zusammen, die sich gegen den (früheren) Kriegsgegner oder die (frühere) Okkupationsmacht Deutschland gerichtet haben; sie versteht darunter zum einen Maßnahmen, die – personenbezogen – hauptsächlich deutsche Staatsangehörige oder deutsche Volkszugehörige betrafen, zum anderen Maßnahmen, die – objektbezogen – gerade die Ausreise in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland unterbanden (vgl zB BSG SozR 2200 § 1251 Nr 58). Zwar kann demnach ein allgemein gegen die eigene Bevölkerung gerichtetes Ausreise- und Auswanderungsverbot nicht als eine feindliche Maßnahme angesehen werden, eine entsprechende Qualifizierung von bestimmten Einzelmaßnahmen ist damit jedoch nicht ausgeschlossen (vgl BSGE 47, 113 = SozR 2200 § 1251 Nr 52). Insofern könnten die von der Klägerin geschilderten Vorgänge (Abnahme der deutschen Pässe, Ablehnung von Ausreiseanträgen) unter § 1251 Abs 1 Nr 3 RVO einzuordnen sein.
Die danach erforderlichen weiteren Tatsachenermittlungen erübrigen sich auch nicht deshalb, weil der angefochtene Verwaltungsakt schon aus verwaltungsverfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben wäre. Allerdings durfte der Bescheid vom 29. Mai 1991, selbst wenn er hinsichtlich der Anerkennung der streitigen Versicherungszeiten rechtswidrig wäre, gemäß § 45 SGB X nicht ohne weiteres zurückgenommen werden.
Für die Zulässigkeit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes kommt es nach der Konzeption des § 45 SGB X entscheidend darauf an, ob dieser nur mit Wirkung für die Zukunft oder auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden soll. Für die Abgrenzung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist dabei der Zeitpunkt der Bekanntgabe des Rücknahmebescheides maßgebend (vgl BSGE 61, 189 = SozR 1300 § 48 Nr 31). Das wäre hier der 26. Oktober 1991, da der Bescheid vom 16. Oktober 1991 am 23. Oktober 1991 zur Post gegeben worden ist und gemäß § 37 Abs 2 SGB X am dritten Tage danach als zugegangen gilt.
Beurteilt man nun die Wirkungen des Rücknahmebescheides bezogen auf den genannten Stichtag, so ist zunächst zu berücksichtigen, daß es hier um die Rücknahme einer Leistungsbewilligung geht. Dementsprechend ist die Lage der betroffenen Bewilligungszeiträume in Betracht zu ziehen (vgl SGB-SozVers-GesamtKomm/Schneider-Danwitz, § 45 SGB X Anm 28 Buchst b; Grüner/Dalichau, § 45 SGB X Anm III.5). Da die Rente in monatlichen Beträgen im voraus gezahlt wird (vgl § 1286 RVO), ist ferner davon auszugehen, daß die „Zukunftswirkung” des Rücknahmebescheides nicht bereits mit dem Tag nach seinem Zugang, sondern erst mit dem Beginn des nächsten Leistungszeitraumes beginnt (vgl allgemein BSGE 65, 185, 188 = SozR 1300 § 48 Nr 57). Für zurückliegende Zeiträume ist es dagegen unerheblich, ob die insoweit bewilligten Leistungen schon ausgezahlt sind. So hat das BSG bei einer vor Erlaß des Aufhebungsbescheides veranlaßten Zahlungseinstellung angenommen, daß dadurch der zuerkannte Zahlungsanspruch nicht beseitigt worden ist, und hat daraus gefolgert, daß es sich insoweit um eine Rücknahme für die Vergangenheit handelt (vgl BSG, Urteil vom 23. März 1994 – 5 RJ 68/93 –, Umdr S 5 f). Entsprechendes gilt für das Zurückhalten eines Nachzahlungsbetrages (vgl SGB-SozVers-GesamtKomm/Schneider-Danwitz, § 45 SGB X Anm 28 Buchst b; ebenso wohl Grüner/Dalichau, § 45 SGB X Anm III.5).
Demnach enthält der Bescheid vom 16. Oktober 1991 eine Rücknahme des Bescheides vom 29. Mai 1991 mit Wirkung für die Vergangenheit, soweit er den Zeitraum vom 1. Januar 1987 bis 31. Oktober 1991 betrifft. Ferner regelt der Rücknahmebescheid auch die seinem Zugang nachfolgenden Leistungszeiträume. Insoweit ist grundsätzlich auf den 1. November 1991 abzustellen, es sei denn, die Klägerin hätte die Rente für November bis zum 26. Oktober 1991 bereits erhalten. Dann begönne die Zukunftswirkung erst ab 1. Dezember 1991.
Soweit es sich um eine Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft handelt, ist der angefochtene Verwaltungsakt nur an den Anforderungen des § 45 Abs 2 und 3 SGB X zu messen. Im übrigen müssen zusätzlich noch die Voraussetzungen des § 45 Abs 4 SGB X vorliegen. Außerdem muß in jedem Fall eine ausreichende Ermessensabwägung erkennbar sein. Daß der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 1991 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Juli 1992 gemessen an diesen Kriterien mit Sicherheit ganz oder teilweise rechtswidrig ist, läßt sich anhand der vorliegenden Tatsachenfeststellungen des LSG nicht sagen. Vielmehr ist auch insoweit ggf noch eine weitere Sachaufklärung erforderlich.
Insbesondere ist dem Berufungsurteil nicht zu entnehmen, ob die Voraussetzungen des § 45 Abs 4 Satz 1 SGB X vorliegen. Danach darf der Bescheid vom 29. Mai 1991 mit Wirkung für die Vergangenheit nur in den Fällen von Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 dieser Vorschrift zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen ua nicht berufen, soweit er den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat (Nr 1), der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässiger in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr 2) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Nr 3). Nach § 45 Abs 3 Satz 2 SGB X gilt die zweijährige Rücknahmefrist des Satzes 1 nicht, wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozeßordnung vorliegen. Zwar sind hier nach dem gegenwärtigen Stand der Sachaufklärung für keines der genannten Merkmale Anhaltspunkte ersichtlich; dazu bedarf es jedoch noch genauerer berufungsgerichtlicher Ermittlungen.
Soweit es die Vertrauensschutzabwägung nach § 45 Abs 2 SGB X anbelangt, berücksichtigt der Widerspruchsbescheid vom 24. Juli 1992 zumindest die auf der Hand liegenden Gesichtspunkte. Hinsichtlich des Bezugszeitraumes vom 1. Juli bis 30. November 1991 hätte es allerdings nahegelegen, nicht nur auf die Erstattungsforderung zu verzichten, sondern auch die Rücknahmeentscheidung in entsprechendem Umfang rückgängig zu machen, soweit kein Fall des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X vorliegt.
Ist eine Rücknahme des Neufeststellungsbescheides vom 29. Mai 1991 danach ganz oder teilweise zulässig, so geht – wie das LSG zutreffend erkannt hat – aus dem angefochtenen Verwaltungsakt eine ordnungsgemäße Ermessensausübung hervor. Im Anschluß an eine allgemeine Vertrauensschutzabwägung hat die Beklagte im Widerspruchsbescheid ausgeführt, auch die Tatsache, daß der Fehler unmittelbar nach Erlaß des Verwaltungsaktes bemerkt und korrigiert worden sei, rechtfertige die diesbezügliche Rücknahme, so daß die „Streichung” der fälschlicherweise festgestellten Zeiten habe erfolgen dürfen. Darin kann hier ein gerade noch ausreichender Ermessensgebrauch gesehen werden, zumal Gesichtspunkte, die über die Berücksichtigung des Vertrauens der Klägerin an dem Fortbestand des Bescheides vom 29. Mai 1991 hinausgehen, für die Ausübung von Ermessen nicht ersichtlich sind (vgl allerdings BSGE 59, 157, 169 ff = SozR 1300 § 45 Nr 19; SozR 3-1300 § 45 Nr 5). Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, daß die Rücknahmeentscheidung im vorliegenden Fall nicht zu einer Erstattung erbrachter Leistungen führt, dadurch bedingte finanzielle Härten dementsprechend von vornherein ausscheiden.
Nach alledem ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Verfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
BSGE 80, 186 |
BSGE, 186 |
DStR 1998, 1234 |
SozR 3-7140 § 1, Nr.1 |
SozSi 1998, 240 |
SozSi 1998, 320 |