Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. März 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Der 1938 geborene Kläger hat keine Berufsausbildung abgeschlossen. Zunächst arbeitete er von 1953 bis 1960 als Hilfskraft in der Landwirtschaft und danach – mit häufigen Unterbrechungen wegen Arbeitslosigkeit und Krankheit – meist als Kraftfahrer. Zuletzt fuhr er von August bis Oktober 1985 bei der Firma J. … OHG, K., Transporte mit einem Lkw.
Nach mehreren erfolglosen Rentenverfahren beantragte der Kläger im Februar 1992 erneut Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Ihren ablehnenden Bescheid vom 15. September 1992 begründete die Beklagte idF des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 1993 im wesentlichen damit, daß der Kläger noch ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Arbeiten besitze. Das vom Kläger angerufene Sozialgericht Kiel (SG) verurteilte die Beklagte – unter Abweisung der Klage im übrigen – zur Gewährung von BU-Rente ab 1. März 1992 (Urteil vom 9. November 1994). Auf die Berufung der Beklagten änderte das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) diese Entscheidung durch Urteil vom 15. März 1996 ab und wies die Klage in vollem Umfang ab. Zur Begründung wird ua ausgeführt:
Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Rente wegen BU seien nicht erfüllt. Dem Kläger stehe ein Berufsschutz iS des § 43 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) nicht zu, weil er aufgrund seiner überwiegend und zuletzt ausgeübten Kraftfahrertätigkeit keine in diesem Sinne qualifizierte und entsprechend entlohnte Tätigkeit ausgeübt habe. Lediglich die Auskünfte der Firma J. … … ergäben, daß der Kläger dort einige Monate (vom 7. Oktober 1976 bis 5. Februar 1977 sowie vom 8. August bis 5. Oktober 1985) nach der Lohngruppe I des jeweils gültigen Lohntarifvertrages für die gewerblichen Arbeitnehmer des Verkehrsgewerbes – Güterverkehr – im Lande Schleswig-Holstein (LTV) entlohnt worden sei. Das bedeute zwar eine Einstufung als Facharbeiter, doch habe dieser Arbeitgeber ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Kläger nur als Kraftfahrer Transporte mit einem Lkw ausgeführt habe und daß eine Wettbewerbsfähigkeit des Klägers gegenüber Berufskraftfahrern mit abgeschlossener Prüfung nicht bestanden habe; alle Kraftfahrer, die dort neu angefangen hätten, seien grundsätzlich nach Lohngruppe I entlohnt worden. Insgesamt sei somit diese Auskunft nicht geeignet, eine Qualifikation des Klägers als Facharbeiter zu begründen.
Gegen eine höhere Qualifikation des Klägers gerade im Beruf eines Kraftfahrers spreche weiter der Umstand, daß Kraftfahrer – abgesehen von besonders herausragenden Verwendungen (etwa als Linienbusfahrer) – im allgemeinen allenfalls der gehobenen Anlernebene zuzuordnen seien. Auch die schon 1973 aktenkundigen Alkoholschäden beim Kläger sprächen eher gegen den Erwerb einer höheren Qualifikation als Kraftfahrer. Immerhin habe sich spätestens im April 1977 das Arbeitsamt veranlaßt gesehen, eine arbeitsamtsärztliche Begutachtung durchzuführen. Nach Angaben des Klägers gegenüber den ihn untersuchenden Ärzten sowie nach seinem Versicherungsverlauf sei er überdies seit 1979 über lange Zeit arbeitslos gewesen.
Nach alledem lasse sich nur feststellen, daß der Kläger allenfalls der beruflichen Ebene einer angelernten Kraft zugerechnet werden könne. Angesichts dessen wäre er aber nach den in ständiger Rechtsprechung anerkannten Regeln des Rentenrechts sozial zumutbar auch auf Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Daß der Kläger noch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein könne, habe das SG im angefochtenen Urteil bei der Abweisung der auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) gerichteten Klage näher dargelegt. Diese Feststellungen seien bindend geworden, weil der Kläger insoweit selbst keine Berufung oder Anschlußberufung eingelegt habe.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend: Es sei zu klären, ob bei einem Versicherten, der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sei, trotzdem die typischen Merkmale (Anforderungsprofil) der Tätigkeiten zu bezeichnen seien, für die er aus rentenversicherungsrechtlicher Sicht noch in Betracht komme. Klärungsbedürftig sei auch, wann und unter welchen Voraussetzungen typischerweise eine so schwerwiegende Leistungseinschränkung vorliege, daß von vornherein nicht von einem offenen Arbeitsmarkt ausgegangen werden könne. Dieser Klärungsbedarf ergebe sich insbesondere durch die gesetzliche Neuregelung des § 43 Abs 2 Satz 4 SGB VI. Um die Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit feststellen zu können, müßten deren typische Merkmale (Anforderungsprofil) bezeichnet werden. Daran fehle es in der angefochtenen Entscheidung. Die vom LSG vorgenommene pauschale Verweisung angelernter Arbeiter auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sei unzulässig. Dies gelte insbesondere, wenn – wie hier – nur noch leichte Tätigkeiten im Sitzen und Stehen mit regelmäßigen Unterbrechungen oder bei regelmäßigem Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen sowie ohne besonderen Zeitdruck und besondere nervliche Belastung möglich seien.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. März 1996 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 9. November 1994 zurückzuweisen.
Die Beklagte räumt ein, daß die Annahme des LSG, der Kläger sei „allenfalls” der beruflichen Ebene einer angelernten Kraft zuzurechnen, keine ausreichende Grundlage für eine pauschale Verweisung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt darstelle. Denn jedenfalls dann, wenn ein Versicherter als angelernter Arbeiter oberen Ranges zu qualifizieren sei, müsse ihm eine zumutbare Verweisungstätigkeit konkret benannt werden. Hiernach wäre die Revision iS einer Zurückverweisung begründet.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil für eine abschließende Entscheidung noch Tatsachenfeststellungen fehlen. Insbesondere bedarf es einer weiteren Sachaufklärung zur Wertigkeit des bisherigen Berufs des Klägers.
Der streitige Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU richtet sich nach dem am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen SGB VI (vgl Art 1, Art 85 Abs 1 des Rentenreformgesetzes 1992 vom 18. Dezember 1989, BGBl I, 2261), da er sich nur auf die Zeit ab 1. März 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 1 und 2 SGB VI). Nach § 43 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen BU, wenn sie
- berufsunfähig sind,
- in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der BU drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und
- vor Eintritt der BU die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Berufsunfähig sind nach § 43 Abs 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung auf weniger als die Hälfte derjenigen von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Nach dem durch Art 1 Nr 2 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGB VI (2. SGB-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I, 659) eingefügten § 43 Abs 2 Satz 4 SGB VI (zur Anwendbarkeit vgl § 302b Abs 3 SGB VI) ist nicht berufsunfähig, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
Für die Beurteilung der BU ist das LSG zutreffend von dem bisherigen Beruf des Klägers ausgegangen. Es hat insoweit auf die zuletzt überwiegend ausgeübte Beschäftigung als Kraftfahrer abgestellt. Dazu, ob der Kläger diesen Beruf noch ausüben kann, hat das LSG keine Feststellungen getroffen, vielmehr hat es die Verneinung von BU damit begründet, daß dem Kläger noch Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugemutet werden könnten. Diese Vorgehensweise wäre nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist, daß es zumindest eine andere Tätigkeit gibt, die dem Kläger sozial zumutbar ist und die er sowohl gesundheitlich als auch fachlich zu bewältigen vermag.
Die soziale Zumutbarkeit der Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Dazu hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) die Arbeiterberufe in Gruppen eingeteilt, die ausgehend von der Bedeutung, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufes haben, gebildet worden sind. Dementsprechend werden die Berufsgruppen im Rahmen eines mehrstufigen Schemas durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von drei Monaten bis zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend ist vielmehr allein die Qualität der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI am Ende genannten Merkmale umschrieben wird (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 27, 33). Grundsätzlich darf der Versicherte im Vergleich zu seinem bisherigen Beruf auf die nächstniedrigere Gruppe verwiesen werden (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143, SozR 3-2200 § 1246 Nr 5).
Nach diesen Kriterien hat das LSG aufgrund seiner von den Beteiligten nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den erkennenden Senat bindenden Tatsachenfeststellungen (vgl § 163 SGG) den Kraftfahrerberuf des Klägers zu Recht nicht der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet. Zunächst ist festzuhalten, daß die für Berufskraftfahrer geltende Regelausbildungszeit von nur zwei Jahren (vgl § 2 der Verordnung über die Berufsausbildung zum Berufskraftfahrer vom 26. Oktober 1973, BGBl I, 1518) – welche der Kläger ohnehin nicht absolviert hat – für sich genommen nicht ausreicht, um einen derartigen Berufsschutz zu vermitteln. Zwar kann ein Versicherter gleichwohl als Facharbeiter zu behandeln sein, wenn die von ihm verrichtete Kraftfahrertätigkeit in einer Facharbeiterlohngruppe des einschlägigen Tarifvertrages genannt wird und er entsprechend eingruppiert war (vgl zB Senatsurteil vom 27. Februar 1997 – 13 RJ 15/96 –, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Das LSG hat jedoch für den Kläger keine entsprechende tarifvertragliche Einstufung ermitteln können. Insbesondere ist die von der Firma J. … vorgenommene Eingruppierung in die für Facharbeiter vorgesehene Lohngruppe I des LTV nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen ohne Rücksicht auf eine besondere berufliche Qualifikation des Klägers als Kraftfahrer erfolgt.
Unter diesen Umständen liegt zwar der vom LSG gezogene Schluß nahe, daß der Kläger der Versichertengruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters zuzurechnen ist. Dabei hat die Vorinstanz jedoch unberücksichtigt gelassen, daß es nach der Rechtsprechung des BSG für die Verweisbarkeit eines derartigen Versicherten von Bedeutung ist, ob er dem oberen oder aber dem unteren Bereich dieser Gruppe angehört (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 45). Während unteren Angelernten grundsätzlich alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sozial zuzumuten sind, müssen sich Verweisungstätigkeiten für obere Angelernte durch Qualitätsmerkmale auszeichnen, zB das Erfordernis einer Einarbeitung oder die Notwendigkeit beruflicher Vorkenntnisse (vgl BSG aaO mwN). Daraus folgt zugleich, daß diesen Versicherten mindestens eine danach in Betracht kommende Verweisungstätigkeit konkret zu bezeichnen ist. Die vom LSG vorgenommene pauschale Verweisung des Klägers auf nicht weiter charakterisierte Arbeitsplätze des allgemeinen Arbeitsmarktes reicht mithin jedenfalls dann nicht aus, wenn der Kläger als angelernter Arbeiter des oberen Bereichs einzustufen wäre, was – wie das LSG selbst darlegt – gerade bei Kraftfahrern in Betracht kommt.
Die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen erlauben keine eindeutige Zuordnung des Klägers in einen der beiden Bereiche der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters. Insbesondere hat sich das Berufungsgericht nicht klar dazu geäußert, ob der Kläger als Kraftfahrer eine Qualifikation erreicht hat, die der eines gelernten Berufskraftfahrers gleichkommt. Vielmehr hat es nur den Hinweis der Firma J. … wiedergegeben, daß keine Wettbewerbsfähigkeit des Klägers gegenüber Berufskraftfahrern mit abgeschlossener Prüfung bestanden habe. Auch sonst sind dem Berufungsurteil weder hinreichende Angaben zu der für die berufliche Qualifikation des Klägers erforderlichen Ausbildungs- oder Anlernzeit noch solche zur maßgeblichen tarifvertraglichen Einstufung seines bisherigen Berufes (im Unterschied zu der tatsächlichen tariflichen Eingruppierung durch den letzten Arbeitgeber) zu entnehmen. Da der erkennende Senat die demnach noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann, ist die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Bei der nunmehr vorzunehmenden ergänzenden Sachaufklärung wird das Berufungsgericht zu beachten haben, daß für die Bewertung des bisherigen Berufes des Klägers gemäß § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI auch andere geeignete berufskundliche Kriterien heranzuziehen sind und nicht nur auf die Dauer der insoweit erforderlichen Ausbildungs- oder Anlernzeit abgestellt werden kann, wenn sich keine aussagefähige tarifvertragliche Einstufung feststellen läßt. Sollte das LSG dann zu der Beurteilung gelangen, daß der Kläger nur dem unteren Bereich der „Angelernten-Gruppe” zuzuordnen ist, wird es dessen Einsatzfähigkeit auf Arbeitsplätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes eigenständig zu prüfen haben. Entgegen seiner Annahme bezieht sich der rechtskräftige Teil des erstinstanzlichen Urteils nur auf die Versagung von EU-Rente als solche. Eine rechtliche Bindung des LSG an die zur Verneinung von EU getroffenen Tatsachenfeststellungen des SG besteht insoweit nicht. Dementsprechend wäre der Kläger zB nicht gehindert, nunmehr geltend zu machen, daß sich sein Gesundheitszustand mittlerweile weiter verschlechtert habe.
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen