Entscheidungsstichwort (Thema)
Witwenbeihilfe. Berufsschadensausgleich. Einkommensverlust. Ausland. Richtlinien-Ost. Teilversorgung. ruhender Anspruch. Ruhen. Offensichtlichkeit der Anspruchsvoraussetzungen
Leitsatz (amtlich)
1. Auch ein ruhender Anspruch des verstorbenen Beschädigten auf Berufsschadensausgleich kann grundsätzlich dazu führen, daß die in § 48 Abs 1 S 1 BVG genannten Voraussetzungen für den Anspruch auf Witwenbeihilfe als erfüllt gelten.
2. Die schädigungsbedingte Minderung der Witwenversorgung wird grundsätzlich nur dann unwiderleglich vermutet, wenn der Anspruch des verstorbenen Beschädigten auf Berufsschadensausgleich anerkannt war oder aber offenkundig (für jeden Kundigen klar erkennbar) ist (Bestätigung von BSG vom 23.6.1993 – 9/9a RV 26/91 = SozR 3-3100 § 48 Nr 7). Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn der Beschädigte in einem der in den „Richtlinien-Ost” genannten Staaten einen Berufsschaden erlitten haben könnte.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
BVG § 30 Abs. 4 S. 1, § 48 Abs. 1 Sätze 1, 6 Alt. 1, § 64 Abs. 2 F:1964-02-21, §§ 64c, 64e Abs. 1 S. 1 F:1971-12-16, Abs. 2 S. 1 F:1990-06-26, § 64 Abs. 1 F:1966-12-28; AuslVersV § 1 F:1990-06-30
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1995 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Anspruch auf Witwenbeihilfe nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.
Die Klägerin, die ihren Wohnsitz in der Tschechischen Republik hat, ist Witwe des am 14. März 1927 geborenen und am 31. Januar 1987 verstorbenen Beschädigten Josef C. … (C). Dieser war deutscher Volkszugehöriger iS des § 7 Abs 1 Nr 2 BVG gewesen. Der Beklagte hatte ihm auf seinen Antrag vom 4. Juli 1969 mit Bescheid vom 6. April 1971 Teilversorgung in Höhe von 85,00 DM monatlich bewilligt. Dabei war er davon ausgegangen, daß bei C als Schädigungsfolgen
„Versteifung des Schulter- und Handgelenks, Bewegungseinschränkung des Ellenbogengelenks sowie Beugeversteifung der Finger nach multiplen Splitterverletzungen des rechten Armes mit Schußbruch des Schulterblattes, des Unterarmes und mit Speichennervlähmung”
und eine dadurch hervorgerufene Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 vH vorlagen. Von 1941 bis 1944 war C als Kellner (-Lehrling) im Hotel „PIAST” in Bistritz/Teschen (heute Bystrice) tätig gewesen. Ende 1944 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und am 24. Januar 1945 verwundet. Nach einem mehrmonatigen Lazarettaufenthalt in Deutschland und amerikanischer Kriegsgefangenschaft war er in der CSSR vom Januar 1948 bis September 1981 dauernd als Arbeiter (Aufräumer in einer betrieblichen Badeanstalt) beschäftigt gewesen.
Im Februar 1987 beantragte die Klägerin Witwenversorgung. Mit Bescheid vom 1. Dezember 1987 lehnte der Beklagte die Gewährung von Witwenrente mit der Begründung ab, daß C nicht an den Folgen einer Schädigung verstorben sei. Auch Anspruch auf Witwenbeihilfe stehe der Klägerin nicht zu. Widerspruch und Klage blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 31. Januar 1990 und Urteil des Sozialgerichts Frankfurt ≪SG≫ vom 18. Juni 1991). Mit Urteil vom 20. Juni 1995 wies das Hessische Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Klägerin zurück. In den Entscheidungsgründen führte es ua aus, die Klägerin habe auch aufgrund eines Vermutungstatbestandes keinen Anspruch auf Witwenbeihilfe. C habe insbesondere nicht „klar erkennbar” fünf Jahre lang Anspruch auf Berufsschadensausgleich (BSchA) gehabt. Zwar habe er den vor dem Krieg erlernten Beruf eines Kellners schädigungsbedingt nicht mehr ausüben können. Selbst wenn man davon ausgehe, daß C ohne die Schädigung nach dem Krieg als (gelernter) Kellner tätig geworden wäre, ergebe sich aber aus den vorliegenden Unterlagen nicht klar erkennbar, daß er in diesem Beruf höhere Einkünfte erzielt hätte als in seiner tatsächlich ausgeübten Tätigkeit als Aufräumer. Die Frage, ob C bei seinem Arbeitgeber in der Nachkriegszeit, einem Stahlwerk, schädigungsbedingt an einem weiteren beruflichen Aufstieg gehindert gewesen sei, könne auf sich beruhen, da er nicht nachweislich eine andere (besser bezahlte) Tätigkeit angestrebt habe. Für eine konkrete schädigungsbedingte Minderung der Witwenversorgung schließlich ergebe sich kein Anhaltspunkt.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG. Es dürfe den Hinterbliebenen von Beschädigten, die wie C in einem ehemaligen Ostblockland gelebt hätten, kein Nachteil daraus entstehen, daß ihr Anspruch auf BSchA geruht habe und die Verwaltungsbehörden deswegen entsprechende Ermittlungen unterlassen hätten. Bei ihnen sei daher anders als bei im Inland lebenden Beschädigten nicht darauf abzustellen, ob der Anspruch des Verstorbenen aufgrund der Beschädigtenakten klar erkennbar zutage liege.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 1995 und das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 18. Juni 1991 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 1. Dezember 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. Januar 1990 zu verurteilen, der Klägerin Witwenbeihilfe nach ihrem verstorbenen Ehemann Josef C. … ab Februar 1987 zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Er hält § 48 BVG nicht für verletzt. Die von der Klägerin verlangte Prüfung, ob C's Einkommen schädigungsbedingt gemindert gewesen sei, habe im Verwaltungsverfahren über die Witwenbeihilfe und in den beiden Vorinstanzen stattgefunden. Dabei habe jedoch ein Minderverdienst nicht festgestellt werden können.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen auch den – allein noch streitigen – Anspruch der Klägerin auf Witwenbeihilfe verneint.
Gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 BVG idF des insoweit am 1. April 1990 in Kraft getretenen KOV-Strukturgesetzes 1990 vom 23. März 1990 (BGBl I S 582) hat die Witwe eines rentenberechtigten Beschädigten, der nicht an den Folgen der Schädigung gestorben ist, Anspruch auf Witwenbeihilfe, wenn der Beschädigte durch die Folgen der Schädigung gehindert war, eine entsprechende Erwerbstätigkeit auszuüben, und dadurch die aus der Ehe mit ihm hergeleitete Witwenversorgung insgesamt mindestens um einen bestimmten Vomhundertsatz gemindert ist. Diese Minderung wird nach den Sätzen 5 und 6 dieses Absatzes unter bestimmten Voraussetzungen unwiderleglich vermutet. So gelten gemäß dem hier als Vermutungstatbestand allein in Betracht zu ziehenden Satz 6 die Voraussetzungen des Satzes 1 schon dann als erfüllt, wenn der Beschädigte mindestens fünf Jahre Anspruch auf BSchA wegen eines Einkommensverlustes iS des § 30 Abs 4 BVG oder auf BSchA nach § 30 Abs 6 BVG hatte.
Der Vermutungstatbestand des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG dient, wie der Senat wiederholt entschieden hat, der Verwaltungsvereinfachung und soll der Behörde die – oft schwierige – Prüfung ersparen, in welchem Ausmaß die Schädigungsfolgen sich auf die Höhe der Hinterbliebenenversorgung ausgewirkt haben (vgl Urteile des Senats SozR 3-3100 § 48 Nr 3 S 8, SozR 3-3100 § 48 Nr 2 S 6; SozR 3100 § 48 Nr 15). Daher ist das Vorliegen einer konkreten Versorgungslücke iS des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG erst dann zu prüfen, wenn keiner der Vermutungstatbestände, insbesondere nicht der Tatbestand des Satzes 6, vorliegt (vgl Förster bei Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, RdNr 14 zu § 48 BVG).
Das LSG hat im Ergebnis zu Recht das Fehlen der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG verneint. Dabei kommt hier nur die 1. Alternative (Anspruch auf BSchA aufgrund eines Einkommensverlusts iS des § 30 Abs 4 BVG) in Betracht, weil ein BSchA nach § 30 Abs 6 BVG „Nettoberufsschadensausgleich”) erst nach dem Ableben des C durch das insoweit am 1. Juli 1990 in Kraft getretene KOVStruktG eingeführt worden ist.
Das LSG hat sich nicht mit der Frage befaßt, ob die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 6, 1. Alternative BVG auch durch einen ruhenden Anspruch auf BSchA erfüllt werden könnten. Denn zumindest bis zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der damaligen CSSR konnte C nur ein ruhender Anspruch auf BSchA zustehen. C wohnte nämlich auf dem Gebiet eines Staates, zu dem die Bundesrepublik Deutschland vor 1973 noch keine diplomatischen Beziehungen unterhielt. Nach § 64 Abs 2 BVG idF des 2. Neuordnungsgesetzes (2. NOG vom 21. Februar 1964 ≪BGBl I S 85≫) ruhte damit zunächst C's Versorgungsanspruch in vollem Umfang. Ihm konnte lediglich mit Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung „Versorgung in angemessenem Umfang” (Teilversorgung) gewährt werden. Das ist mit Bescheid vom 6. April 1971 geschehen. Die mit diesem Bescheid bewilligte Teilversorgung umfaßte aber keine Leistungen zum Zweck des BSchA.
Das seinerzeitige Ruhen eines etwaigen Anspruchs auf BSchA hätte indessen nicht schon für sich genommen die Anspruchsvoraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG ausgeschlossen. Denn Grundgedanke dieser Bestimmung ist es, daß die Schädigung zu wirtschaftlichen Nachteilen des Beschädigten im Beruf gemäß § 30 Abs 3 ff BVG geführt und sich daher vermutlich mindernd auf die Hinterbliebenenversorgung ausgewirkt hat (vgl Urteil des Senats vom 27. Januar 1987 SozR 1300 § 48 Nr 16 S 45). Die Schädigung muß daher – abgesehen vom Fall des Nettoberufsschadensausgleichs (vgl dazu oben) – einen Einkommensverlust iS des § 30 Abs 4 Satz 1 BVG bewirkt haben. Dagegen ist es grundsätzlich gleichgültig, ob es tatsächlich zur Auszahlung von BSchA gekommen ist, ja ob eine derartige Leistung auch nur beantragt worden ist (vgl Rohr/Strässer, Bundesversorgungsrecht, Stand Juli 1990, Anm 3 „zu 3” bei § 48 BVG; Förster bei Wilke, aaO, RdNrn 8 und 10 zu § 48 BVG; BSG SozR 3-3100 § 48 Nrn 1 und 3; anders hinsichtlich des Antragserfordernisses Verwaltungsvorschrift Nr 3 zu § 48 iVm Verwaltungsvorschrift Nr 2 zu § 40a BVG). Bei Beachtung dieser Grundsätze muß auch ein ruhender Anspruch des Beschädigten grundsätzlich für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG ausreichen.
Auch die durch die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSSR am 11. Dezember 1973 (vgl Zündorf, Die Ostverträge, 1979 S 97) eingetretene Rechtslage schloß einen Anspruch des C auf BSchA iS des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG nicht von vornherein aus. Seit 11. Dezember 1973 galt für diesen Anspruch § 64 Abs 1 BVG idF des 3. NOG vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S 750) iVm § 64e Abs 1 Satz 1 BVG in der ab 1. Januar 1972 geltenden Fassung des 3. Anpassungsgesetzes (AnpG) KOV vom 16. Dezember 1971 (BGBl I S 1985). Danach konnte unter bestimmten, auf die CSSR seinerzeit zutreffenden Gründen (vgl dazu Buchst A Nr 1 der – unveröffentlichten – sog „Richtlinien-Ost” des Bundesministers für Arbeit in der ab 1. Januar 1971 geltenden Fassung) auch bei unter § 64 Abs 1 BVG fallenden Personen Teilversorgung nach Maßgabe des § 64 Abs 2 Sätze 2 bis 4 BVG – und der „Richtlinien-Ost” in den bis zum Tode des C geltenden Fassungen – gewährt werden, wenn „einer Versorgung in dem in § 64 Abs 1 bezeichneten Umfange besondere Gründe” entgegenstanden. Möglicherweise hatte der Gesetzgeber damals im Auge, den nach § 64 Abs 1 BVG grundsätzlich bestehenden Anspruch auf Vollversorgung in diesen Fällen durch den minderen, gemäß § 64 Abs 2 Sätze 2 bis 4 BVG eingeräumten Anspruch auf Teilversorgung zu ersetzen (vgl § 64 Abs 1 letzter Halbsatz BVG; BT-Drucks V/1012 S 29 und 30; BT-Drucks VI/2649 S 11). Denn § 64 Abs 1 BVG enthielt seinerzeit den Vorbehalt: „soweit die §§ 64a bis 64f nichts Abweichendes bestimmen”. Der Senat hat aber in seinem Urteil vom 15. Februar 1989 (SozR 3100 § 64 Nr 7) entschieden, grundsätzlich bestehe seit Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu einem ehemaligen Ostblockstaat (in der damaligen Entscheidung: Polen) ein Anspruch auf Vollversorgung, der erst durch eine Ermessensentscheidung des Versorgungsträgers im Einzelfall (und nicht generell durch Richtlinien wie die Richtlinien-Ost) eingeschränkt werden dürfe. Danach hätte also nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zur CSSR dem C ggf anstelle eines ruhenden Anspruchs nunmehr ein echter, freilich unter dem Vorbehalt einer einschränkenden Ermessensentscheidung des Versorgungsträgers stehender Anspruch auf BSchA zustehen können. Auch bei Zugrundelegung dieser Rechtsauffassung hat jedoch für Zeiten nach dem 11. Dezember 1973 (wie zuvor) kein Anspruch des C auf BSchA bestanden, der geeignet gewesen wäre, den von der Klägerin erhobenen Anspruch auf Witwenbeihilfe zu begründen. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, setzt die im Interesse der Verwaltungsvereinfachung geschaffene Vorschrift des jetzigen § 48 Abs 1 Satz 6 BVG voraus, daß dem verstorbenen Beschädigten „offensichtlich” oder „für jeden Kundigen klar erkennbar” fünf Jahre lang Anspruch auf BSchA zugestanden hat „Offenkundigkeitsgrundsatz” – vgl SozR 3100 § 48 Nrn 15 und 16; SozR 3-3100 § 48 Nrn 2, 3, 4, 6 und 7). Die unwiderlegliche Vermutung des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG würde ihren Zweck – Verwaltungsvereinfachung – verfehlen, wenn statt der in § 48 Abs 1 Satz 1 BVG grundsätzlich vorgesehenen Gegenüberstellung von schädigungsbedingt geminderter (tatsächlicher) und hypothetischer (vgl dazu SozR 3-3100 § 48 Nr 9) Witwenversorgung und der Ermittlung ihrer schädigungsbedingten Minderung mit mehr oder weniger demselben oder größerem Verwaltungsaufwand ein zu Lebzeiten des Beschädigten vorhanden gewesener Anspruch auf BSchA und dessen Dauer exakt ermittelt werden müßten.
Dieser Weg ist nur ausnahmsweise zu beschreiten, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten (auch) BSchA beantragt hat und über diesen Antrag noch nicht entschieden worden ist. Auf diesen Fall bezieht sich die bisherige Rechtsprechung des Senats, soweit sie eine Ausnahme vom Offenkundigkeitsgrundsatz macht (vgl SozR 3-3100 § 48 Nr 3 S 9; SozR 3-3100 § 48 Nr 6 S 17). Gemeint sind dabei die Fälle, in denen ein zu Lebzeiten des Beschädigten eröffnetes Verfahren zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht abgeschlossen war. Denn, wie der Senat bereits entschieden hat, gilt der Offenkundigkeitstatbestand auch für die Fälle, daß ein Antrag des Beschädigten auf BSchA zu dessen Lebzeiten zwar gestellt, das dadurch eingeleitete Verwaltungsverfahren aber für ihn erfolglos abgeschlossen worden war, selbst wenn die Witwe nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) die Zugunstenfeststellung des Anspruchs betreibt (vgl SozR 3-3100 § 48 Nr 7).
Nach dem Gesagten wäre daher lediglich ein offenkundiger Anspruch des C auf BSchA – ob ruhend oder nicht – geeignet, die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG zu erfüllen. Denn ein Verwaltungsverfahren über einen Antrag des C war zum Zeitpunkt seines Todes nicht mehr anhängig. Sein Antrag auf Versorgung vom 4. Juli 1969 war durch den Bescheid des Beklagten vom 6. April 1971 vollständig beschieden, dh verbraucht (vgl dazu SozR 3900 § 40 Nr 12 S 32). Dem steht nicht entgegen, daß der Beklagte sich seinerzeit darauf beschränkt hat, anstelle der beantragten Vollversorgung lediglich Teilversorgung festzustellen und die übrigen – gemäß § 64 Abs 2 Satz 1 BVG in der damaligen Fassung ruhenden – Ansprüche unbeziffert zu lassen. Denn diese ruhenden Ansprüche brauchten seinerzeit nicht geprüft und beschieden zu werden.
Auch von Amts wegen hat ein Verwaltungsverfahren über weitere Ansprüche auf Versorgung, insbesondere auf BSchA, nach dem 11. Dezember 1973 nicht mehr stattgefunden. Insbesondere hat der Beklagte nicht von sich aus ein Verfahren über eine Neuprüfung der durch Bescheid vom 6. April 1971 getroffenen Regelung gemäß § 62 BVG aF (ab 1. Januar 1981 § 48 SGB X) und § 60 Abs 2 und 3 BVG eröffnet. Es ist im übrigen davon auszugehen, daß ein solches Verfahren nicht zu einer Feststellung des Anspruchs des C auf BSchA geführt hätte, sondern die – ermessensfehlerfrei festgesetzte – Teilversorgung ohne einen solchen Anspruch (vgl § 64e Abs 1 idF des 3. AnpGKOV iVm § 64 Abs 2 Sätze 2 bis 4 idF des 3. NOG KOV) zum Ergebnis gehabt hätte. Einen Hinweis darauf, daß ein Anspruch auf BSchA seinerzeit ermessensfehlerfrei von der Teilversorgung ausgenommen worden wäre, gibt die seit 1. Juli 1990 geltende Neufassung des § 64e BVG durch das KOVAnpG vom 26. Juni 1990 (BGBl I S 1211) iVm der seit demselben Zeitpunkt geltenden Auslandsversorgungsverordnung (AuslVersV) vom 30. Juni 1990 (BGBl I S 1321). Danach hat ein in Tschechien lebender Beschädigter heute nur Anspruch auf Teilversorgung nach Maßgabe des § 64e Abs 2 Satz 1 BVG nF. Sonstige, in § 64e Abs 2 Satz 1 BVG nF nicht genannte Versorgungsansprüche, insbesondere solche auf BSchA, ruhen (§ 64e Abs 1 Satz 2 BVG nF).
Ergeben sich also insoweit keine Bedenken gegen die Anwendung des Offenkundigkeitsgrundsatzes, so ist dieser Grundsatz andererseits auch nicht deswegen zu verlassen, weil – wie die Revision meint –, etwaige Ansprüche auf BSchA bei in ehemaligen Ostblockstaaten wohnenden Beschädigten fast stets der Offenkundigkeit ermangeln und die Hinterbliebenen dieses Personenkreises daher im Regelfall aus der Vorschrift des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG keinen Nutzen ziehen können. Zwar ist richtig, daß die vorstehend beschriebene Rechtslage dazu geführt hat und noch führt, daß die Versorgungsverwaltung etwaige Ansprüche von in Ost- und Ostmitteleuropa lebenden Beschädigten auf BSchA in aller Regel ungeprüft läßt, da diese nicht Bestandteil der allein zu gewährenden Teilversorgung sind, so daß die tatsächlichen Voraussetzungen für einen derartigen Anspruch regelmäßig zu Lebzeiten des Beschäftigten nicht festgehalten werden und daher regelmäßig die vom Senat aufgestellte Voraussetzung für die Anwendung des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG (Offenkundigkeit des Anspruchs des Beschädigten auf BSchA bereits aufgrund der Beschädigtenakten) nicht erfüllt wird. Dies ist jedoch – zumindest für die Zeit vor dem 1. Juli 1988 (Inkrafttreten des KOVAnpG 1988 vom 21. Juni 1988 – KOVAnpG 1988 ≪BGBl I S 826≫) – hinzunehmen. Denn eine gewisse faktische Schlechterstellung der Hinterbliebenen von Kriegsopfern, die in den Betracht kommenden Staaten lebten, bestand durch die tatsächlichen Verhältnisse und die rechtliche Ausgestaltung der bis zum 30. Juni 1988 geltenden Anspruchsvoraussetzungen der Beschädigten ohnehin. Aufgrund der bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Fassungen des § 64c BVG (vgl zB die Fassung durch das 13. KOVAnpG vom 20. Juni 1984 ≪BGBl I S 761≫) war nämlich für die Ermittlung des schädigungsbedingten Einkommensverlustes iS des § 30 Abs 4 BVG die Gegenüberstellung des derzeitigen (im wesentlichen ausländischen) Bruttoeinkommens (zuzüglich Ausgleichsrente) und des Durchschnittseinkommens der Berufs- und Wirtschaftsgruppe in dem Aufenthaltsstaat, dem der Beschädigte ohne die Schädigung wahrscheinlich angehört hätte, maßgebend. Waren für eine derartige Feststellung des Vergleichseinkommens verwertbare Unterlagen nicht vorhanden, so konnte das Durchschnittseinkommen der gewerblichen Arbeitnehmer im Aufenthaltsstaat zugrunde gelegt werden (so § 64c Abs 2 Satz 4 BVG idF des 16. KOVAnpG). Diese Regelung, die letztlich die ausländische Lohn- und Gehaltsstruktur für maßgeblich erklärte, begegnete aber gerade in Ostblockländern häufig erheblichen Ermittlungsschwierigkeiten.
Hinzu kommt, daß vielfach die Hinterbliebenen von Beschädigten, die in Ost- und Ostmitteleuropa gelebt haben, gegenüber den Hinterbliebenen von Beschädigten bevorzugt würden, die in Deutschland gelebt haben, wenn jener Personenkreis von der Anwendung des Offenkundigkeitsgrundsatzes ausgenommen würde. Denn die Hinterbliebenen von Beschädigten, die ihren Wohnsitz in Deutschland hatten, müssen sich in den nicht seltenen Fällen, daß der Beschädigte zu Lebzeiten einen Anspruch auf BSchA nicht geltend gemacht hat, ebenfalls auf den Offenkundigkeitsgrundsatz verweisen lassen. Zusammenfassend ist daher davon auszugehen, daß den Hinterbliebenen von Beschädigten aus Ost- und Ostmitteleuropa – von Offenkundigkeitsfällen iS der zitierten Rechtsprechung des Senats abgesehen – wegen ihres Anspruchs auf Witwenbeihilfe faktisch zumeist nicht die Regelung des § 48 Abs 1 Satz 6, sondern mehr oder weniger ausschließlich die Regelung des § 48 Abs 1 Satz 1 (prozentuale Minderung der Witwenversorgung infolge der Schädigung) zugute kommt. Zu diesem Ergebnis ist der Senat bereits in seiner (unveröffentlichten) Entscheidung vom 23. März 1990 (9a RV 6/91) gelangt.
Die dargestellte faktische Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG gilt zumindest, soweit – wie hier – Hinterbliebenenversorgungsansprüche auf bis zum 30. Juni 1988 entstandene Ansprüche der Beschädigten auf BSchA gestützt werden. Für die Folgezeit hat nämlich der Gesetzgeber durch das KOVAnpG 1988 den § 64c BVG dahingehend geändert, daß nunmehr für die Feststellung des (ausländischen) Einkommensverlustes iS des § 30 Abs 4 Satz 1 BVG das Durchschnittseinkommen der Berufs- und Wirtschaftsgruppe maßgeblich ist, welcher der Beschädigte im Inland angehören würde. Es sind also nunmehr für die Ermittlung des Einkommensverlustes bei ausländischen Einkünften eines Beschädigten nicht mehr zwei jeweils zu ermittelnde ausländische, sondern – ähnlich wie bei der Nachschadensregelung (vgl dazu § 30 Abs 11 BVG) – zwei fiktive inländische Einkünfte einander gegenüberzustellen. Nach dieser Neuregelung erscheint es erheblich häufiger möglich als früher, nachträglich festzustellen, daß einem verstorbenen Beschädigten, der seinen Wohnsitz im Osten (Mittel-) Europas hatte, „offensichtlich” BSchA zustand, da sich beide maßgeblichen Rechengrößen für die Ermittlung seines schädigungsbedingten Einkommensverlustes nunmehr aus inländischen Tabellen entnehmen lassen (vgl BSG SozR 3-3100 § 48 Nr 1). Die ab 1. Juli 1988 in Kraft getretene Neufassung des § 64c BVG durch das KOVAnpG 1988 ist jedoch C nicht mehr zugute gekommen, da dieser bereits am 31. Januar 1987 verstorben war.
Nach allem ist das LSG zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Anspruch der Klägerin auf Witwenbeihilfe mangels Offenkundigkeit des dafür vorausgesetzten Anspruchs auf BSchA nicht besteht. Daß eine solche Offenkundigkeit fehlt, ergibt sich aus den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG, die auch auf der Grundlage der vor Beginn des Verfahrens über den Antrag der Klägerin auf Witwenbeihilfe angefallenen Beschädigtenakten getroffen worden sind. Insbesondere ist insoweit ohne wirksamen Revisionsangriff festgestellt, daß sich (auch) aus den Beschädigtenakten des C nicht ohne weiteres ersehen läßt, daß C in seinem Ausweichberuf als Aufräumer fünf Jahre lang geringere Einnahmen bezogen hätte, als sie ihm als Kellner zugeflossen wären. Mithin liegt der Vermutungstatbestand des § 48 Abs 1 Satz 6 BVG nicht vor.
Unstreitig hat das LSG – auch insoweit unangegriffen – keine irgendwie geartete schädigungsbedingte Minderung der tschechischen Witwenversorgung iS des § 48 Abs 1 Satz 1 BVG festgestellt, geschweige denn eine solche, die den maßgeblichen Prozentsatz erreicht. Nach allem konnte die Revision der Klägerin keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1175921 |
SGb 1998, 531 |
SozR 3-3100 § 48, Nr. 10 |
SozSi 2000, 35 |
SozSi 2000, 72 |