Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattungsanspruch. Entstehung. Ausschlußfrist. Statusbescheid. Tatbestandswirkung. Bindungswirkung. Rückwirkung
Leitsatz (amtlich)
Hat die Krankenkasse gegenüber dem Berechtigten das Bestehen eines Versicherungsverhältnisses in einem förmlichen Feststellungsverfahren verneint, so kann ein Erstattungsanspruch des zwischenzeitlich für die Krankenhilfe aufgekommenen Sozialhilfeträgers nach § 104 SGB X erst in dem Zeitpunkt entstehen, in dem der negative Feststellungsbescheid rückwirkend aufgehoben wird.
Normenkette
SGB X §§ 104, 111
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I.
Die Beigeladene, die 1925 in Polen geboren ist und seit 1981 in der Bundesrepublik Deutschland lebt, bezieht seit Juli 1984 eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, Anläßlich der Rentenantragstellung entschied die AOK Ostholstein (Rechtsvorgängerin der Beklagten) am 21. August 1984, daß die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) nicht erfüllt seien, weil die Beigeladene polnische Staatsangehörige sei. Die notwendige Krankenhilfe wurde daraufhin wie bisher von der klagenden Stadt als Sozialhilfeträgerin gewährt.
Nachdem der Beigeladenen der Nachweis der deutschen Volkszugehörigkeit gelungen war, wurde sie im November 1987 als Vertriebene anerkannt und erhielt den Vertriebenenausweis A. Unter Bezugnahme hierauf beantragte sie im März 1993 erneut ihre Aufnahme in die KVdR. Mit Bescheid vom 14. April 1993 stellte die AOK Ostholstein nunmehr fest, daß die Beigeladene rückwirkend ab Rentenantragstellung in der KVdR pflichtversichert sei.
Am 20. Dezember 1993 erhob die Klägerin bei der Beklagten Anspruch auf Erstattung der seit 1984 von ihr getragenen Aufwendungen für Krankenhilfe. Die Beklagte erstattete jedoch nur die in der Zeit ab 20. Dezember 1992 angefallenen Kosten und berief sich im übrigen auf die Ausschlußfrist des § 111 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).
Die Klage auf Zahlung weiterer 21.801,32 DM hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) hat ihr stattgegeben. Die noch streitigen Erstattungsansprüche für die in der Zeit von Juli 1984 bis Dezember 1992 aufgewendeten Krankenhilfekosten seien erst mit der Feststellung der Versicherungspflicht im April 1993 entstanden. Wegen der Tatbestandswirkung des früheren, entgegenstehenden Bescheides vom 21. August 1984 habe die Klägerin vorher ihre Ansprüche nicht geltend machen und durchsetzen können. Gemäß § 111 Satz 2 SGB X sei die einjährige Ausschlußfrist damit bei Anmeldung der Ansprüche im Dezember 1993 noch nicht abgelaufen gewesen (Urteil vom 24. Oktober 1995).
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 111 SGB X. Da die Feststellung der Versicherungspflicht auf den Zeitpunkt der Rentenantragstellung zurückwirke, seien die Erstattungsansprüche der Klägerin ebenfalls rückwirkend mit der jeweiligen Leistungserbringung entstanden. Daß die Ansprüche wegen des negativen Statusbescheides aus dem Jahr 1984 seinerzeit nicht durchsetzbar gewesen seien, schiebe den Beginn der Ausschlußfrist nicht hinaus; denn der Klägerin sei es unbenommen gewesen, ihre Forderungen vorsorglich anzumelden.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 24. Oktober 1995 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 1. November 1994 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Zutreffend gehen die Vorinstanzen davon aus, daß durch die rückwirkende Feststellung der Versicherungspflicht der Beigeladenen in der KVdR ein Anspruch der Klägerin nach § 104 Abs. 1 SGB X auf Erstattung der ab Rentenantragstellung aus Mitteln der Sozialhilfe aufgewendeten Krankenbehandlungskosten begründet worden ist. Dieser nach Grund und Höhe unstreitige Anspruch ist nicht nach § 111 SGB X erloschen.
§ 111 Satz 1 SGB X bestimmt, daß der Anspruch auf Erstattung ausgeschlossen ist, wenn der Erstattungsberechtigte ihn nicht spätestens zwölf Monate nach Ablauf des letzten Tages, für den die Leistung erbracht wurde, geltend macht. Der Lauf der Ausschlußfrist beginnt jedoch nach Satz 2 der Vorschrift frühestens mit der Entstehung des Erstattungsanspruchs. Entstanden sind die hier streitigen Ansprüche unabhängig vom Zeitpunkt der jeweiligen Leistungserbringung erst im April 1993 mit der rückwirkenden Feststellung der Versicherungspflicht und der gleichzeitigen (konkludenten) Aufhebung des früheren anderslautenden Feststellungsbescheides. Damit war die einjährige Ausschlußfrist bei Anmeldung der Ansprüche im Dezember 1993 noch nicht abgelaufen.
Erstattungsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern entstehen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mit dem Vorliegen ihrer gesetzlichen Voraussetzungen und nicht erst mit ihrer behördlichen oder gerichtlichen Feststellung (so schon zum Rechtszustand vor Inkrafttreten des SGB X: BSGE 50, 68, 69 mwN; zum geltenden Recht: BSG SozR 1300 § 104 Nr. 6 S 13 f; BSGE 65, 27, 29 = SozR 1300 § 111 Nr. 4 S 14 f; BSGE 65, 31, 38 = SozR 1300 § 111 Nr. 6 S 24). Unerheblich ist infolgedessen, ob und wann der vorrangig verpflichtete Leistungsträger den Leistungsanspruch gegenüber dem Berechtigten anerkannt bzw festgestellt hat. Auch dies hat das BSG wiederholt entschieden und mit der Eigenständigkeit des Erstattungsanspruchs gegenüber dem Leistungsanspruch sowie der – materiellrechtlich gesehen – rein deklaratorischen Bedeutung der Leistungsbewilligung begründet (SozR 1300 § 111 Nr. 3 S 12; Urteil vom 19. März 1996 -2 RU 22/95-, zur Veröffentlichung vorgesehen). In der Regel entsteht demnach der in Rede stehende Anspruch aus § 104 Abs. 1 SGB X, sobald der nachrangig verpflichtete Leistungsträger die Sozialleistung nach dem für ihn maßgeblichen Recht tatsächlich erbringt. Ob es dabei auf den Zeitpunkt der Erbringung der Sachleistung gegenüber dem Berechtigten (so der 4. Senat in BSGE 65, 31, 38 f = SozR 1300 § 111 Nr. 6 S 24 f) oder auf den Zeitpunkt der Bezahlung der Kosten gegenüber dem Leistungserbringer (so der 3. Senat in SozR 1300 § 111 Nr. 3 S 11) ankommt, kann in dem hier interessierenden Zusammenhang auf sich beruhen.
Abweichend vom Regelfall kann jedoch die Erbringung der Leistung durch den nachrangig zuständigen Träger dann nicht zur Entstehung eines Erstattungsanspruchs führen, wenn das Bestehen eines Versicherungs- oder Mitgliedschaftsverhältnisses bei dem vorrangig zuständigen Träger zuvor in einem förmlichen Feststellungsverfahren bindend verneint worden war. Das folgt daraus, daß die Feststellung des Versicherungsverhältnisses als „Statusentscheidung” nicht nur den Betroffenen bindet, sondern Tatbestandswirkung auch für andere Rechtsträger entfaltet, mithin von ihnen ohne Rücksicht auf ihre Rechtmäßigkeit wie eine Tatsache zu beachten ist. Im konkreten Fall hatte die AOK Ostholstein als Rechtsvorgängerin der Beklagten am 24. August 1984 entschieden, daß die Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung der Beigeladenen in der KVdR nicht erfüllt seien. Die auf dem Meldeformular getroffene Feststellung ist ungeachtet ihres formularmäßigen Charakters und der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung ein Verwaltungsakt, mit dem erkennbar die Frage der Versicherungspflicht verbindlich mit Außenwirkung geregelt werden sollte. Auch die Klägerin als Drittbetroffene hatte aufgrund dieses Bescheides davon auszugehen, daß ein Versicherungsverhältnis nicht bestand.
Daß Entscheidungen des Versicherungsträgers über den versicherungsrechtlichen Status einer Person Tatbestandswirkung (Drittbindungswirkung) in dem vorgenannten Sinne zukommt, ist in der Rechtsprechung des BSG seit langem anerkannt (vgl. zB Urteil des 3. Senats vom 11. November 1975 ≪SozR 2200 § 381 Nr. 5≫; Urteil des 8. Senats vom 26. Juli 1979 ≪SozR 2200 § 176 c Nr. 3≫; Urteile des 12. Senats vom 6. Februar 1992 ≪BSGE 70, 99 = SozR 3-1500 § 54 Nr. 15≫ und vom 11. Juni 1992 ≪SozR 3-2200 § 310 Nr. 1≫). Dem liegt die Erwägung zugrunde, daß statusregelnde Verwaltungsakte erheblich weitergehende Auswirkungen als Einzelentscheidungen über die Gewährung oder Nichtgewährung von Leistungen haben. Sie bezwecken die auf Dauer angelegte, verbindliche Regelung eines Rechtsverhältnisses, das seinerseits die Grundlage für eine Vielzahl von Rechten und Pflichten bildet. Diese Funktion können sie nur erfüllen, wenn ihnen Verbindlichkeit auch im Verhältnis zu anderen, an dem Sozialrechtsverhältnis nicht beteiligten Behörden beigemessen wird. Hat deshalb die Krankenkasse eine Mitgliedschaft des Leistungsempfängers durch bestandskräftigen Bescheid verneint, so ist diese Entscheidung, solange sie nicht aufgehoben ist, von allen betroffenen Leistungsträgern als verbindlich hinzunehmen. Auch wenn sie sich als falsch erweist, kann ein Erstattungsanspruch nicht entstehen, weil wegen der die materielle Rechtslage überlagernden Tatbestandswirkung des Statusbescheides auch im Verhältnis zu dem die Erstattung begehrenden Leistungsträger bindend feststeht, daß eine Leistungspflicht der Krankenkasse nicht in Betracht kommt (so ausdrücklich BSG SozR 2200 § 176 c Nr. 3 S 6 ff; SozR 3-2200 § 310 Nr. 1 S 3 f).
Etwas anderes ergibt sich entgegen der Ansicht der Revision nicht deshalb, weil der Bescheid vom 14. April 1993 den versicherungsrechtlichen Status der Beigeladenen rückwirkend, also auch für die Vergangenheit, neu geregelt hat. Dadurch ist zwar die Beklagte nachträglich für die gesamte Zeit ab Rentenantragstellung im Juli 1984 leistungspflichtig und damit zugleich gegenüber der Klägerin erstattungspflichtig geworden. Diese rechtlichen Auswirkungen können jedoch nichts daran andern, daß zur Zeit der Erbringung der jeweiligen Krankenhilfeleistungen durch die Klägerin der Bescheid vom 24. August 1984 noch wirksam war mit der Folge, daß zum damaligen Zeitpunkt kein Leistungsanspruch der Beigeladenen bestanden hat und damit die Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X nicht erfüllt waren. Im Unterschied zu den sonstigen Rechtswirkungen kann die Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes durch dessen spätere Aufhebung nicht rückwirkend, sondern nur für die Zukunft beseitigt werden. Der Sinn der Tatbestandswirkung besteht gerade darin, auch Dritte an den statusregelnden Verwaltungsakt zu binden, unabhängig davon, ob die getroffene Entscheidung materiell rechtmäßig ist oder nicht. Damit ist es unvereinbar, einem späteren aufhebenden Bescheid eine die Tatbestandswirkung des aufgehobenen Bescheides ex tunc beseitigende Wirkung beizulegen.
Der gegenteilige Standpunkt läßt sich nicht damit begründen, daß dem (positiven) Statusbescheid vom 14. April 1993 seinerseits Tatbestandswirkung zukommt. Die Tatbestandswirkung ist Ausfluß der Existenz und formellen Wirksamkeit des Verwaltungsaktes. Während die Feststellung der Versicherungspflicht samt den sich daraus ergebenden beitrags- und leistungsrechtlichen Konsequenzen zurückwirkt, kann es eine Tatbestandswirkung im Sinne einer materiellen Bindung an die getroffene Entscheidung erst ab dem Zeitpunkt geben, in dem der Verwaltungsakt ergangen ist und Rechtswirkungen entfaltet bis zu seiner Aufhebung galt deshalb der Bescheid aus dem Jahr 1984, der für alle Beteiligten verbindlich Leistungsansprüche gegen die Beklagte ausschloß und dessen Tatbestandswirkung erst durch den Bescheid vom 14. April 1993 mit Wirkung ex nunc beseitigt worden ist. Daß die zwischen den Beteiligten des Verwaltungsverfahrens gemäß § 77 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bestehende Bindungswirkung eines Bescheides auch bei rückwirkender Aufhebung nur für die Zukunft und nicht auch für die Vergangenheit entfällt, ist unbestritten. So entsteht der Anspruch auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen in den Fällen des § 50 Abs. 1 SGB X nicht schon mit dem Bewirken der Leistung, sondern erst mit der Aufhebung des entgegenstehenden Bewilligungsbescheides (Schneider-Danwitz, SGB-GesamtKomm, § 50 SGB X Anm. 56 a; Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X-Komm, 3. Aufl, § 50 Anm. 5; zu der entsprechenden Erstattungsregelung des Verwaltungsverfahrensgesetzes: Kopp, VwVfG-Komm, 6. Aufl, § 48 RdNr. 79; Obermayer, VwVfG-Komm, 2. Aufl, § 48 RdNr. 88). Dasselbe muß für die Fälle gelten, in denen sich die Bindungswirkung eines Verwaltungsaktes wegen dessen Steuerungsfunktion über den Kreis der Verfahrensbeteiligten hinaus auf Dritte erstreckt.
Der Senat verkennt nicht, daß aufgrund dieser rechtlichen Gegebenheiten das mit der kurzen Ausschlußfrist des § 111 Satz 1 SGB X verfolgte Ziel einer frühzeitigen Klärung etwaiger Erstattungsansprüche anderer Sozialleistungsträger im konkreten Fall verfehlt wird. Das ist indessen die zwangsläufige Folge davon, daß das Gesetz den Beginn der Frist an die Entstehung des Erstattungsanspruchs gebunden und damit in Kauf genommen hat, daß auch solche Ansprüche noch geltend gemacht werden können, deren Entstehungsgrund bereits längere Zeit zurückliegt.
Greift § 111 SGB X nicht ein, so sind die von der Klägerin geltend gemachten Erstattungsansprüche auch nicht aus anderen Gründen ganz oder teilweise ausgeschlossen. Verjährung ist nicht eingetreten, weil § 113 Abs. 1 SGB X für den Verjährungsbeginn ebenfalls an die Entstehung des Erstattungsanspruchs anknüpft. Die für die Nachzahlung von Sozialleistungen geltende Ausschlußregelung des § 44 Abs. 4 SGB X ist, auch wenn man der Vorschrift einen über ihren eigentlichen Anwendungsbereich hinausreichenden Rechtsgrundsatz entnehmen wollte (dazu BSGE 74, 267, 268 = SozR 3-1200 § 45 Nr. 4 S 11 mwN), jedenfalls auf Erstattungsansprüche zwischen Sozialleistungsträgern nicht übertragbar.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 954085 |
BSGE, 128 |
SozSi 1997, 399 |