Leitsatz (amtlich)
Wer den Ort der Tätigkeit vor Beginn der Arbeit wieder verläßt, um aus seiner Wohnung die vergessene Brille zu holen, ohne die er seine Arbeit nicht verrichten kann, steht auf diesem Weg unter Versicherungsschutz.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-04-01
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1975 wird zurückgewiesen.
Tatbestand
Der bei der Beklagten für den Fall der Krankheit versicherte Kurt R (R.) ist kaufmännischer Angestellter in der Rechnungsabteilung der Firma K GmbH in F. Nachdem er am 10. April 1970 morgens mit dem Fahrrad von seiner Wohnung zur Arbeitsstelle gefahren war, stellte er dort fest, daß er zu Hause seine Brille vergessen hatte. Er fuhr deshalb den Weg zurück, um die Brille zu holen. Dabei wurde er von einem Kraftwagen angefahren, bevor er seine Wohnung erreicht hatte. Wegen der Folgen dieses Unfalls wurde R. zunächst stationär behandelt und war im Anschluß daran bis zum 2. Juni 1970 arbeitsunfähig. Die Klägerin hatte aus Anlaß des Unfalls für R. insgesamt 1.333,63 DM aufgewendet.
Mit der beim Sozialgericht (SG) Mannheim erhobenen Klage hat sie gemäß § 1509 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) von der Beklagten Ersatz dieser Aufwendungen begehrt, da der Unfall des R. kein Arbeitsunfall gewesen sei. Ihre Klage ist erfolgreich gewesen (Urteil vom 26. Januar 1972). Auf die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25. Juni 1975). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Der Versicherungsschutz sei nicht auf täglich einen Weg von oder nach dem Ort der Tätigkeit beschränkt. Jedoch sei bei einem wiederholten Weg Voraussetzung, daß bei jedem dieser Wege ein ursächlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit bestehe. Nach augenärztlichem Gutachten des Prof. Dr. L und des Dr. R in M vom 13. Januar 1975 sowie der Auskunft des Arbeitgebers des R. vom 20. Januar 1972 habe R. zur Verrichtung seiner betrieblichen Tätigkeit eine Brille benötigt. Zwar habe er auch außerhalb dieser Tätigkeit im eigenwirtschaftlichen Bereich eine Brille beim Lesen sowie bei allen mittelfeinen und feinen Arbeiten tragen müssen, weshalb sie kein Arbeitsgerät sei. Dennoch sei R. im Unfallzeitpunkt versicherungsrechtlich geschützt gewesen, weil der zurückgelegte Weg in einem ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gestanden habe. Der Entschluß des R., die Brille zu holen, habe wesentlich auf einem der Betriebsarbeit entsprungenem Beweggrund beruht, da er ohne die Brille seine Arbeit überhaupt nicht habe ausführen können. In diesem Beweggrund sei eine rechtlich so wesentliche Verknüpfung der Rückfahrt zur Wohnung mit der versicherten Tätigkeit zu sehen, daß demgegenüber der mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Wunsch, auch außerhalb der betrieblichen Tätigkeit gut sehen zu können, als nachrangig und damit als rechtlich unwesentlich auszuscheiden sei. Es würde zudem der natürlichen Betrachtungsweise des hier zu beurteilenden Lebensvorganges widersprechen, die Rückfahrt des R. nach seiner Wohnung von seinem gesamten auf die Arbeitsaufnahme gerichteten Verhalten trennen zu wollen, zumal da betriebliche Gründe für den Entschluß, die zur Arbeit notwendige Brille zu holen, maßgebend gewesen seien. Der Einwand der Klägerin, das Herbeiholen der vergessenen Brille und der zu diesem Zweck zurückgelegte Weg seien eine unversicherte Vorbereitungshandlung, überzeuge nicht. Entscheidend sei hier, daß der Beweggrund für die Fahrt zur Wohnung in der betrieblichen Tätigkeit seinen Ursprung gehabt habe, da R. ohne die vergessene Brille seine Arbeit nicht oder zumindest nicht ordnungsgemäß hätte verrichten können. Die Auffassung der Klägerin, Versicherungsschutz sei nur zu bejahen, wenn die Brille zur Fortsetzung der Arbeit erforderlich gewesen sei, könne nicht geteilt werden. Denn es könne keinen Unterschied machen, ob die Arbeitsaufnahme oder nur deren Fortsetzung von einem zu beschaffenden Hilfsmittel abhängig sei, da in beiden Fällen die Notwendigkeit des Hilfsmittels als Voraussetzung für die Verrichtung der betrieblichen Tätigkeit überhaupt die wesentliche Ursache für dessen Beschaffung sei. R. habe daher einen Arbeitsunfall (Wegeunfall) erlitten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der nach § 550 RVO geschützte Weg zur Arbeitsstätte müsse am Morgen vor Schichtbeginn schon rein begrifflich grundsätzlich zur Arbeitsstätte hinführen. Er dürfe nicht in umgekehrter Richtung von der Arbeitsstätte in die Wohnung des Versicherten zurückführen. Die Fahrt des R., um aus der Wohnung die dort vergessene Brille zu holen, könne unter diesen Umständen nicht als Teil des Weges zur Arbeitsstätte angesehen werden. Sie sei vielmehr eine Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte. Überdies falle das Holen der Brille ausschließlich, zumindest aber überwiegend in den privaten, eigenwirtschaftlichen und daher unversicherten Bereich des Versicherten. Es gebe eine Reihe von Voraussetzungen für die Teilnahme am Arbeitsleben, die außerhalb des Schutzes durch die gesetzliche Unfallversicherung im privaten Bereich zu schaffen seien, ehe mit der Arbeit begonnen werden könne. Man müsse gehen können, sehen können, ordnungsgemäß gekleidet sein und gefrühstückt haben. Das alles liege jedoch überwiegend im Interesse des Arbeitnehmers. Es handele sich um die grundsätzlichen und allgemeinen Voraussetzungen für die Teilnahme am Arbeitsleben, die jeder arbeitende Mensch von sich selber aus schaffen müsse und die seine ureigensten Angelegenheiten seien. Der Versicherte, der ohne Brille nicht habe arbeiten können, sei wegen seiner Vergeßlichkeit aus eigenem Verschulden arbeitsunfähig. Er habe nicht das Seinige getan, um seine Arbeit anzutreten. Es habe daher auch zu seinen eigenen, unversicherten Angelegenheiten gehört, diesen Mangel zu beheben.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1975 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Januar 1972 zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie stimmt den Ausführungen des LSG zu. Ergänzend trägt sie vor, daß das Interesse eines Versicherten, seine Arbeitsverpflichtung zu erfüllen, nicht dem persönlichen Bereich zugeordnet werden könne. Daher könne auch eine Brille für das wichtigste Organ eines kaufmännischen Angestellten, die Augen, nicht mit einem anderen, enger an den Körper angepaßten Körperersatzstück verglichen werden. Da der Versicherte seit seinem 20. Lebensjahr eine Brille zum Lesen und Schreiben brauche, diene sie überwiegend der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit. Ihrer Ansicht nach handele es sich bei der Brille des Versicherten zudem um ein Arbeitsgerät i. S. des § 549 RVO.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten zugestimmt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Der Ersatzanspruch der Klägerin setzt nach § 1509 a RVO voraus, daß sie dem kaufmännischen Angestellten R. Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung gewährt und sich nachträglich herausgestellt hat, daß die am 10. April 1970 erlittenen Verletzungen keine Folgen eines Arbeitsunfalls waren. Die R. von der Klägerin selbst oder in ihrem Auftrag von der Beklagten gewährten Leistungen (vgl. § 1510 RVO i. V. m. der zwischen den Trägern der Unfallversicherung und den Trägern der Krankenversicherung abgeschlossenen Verwaltungsvereinbarung vom 28. Juni 1963 - DOK 1963, 334) sind jedoch zu Recht erbracht worden, da R. am 10. April 1970 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO ist Arbeitsunfall ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Als Arbeitsunfall gilt nach § 549 RVO auch ein Unfall bei einer mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Verwahrung, Beförderung, Instandhaltung und Erneuerung des Arbeitsgerätes, auch wenn es vom Versicherten gestellt wird. Ferner gilt gemäß § 550 Abs. 1 RVO als Arbeitsunfall ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.
Es bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, ob die Brille, die R. von zu Hause holen wollte, ein Arbeitsgerät i. S. des § 549 RVO ist und R. nach dieser Vorschrift auf dem zum Unfall führenden Weg versichert war. Denn der Versicherungsschutz ist unabhängig davon nach § 550 Abs. 1 RVO zu bejahen, der mit dem bis zum 31. Dezember 1973 geltenden § 550 Satz 1 RVO identisch ist (vgl. § 15 Nr. 1 des Siebzehnten Rentenanpassungsgesetzes vom 1. April 1974 - BGBl I 821). Zwar hatte R. nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG den von seiner Wohnung aus angetretenen Weg zu seiner Arbeitsstelle am Unfalltag bereits zurückgelegt, als er sich entschloß, nochmals nach Hause zu fahren, um die vergessene Brille zu holen. Mit der Vollendung des ersten Weges war jedoch der unfallversicherungsrechtliche Schutz für die Zurücklegung des Weges nicht verbraucht, denn der Versicherungsschutz nach § 550 Abs. 1 RVO ist nicht auf täglich nur einen einzigen Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit beschränkt (vgl. SozR Nr. 11 zu § 543 RVO aF; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl., S. 486 o). Erforderlich ist aber, daß bei mehrfachen Wegen an einem Tag jeder dieser Wege in einem inneren ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht. Dies war hier der Fall. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die sich nicht nur auf eine Auskunft des Arbeitgebers des R., sondern auch auf ein vom LSG eingeholtes augenfachärztlichen Gutachten stützen, benötigte R. die zu Hause vergessene Brille zum Ausüben seiner betrieblichen Tätigkeit in der Rechnungsabteilung seines Beschäftigungsbetriebes; ohne die Brille konnte er seine Arbeit überhaupt nicht verrichten. Der Beweggrund des R. für den Weg nach Hause entsprang damit, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, seiner versicherten Tätigkeit und bildet eine rechtlich so wesentliche ursächliche Verknüpfung mit der Tätigkeit im Unternehmen, daß demgegenüber etwa sein mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängender Wunsch, auch außerhalb der versicherten Tätigkeit besser sehen zu können, als nachrangig zu bewerten und damit als rechtlich unwesentlich auszuscheiden ist. Diese Wertung entspricht dem Wesen des § 550 Abs. 1 RVO, rechtlich die dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Beweggründe für den Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit weitgehend als bei Betriebswegen (§ 548 RVO) unberücksichtigt zu lassen (SozR Nr. 11 zu § 543 RVO aF).
Zu Recht hat das LSG den Einwand der Klägerin, daß das Holen der Brille eine dem eigenwirtschaftlichen Bereich des Versicherten zuzurechnende und daher unversicherte Vorbereitungshandlung darstellt, nicht als überzeugend angesehen. Anders als etwa das Einkaufen von Nahrungsmitteln zum Verzehr während einer Arbeitspause auf dem Wege zur Arbeitsstelle (vgl. BB 1969, 1271; BG 1972, 355) oder das Holen des zu Hause vergessenen Geldes zum Einkauf von Getränken zur Stillung des Durstes während der Arbeitszeit (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 25. Januar 1977 - 2 RU 57/75), das als unfallversicherungsrechtlich nicht geschützt angesehen wurde, steht der Weg zur Beschaffung der für die versicherte Tätigkeit unumgänglich erforderlichen Brille in einem engeren ursächlichen Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit. Das Essen während der Arbeitspause ist in der Regel keine versicherte Tätigkeit, auch wenn der Weg zum Einnehmen von Mahlzeiten gegen Arbeitsunfall geschützt ist. Demgegenüber ist das Lesen für einen in der Rechnungsabteilung eines Unternehmens beschäftigten kaufmännischen Angestellten ein wesentlicher Teil seiner versicherten Tätigkeit, so daß es gerechtfertigt ist, das Holen der dazu benötigten, aber zu Hause vergessenen Brille nicht mehr den unversicherten Vorbereitungshandlungen zuzurechnen. Soweit die Klägerin den Versicherungsschutz im Revisionsverfahren auch deshalb verneint, weil R. infolge des Vergessens der Brille, ohne die er nicht arbeiten kann, aus eigenem Verschulden arbeitsunfähig war, könnte dieser Umstand gerade für einen Versicherungsschutz des R. auf dem Wege nach Hause sprechen. Denn es wäre nicht recht verständlich, daß ein Arbeitnehmer, der nach dem Erreichen des Unternehmens, in dem er beschäftigt ist, feststellt, daß er - aus welchen Gründen auch immer - arbeitsunfähig ist, auf dem Wege von dem Ort der Tätigkeit nach Hause unfallversicherungsrechtlich nicht geschützt sein sollte.
Da R. einen Arbeitsunfall erlitten hat, steht der Klägerin gegen die Beklagte kein Ersatzanspruch nach § 1509 a RVO zu. Ihre Revision mußte deshalb zurückgewiesen werden.
Eine Kostenentscheidung entfällt (§ 193 Abs. 4 SGG).
Fundstellen