Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 11.03.1991) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. März 1991 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).
Die 1963 in K. … /Sowjetunion geborene Klägerin hat dort nach einer zweijährigen Lehre als Konditorin bis zum Juni 1983 in diesem Beruf gearbeitet. Seit Juli 1983 lebt sie in der Bundesrepublik Deutschland. Sie besitzt einen von der Stadt K. … im Oktober 1983 ausgestellten Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge A und eine Bescheinigung von derselben Verwaltung vom August 1984, wonach sie als Heimkehrerin iS des § 1 Abs 3 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (Heimkehrergesetz ≪HKG≫) anerkannt ist. Für die Zeit vom 1. Juli 1980 bis 10. Juni 1983 erkannte die Beklagte 30 Beitragsmonate nach dem Fremdrentengesetz (FRG) an. Bis Ende März 1985 hatte die Klägerin unter Berücksichtigung von Ersatzzeiten insgesamt eine Versicherungszeit von 49 Kalendermonaten. Zu diesem Zeitpunkt erkrankte die Klägerin schwer. Sie leidet seitdem an einer psychischen Erkrankung, die bisher als Angstneurose und Entwurzelungssyndrom, als Psychose und als Prozeßpsychose bezeichnet wurde.
Im Oktober 1988 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Versichertenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei (Bescheid vom 9. Dezember 1988; Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 1989).
Der hiergegen von der Klägerin erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) stattgegeben und die Beklagte unter Aufhebung der genannten Bescheide verurteilt, der Klägerin ab 1. Oktober 1988 Rente wegen EU zu gewähren (Urteil vom 22. Mai 1990). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. März 1991): Die Klägerin sei zwar seit März 1985 erwerbsunfähig. Doch stehe ihr kein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen EU gemäß § 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu,
weil sie weder die nach § 1247 Abs 1 RVO erforderliche Wartezeit erfülle, noch zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit gemäß § 1247 Abs 2a iVm § 1246 Abs 2a RVO ausgeübt habe. Die Voraussetzungen der Wartezeitfiktion nach § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO seien in der Person der Klägerin nicht erfüllt, da sie die Zusatzvoraussetzungen des Art 2 § 10 Abs 2 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) nicht erfülle und im übrigen nicht verschleppt (§ 1252 Abs 1 Nr 5 RVO) worden sei. Die Fiktion der Wartezeiterfüllung nach § 1252 Abs 1 Nr 6 RVO greife ebenfalls nicht ein. Die EU der Klägerin sei allenfalls auf den Tatbestand der Aussiedlung, nicht aber auf eine Vertreibung oder Flucht zurückzuführen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision der Klägerin. Sie rügt eine Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. März 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen EU zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung über den Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen EU nicht aus.
Seit dem 1. Januar 1992 richten sich alle rentenrechtlichen Ansprüche grundsätzlich nach dem Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – (SGB VI). Das gilt selbst dann, wenn die Tatsachen, auf die sich der Anspruch gründet, zu einem Zeitpunkt eingetreten sind, zu dem noch anders lautendes Recht gegolten hat (§ 300 Abs 1 SGB VI). Ist aber der Anspruch auf die Leistung vor dem 1. Januar 1992 entstanden und ist der Antrag bis zum 31. März 1992 gestellt worden, sind die Vorschriften des alten Rechts anzuwenden (§ 300 Abs 2 SGB VI). Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist die Klägerin seit Ende März 1985 erwerbsunfähig und sie hat ihren Rentenantrag im Oktober 1988 gestellt. Bei Vorliegen der weiteren gesetzlichen Voraussetzungen beginnt die Rente damit am 1. Oktober 1988 (§ 1290 Abs 2 RVO). Damit sind die Vorschriften des alten Rechts anzuwenden.
Nach § 1247 Abs 1 RVO erhält die Klägerin Rente wegen EU, wenn sie erwerbsunfähig ist, zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat und die Wartezeit erfüllt hat. Aufgrund der Tatsachenfeststellungen des LSG, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), weil sie nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen sind, ist die Klägerin seit Ende März 1985 erwerbsunfähig. Gemäß § 1247 Abs 3 Satz 1 Buchst a RVO beträgt die Wartezeit 60 Kalendermonate. Nach den ebenfalls nicht angegriffenen Feststellungen des LSG hat die Klägerin bis zum Eintritt des Versicherungsfalls der EU eine Versicherungszeit von nur 49 Kalendermonaten zurückgelegt. Deshalb steht der Klägerin die Rente wegen EU nur zu, wenn die Wartezeit nach § 1252 RVO als erfüllt gilt und die EU auf Grund eines der dort genannten Tatbestände eingetreten ist (§ 1247 Abs 2a RVO iVm § 1246 Abs 2a Satz 1 Nr 2 RVO). Ob das der Fall ist, wird das LSG erneut zu prüfen haben. Insoweit sind noch Tatsachenfeststellungen nachzuholen.
Die Voraussetzungen des § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO können vorliegen. Die Anwendung der Wartezeitfiktion nach dieser Vorschrift auf die Klägerin scheitert entgegen der Auffassung des LSG nicht schon daran, daß gemäß Art 2 § 10 Abs 2 ArVNG die Vorschrift des § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO nur gilt, wenn der Internierte oder Verschleppte (§ 1 Abs 3 und 4 HKG) vor dem 10. August 1955 seinen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet oder im Land Berlin genommen hat oder vor dem 10. August 1955 gestorben ist (Urteil des Senats vom 27. Februar 1991 – 5 RJ 30/89 – in SozR 3-2200 § 1252 Nr 1). Hat der Versicherte nach dem 10. August 1955 seinen ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet oder im Land Berlin genommen oder ist er nach dem 10. August 1955 gestorben, so sollte § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO jedenfalls dann noch angewendet werden, wenn die Voraussetzungen des § 1 Häftlingshilfegesetz (HHG) vorlagen (Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, München, Stand: März 1991, RdNr 14 zu § 1252 RVO). Da Art 2 § 10 Abs 2 ArVNG selbst nicht geändert worden ist, sondern nur die Änderung des § 9a Abs 1 HHG die Aufgabe der Stichtagsregelung (10. August 1955) enthält, gilt § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO nur, wenn die Voraussetzungen des § 1 HHG erfüllt sind. Für Begünstigte nach dem HHG ist damit (schon vor Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes) die Stichtagsregelung des Art 2 § 10 Abs 2 ArVNG entfallen.
Das LSG wird deshalb zunächst zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen des § 1 Abs 5 iVm § 1 Abs 1 Nr 1 bzw Nr 2 HHG auf die Klägerin zutreffen. Dies könnte der Fall sein, wenn die Klägerin selbst in Gewahrsam genommen worden wäre oder aber ihre Eltern und wenn die Klägerin dieses „Gewahrsamsschicksal” geteilt hätte.
Falls die Klägerin unter § 1 HHG fallen sollte und damit § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO nicht schon aus den oben genannten zeitlichen Gründen ausscheidet, muß das LSG noch prüfen, ob die Klägerin interniert oder verschleppt war. Die Bindungswirkung der Heimkehrerbescheinigung macht diese Prüfung nicht überflüssig. Denn aufgrund der Heimkehrerbescheinigung steht nur fest, daß die Klägerin bis zum Juni 1983 an der Heimkehr gehindert war, nicht aber, daß eine Internierung oder Verschleppung vorgelegen hat (Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil des 4. Senats vom 28. November 1985 – 4a RJ 29/85 – in SozR 2200 § 1251 RVO Nr 117 S 329, 330). Letzteres ist vom Versicherungsträger selbständig zu prüfen.
Interniert ist, wer als Deutscher wegen seiner Volkszugehörigkeit oder Staatsangehörigkeit oder in unmittelbarem ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen von einer ausländischen Macht oder auf ihre Veranlassung in Gewahrsam gehalten wird, ohne als Angehöriger eines militärischen oder militärähnlichen Verbandes den Zwecken der Kriegsführung gedient zu haben und deshalb gefangengenommen worden zu sein (Eicher/Haase/Rauschenbach, aaO, RdNr 9 zu § 1251 RVO). Als verschleppt gilt, wer gegen seinen Willen in ein ausländisches Staatsgebiet verbracht worden ist und an seiner Rückkehr gehindert war (Eicher/ Haase/Rauschenbach, aaO, RdNr 10 zu § 1251 RVO; Kasseler Kommentar – Niesel, München, Stand: Oktober 1991, RdNr 57 zu § 1251 RVO). Dabei ist davon auszugehen, daß eine Internierung oder Verschleppung auch über die Jahre 1955/56 hinaus vorgelegen haben kann.
Soweit das LSG unter Bezugnahme auf die RdNr 12 zu § 1251 RVO im VDR-Kommentar feststellt, bei aus dem ehemaligen DDR-Gebiet ins Gebiet der Sowjetunion verschleppten „Rußlanddeutschen” liege nur für die Dauer des zwangsweisen Aufenthalts in Sondersiedlungen, der bis Ende 1955, Anfang 1956 gedauert habe, eine Internierung oder Gewahrsam vor, interpretiert es die Textstelle nicht richtig. Denn dort wird ausdrücklich davon ausgegangen, daß der Verschleppungstatbestand zeitlich länger vorliegen kann. Es heißt dort: „Darüber hinaus ist bis zur späteren Aussiedlung in die Bundesrepublik eine ‚Verschleppung’ iS des § 1251 Abs 1 Nr 2 gegeben”. Dies kann auch für die Klägerin gelten. Selbst wenn die Klägerin selbst nicht interniert oder verschleppt war,
reicht eine Internierung oder Verschleppung der Eltern aus, da die Klägerin insofern das Schicksal ihrer Eltern teilt.
Das BSG hat bereits mit Urteil vom 23. Juni 1965 (SozR Nr 13 zu § 1251 RVO) entschieden, daß auch ein deutscher Staatsangehöriger, der als Kind deutscher Eltern im Ausland geboren war, stets nur im Ausland gelebt hatte, während des Ersten Weltkrieges wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit im Ausland interniert gewesen und nach Kriegsende erstmals nach Deutschland gekommen war, durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr aus dem Ausland verhindert gewesen ist. Des weiteren hat der Senat mit Urteil vom 8. April 1987 – 5a RKn 13/86 – (SozR 2200 § 1251 RVO Nr 126) entschieden, daß eine Person, die wegen ihrer Geburt und ihres ausschließlichen Aufenthalts im Ausland im strengen sprachlichlogischen Sinne zwar nicht an der „Rückkehr” aus dem Ausland verhindert sein könne, gleichwohl die im Gebiet der Sowjetunion geborene und bis zu ihrer Übersiedlung in die Bundesrepublik in diesem Gebiet verbliebene Versicherte, in diesem Zeitraum nach Beendigung des Krieges, ohne Kriegsteilnehmerin zu sein, jedenfalls iS von § 51 Abs 1 Nr 3 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) im Ausland festgehalten worden ist.
Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) teilen diese Kinder das Schicksal ihrer Eltern. So hat das BVerwG mit Urteil vom 19. Juli 1961 – BVerwG V C 67/60 -(NJW 1961, Seite 2175 f.) zum Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz entschieden, daß die Kinder einer kriegsgefangenen Mutter dieser gleichgestellt seien. Dies ergebe sich daraus, daß die Mutter nach den Vorschriften als Kriegsgefangene gelte und daß die Kinder seit ihrer Geburt bis zur Ankunft im Bundesgebiet in der Obhut ihrer Mutter gewesen seien und sich mit ihr in Gewahrsam befunden hätten. Kinder, die das gleiche Schicksal wie ihre kriegsgefangenen oder als Kriegsgefangene geltenden Angehörigen erlitten hätten, teilten auch in rechtlicher Hinsicht deren Schicksal und seien deshalb je nach dem Status ihrer Angehörigen als echte oder unechte Kriegsgefangene anzuerkennen. Des weiteren hat das BVerwG zum HHG entschieden, daß das während des Gewahrsams geborene Kind das rechtliche Schicksal seiner Mutter als politischer Häftling ebenso teile, wie das während der Verschleppung geborene Kind die Rechtstellung seiner Eltern als echte oder unechte Kriegsgefangene teile (BVerwGE 19, 350, 353; BVerwG, Urteil vom 3. September 1980 – BVerwG 8 C 8.78 –, Buchholz, 412.6 § 1 HHG Nr 24).
Da das LSG mit der von ihm gegebenen Begründung den Internierungs- bzw Verschleppungstatbestand in § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO nicht verneinen konnte, wird es noch zu prüfen haben, ob die Klägerin iS von § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO interniert oder verschleppt war. Wenn die dargestellten Voraussetzungen erfüllt sind, wird das LSG weiter zu prüfen haben, ob die Internierung oder Verschleppung ursächlich war für den Eintritt des Versicherungsfalls der EU. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in der Rentenversicherung derselbe rechtliche Kausalitätsbegriff im Sinne der Lehre von der wesentlichen Bedingung (vgl BSG-Urteil vom 30. Oktober 1991 – 2 RU 41/90 – in SozR 3-2200 § 548 Nr 13) gilt wie in der Unfallversicherung (BSGE 38, 14, 16 = SozR 2600 § 45 RKG Nr 6; BSG in SozR 2200 § 1251 RVO Nr 6).
Durch „Gesetz zur Aufhebung des Heimkehrergesetzes und zur Änderung anderer Vorschriften” vom 20. Dezember 1991 (BGBl I 2317) ist das HKG allerdings außer Kraft gesetzt worden. Nach dem allgemein gültigen Versicherungsfallprinzip richten sich indessen Inhalt und Wirkung sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht, das zur Zeit des anspruchsbegründenden Ereignisses gegolten hat, sofern nicht später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß anderes bestimmt (allgemeine Meinung, vgl BSGE 44, 231, 232 = SozR 2200 § 1236 Nr 3; BSGE 45, 212, 214 = SozR 2200 § 182 Nr 29 mwN). Erst hinsichtlich der Einführung des neuen Rentenrechts durch das Rentenreformgesetz mit Wirkung vom 1. Januar 1992 ist das Versicherungsfallprinzip ersetzt worden durch das Leistungsbeginnprinzip (§ 300 Abs 1 SGB VI; Kasseler Kommentar – Niesel, aaO, vor § 300 SGB VI RdNr 2). Für die Sache der Klägerin, für die noch altes Recht anzuwenden ist, gilt damit noch das HKG.
Ob die Klägerin die Wartezeit nach § 1252 Abs 1 Nr 6 RVO erfüllt hat, läßt sich aufgrund der Feststellungen des LSG ebenfalls noch nicht entscheiden. Nach dieser Vorschrift gilt die Wartezeit als erfüllt, wenn der Versicherte als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling iS der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) durch Folgen der Vertreibung oder der Flucht berufsunfähig geworden oder gestorben ist. Diese Voraussetzungen können auf die Klägerin zutreffen.
Unschädlich ist, daß § 1252 Abs 1 RVO nach seinem Wortlaut die Berufsunfähigkeit (BU) der Versicherten voraussetzt, während die Klägerin erwerbsunfähig geworden ist. § 1252 RVO gilt auch für den Versicherungsfall der EU (BSG, Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1991 – 5 RJ 30/89 – SozR 3-2200 § 1252 RVO Nr 1). Aus der Entstehungsgeschichte des heutigen § 1252 RVO ergibt sich, daß das Nichterwähnen der EU auf einem redaktionellen Versehen beruht. Denn § 1252 des Regierungsentwurfes (BT-Drucks 2/2437 vom 5. Juni 1956 – heutiger § 1246 RVO) ging noch vom Versicherungsfall der Invalidität aus. Erst auf Initiative des Ausschusses für Sozialpolitik wurden BU und EU jeweils ein selbständiger Versicherungsfall (BT-Drucks 2/3080 vom 10. Januar 1957, S 34; Deutscher Bundestag 184. Sitzung vom 16. Januar 1957 Bl 10253, zu § 1251). Die entsprechende Änderung der Wartezeitfiktion des heutigen § 1252 (damals § 1257) RVO wurde aber vergessen, offenbar deshalb, weil der Ausschuß für Sozialpolitik auf diese Vorschriften überhaupt verzichten wollte (Deutscher Bundestag 184. Sitzung Bl 10254, zu § 1257). Es wäre im übrigen auch nicht nachvollziehbar, wenn nur berufsunfähige Versicherte in den Genuß der Wartezeitfiktion kämen, nicht aber diejenigen, die von dem schwereren Fall der EU betroffen und damit sogar schutzbedürftiger sind (BSG, Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1991 – aaO –).
Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist die Klägerin im Besitz eines Vertriebenenausweises A. Damit ist ihre Vertriebeneneigenschaft anerkannt. Soweit das LSG allein aus der Tatsache, daß der Klägerin der Vertriebenenausweis aufgrund von § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG (Aussiedlung) erteilt wurde, den Schluß zieht, die EU könne allenfalls kausal auf die Aussiedlung – nicht auf Vertreibung – zurückzuführen sein, verkennt es die Bindungswirkung des Vertriebenenausweises.
Entscheidend ist, daß die Klägerin den Vertriebenenausweis A erhalten hat. Gemäß § 15 Abs 5 Satz 1 BVFG ist die Entscheidung über die Ausstellung des Ausweises für alle Behörden und Stellen verbindlich, die für die Gewährung von Rechten oder Vergünstigungen als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling nach diesem oder einem anderen Gesetz zuständig sind. Zwar mag der Wortlaut dieser Vorschrift allein an eine Bindungswirkung nur hinsichtlich der Vertriebeneneigenschaft denken lassen, die Sinnauslegung gebietet es aber, auch die Voraussetzungen für die Feststellung der Vertriebeneneigenschaft – also die dieser zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen – in die Bindungswirkung mit einzubeziehen (Kasseler Kommentar – Niesel, aaO, RdNr 97 zu § 1251 RVO). Dementsprechend hat das BVerwG und ihm folgend der 4. Senat des BSG für den Anwendungsbereich der §§ 1 Buchst a, 15 Fremdrentengesetz ≪FRG≫ (SozR 5050 § 15 FRG Nr 34) in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die zum Nachweis der Vertriebeneneigenschaft ausgestellten Ausweise hinsichtlich der in ihnen getroffenen Feststellung auch für die Einbürgerungsbehörden verbindlich sind – und damit auch die deutsche Volkszugehörigkeit feststellen – (grundlegend: BVerwGE 34, 90, 91; zuletzt: BVerwG, Urteil vom 20. März 1990 – BVerwG 9 C 12.89 – Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des BVerwG – 412.3 § 18 BVFG Nr 14). Der erkennende Senat folgt dieser Rechtsprechung für den Anwendungsbereich des § 1252 Abs 1 Nr 6 RVO. Dies bedeutet: In der Erteilung des Vertriebenenausweises A, also der Anerkennung als Heimatvertriebener (vgl § 15 Abs 2 Nr 1 iVm § 2 BVFG), liegt zugleich die nach § 15 Abs 5 BVFG den Rentenversicherungsträger und damit auch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bindende Feststellung, daß die Versicherte aus einem der in § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG genannten Gebiete vertrieben worden ist. Denn auch im Falle des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG wird vorausgesetzt, daß die Aussiedlerin von Vertreibungsmaßnahmen betroffen wird, da diese Vorschrift die Gruppe der Nachzügler der durch allgemeine Vertreibungsmaßnahmen betroffenen deutschen Bevölkerung umfaßt. Vertreibungsmaßnahme ist der fortdauernde gegen die deutsche Bevölkerung gerichtete Vertreibungsdruck, der sich vor allem in der Vereinsamung der in dem von der deutschen Bevölkerung weitgehend entvölkerten Vertreibungsgebiet Zurückgebliebenen niederschlägt (BVerwGE 52, 167, 177). Das Gesetz unterstellt bei einem Deutschen, der das Vertreibungsgebiet verläßt, eine fortdauernde Bedrückung durch fortdauernden Vertreibungsdruck (BVerwGE 52, 167, 177, 178). Deshalb ist von einem Verlassen des Vertreibungsgebietes aus vertreibungsbedingten Gründen auszugehen (BVerwG, Urteil vom 20. März 1990 – aaO –).
Daraus, daß § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO – anders als § 1252 Abs 1 Nr 6 RVO – neben dem Begriff „Vertreibung” die Begriffe „Umsiedlung oder Aussiedlung” gesondert nennt, obwohl nach dem BVFG Umsiedlung und Aussiedlung von der „Vertreibung” mitumfaßt werden (§ 1 Abs 2 Nr 2 und 3 BVFG) ist nicht zu schließen, daß die §§ 1251, 1252 RVO einen vom BVFG abweichenden Begriff der „Vertreibung” kennen. Im BVFG hieß es ursprünglich: „Als Vertriebener gilt …”, wer „umgesiedelt worden ist” (Umsiedler), wer „nach Abschluß der allgemeinen Vertretungsmaßnahmen” im Gesetz im einzelnen aufgeführte Gebiete „verlassen hat oder verläßt” (Aussiedler) – BGBl I 1953, 203 –. Durch das Zweite Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Bundesvertriebenengesetzes vom 27. Juli 1957 (BGBl I 1957, 1207) wurde dieser Text geändert in „Vertriebener ist auch”. Daß auch Umsiedler und Aussiedler Vertriebene waren und sind, ist damit nicht geändert, sondern eher bekräftigt worden. Bis 1965 hieß es in § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO, Ersatzzeiten seien auch Zeiten der Vertreibung und Flucht. Durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (BGBl I 1965 S 476, 478 Art 1 § 1 Nr 15c) sind diesem Text die Worte „Umsiedlung” und „Aussiedlung” hinzugefügt worden. In der Bundesratsdrucksache 319/64 S 25 zu Nr 8 Buchst c heißt es: „Nach dem geltenden Recht werden die Zeiten der Vertreibung oder Flucht bei Personen im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes als Ersatzzeiten angerechnet. Durch die Ergänzung des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO sollen bei diesem Personenkreis auch die Zeiten einer Umsiedlung oder Aussiedlung … als Ersatzzeit angerechnet werden können”. Man ging also davon aus, daß diese Ergänzung erforderlich sei, um den Personenkreis der Umsiedler und der Aussiedler in die Vergünstigung einzubeziehen oder doch um klarzustellen, daß sie einbezogen seien. Inwiefern die Gesetzeslage damals zu Zweifeln hinsichtlich dieses Punktes Anlaß gegeben haben sollte, obwohl von jeher der Begriff der Vertreibung so gefaßt war, daß Umsiedlung und Aussiedlung Sonderfälle der Vertreibung waren, ist nicht ersichtlich. Erst recht bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß durch die ausdrückliche Einbeziehung von Umsiedlern und Aussiedlern in die Regelung des § 1251 Abs 1 Nr 6 RVO, eine Einbeziehung, die nach der schon damals gültigen Gesetzeslage ohnehin bestand, Umsiedler und Aussiedler in § 1252 Abs 1 Nr 6 RVO, also in einer anderen Vorschrift, aus dem Begriff der Vertriebenen ausgenommen werden sollten.
Das LSG wird daher die Vertreibung der Klägerin unter Zugrundelegung der dargelegten Grundsätze zu beachten und zu prüfen haben, ob für den Versicherungsfall der EU die Vertreibung ursächlich war. Auch insoweit ist – wie bereits zu § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO dargelegt – die Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung maßgebend.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen