Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Amtsermittlungspflicht des Gerichtes bei Nichtvernehmung eines Zeugen vom "Hörensagen"

 

Orientierungssatz

Sind über eine für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentliche Tatsache sonstige Beweismittel nicht vorhanden, so darf das Gericht von der Vernehmung selbst eines Zeugen "vom Hörensagen" nicht lediglich deshalb absehen, weil nach allgemeiner Erfahrung die Bekundungen eines solchen Zeugen nur von geringem Wert sind; mit einer solchen Erwägung würde das Gericht sowohl seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts verletzen als auch die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs 1 S 1 SGG), überschreiten (vgl BSG vom 31.8.1956 - 2 RU 7/54 = SozR Nr 15 zu § 128 SGG).

 

Normenkette

SGG § 103 S 1 Halbs 1, § 128 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 14.12.1988; Aktenzeichen L 13 An 38/86)

SG München (Entscheidung vom 11.12.1984; Aktenzeichen S 13 An 101/82)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob für die am 20. Juni 1923 in T.      /Polen geborene, als Verfolgte iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) sowie als Vertriebene (Vertriebenenausweis A) im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannte Klägerin die Zeit vom 1. August 1939 bis zum 30. Juli 1940 als Beitragszeit vorzumerken und die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) zuzulassen ist.

Nachdem die Klägerin im Dezember 1975 bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Beitragsnachentrichtung gemäß Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) beantragt hatte, erweiterte sie den Antrag im Oktober 1976 auf die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG. Gleichzeitig machte sie geltend, in Polen von August 1939 bis Dezember 1940 versicherungspflichtig beschäftigt und anschließend aus rassischen Gründen verfolgt gewesen zu sein. Im Fragebogen vom 12. August 1977 gab sie an, vom 1. August 1939 bis zum 30. Juli 1940 als Kontoristin bei der Tuchfabrik Ch. R.    AG in T. wöchentlich 50 Stunden gegen Bezüge von 600,-- Zloty monatlich gearbeitet zu haben (spätere Gehaltsangabe - erstmals im Schreiben vom 14. Mai 1980 - monatlich 280,-- Zloty). Der polnische Versicherungsträger teilte der Beklagten mit, für den fraglichen Zeitraum seien keine die Klägerin betreffenden Unterlagen vorhanden.

Mit dem streitigen Bescheid (1) vom 8. Februar 1979 merkte die Beklagte Ersatzzeiten vom 1. Dezember 1939 bis zum 31. Dezember 1945 (Verfolgung, Vertreibung) vor, lehnte es aber ab, die Zeit vom 1. August 1939 bis zum 30. Juli 1940 als Beitragszeit zu berücksichtigen, da sie vom polnischen Versicherungsträger nicht als Arbeitszeit im Sinne des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung (DPSVA) vom 9. Oktober 1975 (BGBl II 1976, 396) habe bestätigt werden können. Die Rücknahme dieses Bescheides lehnte sie gemäß § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) mit dem streitigen Bescheid (2) vom 7. April 1981 unter Hinweis auf Angaben der Klägerin gegenüber dem Bayerischen Landesentschädigungsamt aus dem Jahre 1957 ab, wonach sie nach September 1939 zwei Monate im elterlichen Geschäft verbracht und hernach einen Halbjahres-Kurs für Schneiderinnen besucht habe. Während die Beklagte mit einem Bescheid vom 31. August 1981 die Beitragsnachentrichtung für den Zeitraum Januar 1969 bis Dezember 1973 nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG gestattete, ließ sie mit einem weiteren streitigen Bescheid (3) gleichen Datums die Nachentrichtung nach §§ 10, 10a WGSVG wegen Fehlens einer unterbrochenen rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung nicht zu. Der Widerspruch gegen die Bescheide 2) und 3) blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 1982).

Das Sozialgericht München (SG) hat durch Urteil vom 11. Dezember 1984 die Beklagte verpflichtet, die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gemäß § 10a WGSVG zuzulassen; im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und in der angefochtenen Entscheidung vom 14. Dezember 1988 im wesentlichen ausgeführt: Die sozialversicherungsrechtliche Relevanz einer in Polen zurückgelegten Zeit bestimme sich gemäß Art 4 Abs 2 DPSVA nach polnischem Recht, wonach die in einem Arbeitsverhältnis gegen Entgelt zurückgelegten Beschäftigungszeiten als Arbeitszeiten anrechenbar seien. Für die Feststellung der Tatsachen genüge zwar die Glaubhaftmachung iS des § 4 des Fremdrentengesetzes (FRG; Hinweis auf Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 24. Juni 1987 in SozR 6710 Art 2 Nr 1); die widersprüchlichen Angaben der Klägerin seien aber nicht geeignet, das behauptete Beschäftigungsverhältnis als überwiegend wahrscheinlich anzusehen. Auch die vorgelegten Zeugenerklärungen (Frau W.      , Frau D.   und Frau S.       ) sowie die Erklärung des (späteren) Ehemannes der Klägerin sprächen dafür nicht. Aus diesen Gründen scheide auch eine Anrechnung nach §§ 16 oder 15 FRG sowie die Nachentrichtung nach § 10 WGSVG aus.

Die Klägerin rügt zur Begründung ihrer - vom Senat zugelassenen - Revision als Verfahrensfehler die Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG): Noch in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 14. Dezember 1988 sei der Antrag gestellt worden, sämtliche Zeugen, die in dem Verfahren von Bedeutung seien, zu vernehmen. Es handele sich um die Zeuginnen S.       , Haifa, und A.   , Tel-Aviv. Letztere habe der vorgelegten notariellen eidesstattlichen Versicherung vom 1. September 1988 vor dem Notar P.         in München zufolge sie - die Klägerin - bei der Arbeit in der Tuchfabrik Ch. R.    AG gesehen. Darauf sei das LSG nicht eingegangen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 8. Februar 1979, 7. April 1981 und 31. August 1981 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Januar 1982, des Urteils des Sozialgerichtes München vom 11. Dezember 1984 und des Urteils des Landessozialgerichtes München vom 14. Dezember 1988 zu verurteilen, die Zeit vom 1. August 1939 bis 30. Juli 1940, hilfsweise vom 1. August 1939 bis 30. September 1939 als Beitragszeit vorzumerken und die Nachentrichtung von Beiträgen gem. § 10 WGSVG zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des Berufungsgerichts sind verfahrensfehlerhaft zustandegekommen.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß sich die im Wege der Neufeststellung nach § 44 SGB X beantragte Vormerkung der geltend gemachten Versicherungszeit nach Art 4 Abs 2 DPSVA beurteilt. Danach berücksichtigt der Versicherungsträger, in dessen Gebiet der Berechtigte wohnt (hier: Bundesrepublik Deutschland), bei Feststellung der Rente nach den für ihn geltenden Vorschriften Versicherungszeiten im anderen Staat so, als ob sie im Gebiet des Wohnstaates zurückgelegt worden wären. Zwar wird der Rechtsstreit nicht um Rente oder deren Höhe geführt; gleichwohl gilt auch hinsichtlich der Vormerkung (Feststellung) von Versicherungszeiten (Beschäftigungszeiten) außerhalb des Leistungsverfahrens nichts anderes (vgl Art 6 der Durchführungsvereinbarung vom 11. Januar 1977, BGBl II 586, zum DPSVA). Da nach Art 2 Abs 1 des (deutschen) Zustimmungsgesetzes vom 12. März 1976 (BGBl II 393) zum DPSVA die nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigenden Zeiten gemäß Art 4 Abs 2 des Abkommens in demselben zeitlichen Umfang in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in entsprechender Anwendung des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93), dessen Art 1 das FRG umfaßt, zu berücksichtigen sind, ergibt sich daraus nicht nur die Berechtigung, solche Zeiten auch nach innerstaatlichem Recht außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens vorzumerken (vgl § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung -VuVO- vom 3. März 1960); dies bedeutet insbesondere auch, daß eine nach dem polnischen Recht der Rentenversicherung zu berücksichtigende Beschäftigungszeit im konkreten Einzelfall weder von der Anerkennung durch den polnischen Versicherungsträger noch vom vollen Nachweis abhängig ist, sondern daß für die Feststellung einer Beschäftigung nach Art 2 Abs 1 des Zustimmungsgesetzes iVm § 4 FRG die Glaubhaftmachung genügt (BSG, Urteil vom 24. Juni 1987 - 5a RKn 14/86 = SozR 6710 Art 2 Nr 1).

Das Berufungsgericht hat in Anwendung ausländischen Rechts und damit insoweit für den Senat bindend (§§ 162, 202 SGG iVm § 562 der Zivilprozeßordnung) ausgeführt, daß nach dem polnischen Gesetz vom 23. Januar 1968 über die allgemeine Rentenversorgung der Arbeitnehmer diejenigen Beschäftigungszeiten als Arbeitszeiten anrechenbar seien, die in einem Arbeitsverhältnis gegen Entgelt zurückgelegt wurden.

Hinsichtlich der Feststellung der hierfür erforderlichen Tatsachen ist von der Klägerin zutreffend eine Verletzung des § 103 SGG (hier: Satz 1, Halbsatz 1) gerügt worden. Das Berufungsgericht hat seine Amtsermittlungspflicht verletzt, indem es entgegen einem entsprechenden Beweisantrag die Zeugin A.    nicht hat vernehmen lassen. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG vom 14. Dezember 1988 haben die Prozeßbevollmächtigten der Beklagten und der Klägerin übereinstimmend (hilfsweise) den Antrag gestellt, "sämtliche Zeugen, die im Verfahren von Bedeutung sind, einzuvernehmen". Zuvor hatte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin in einem Schriftsatz vom 18. Dezember 1986 die Zeugin Frau Diana A.    zweimal als Zeugin benannt und in dem diesem Zeugenangebot vorausgehenden Vorbringen Einzelheiten des streitigen Beschäftigungsverhältnisses (Höhe des Entgelts) sowie der Arbeitgeberfirma, also insgesamt gesehen das Beweisthema umrissen. Im übrigen trifft es zu, daß das Berufungsgericht die Zeugin A.    zwar im Tatbestand seines Urteils, aber nicht in den Gründen erwähnt hat, obgleich der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin am 5. Dezember 1988 beim LSG eine eidesstattliche Versicherung eingereicht hatte, die von der in Tel-Aviv wohnenden Zeugin A.    vor einem Notar in München abgegeben worden war. Danach habe die Zeugin von ihrem Vater erfahren, daß die Klägerin, ihre Cousine, von Anfang August 1939 bis Mitte 1940 in der genannten Aktiengesellschaft gearbeitet habe, und auch sie selber - die Zeugin - habe die Klägerin dort arbeiten sehen.

Bei dieser Sachlage hat das LSG nicht mit dem Hinweis auf widersprüchliche Angaben der Klägerin von einer Vernehmung der Zeugin absehen dürfen; es hätte auch und gerade deshalb die Zeugin vernehmen (lassen) müssen. Sind nämlich über eine für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentliche Tatsache sonstige Beweismittel nicht vorhanden, so darf das Gericht von der Vernehmung selbst eines Zeugen "vom Hörensagen" nicht lediglich deshalb absehen, weil nach allgemeiner Erfahrung die Bekundungen eines solchen Zeugen nur von geringem Wert sind; mit einer solchen Erwägung würde das Gericht sowohl seine Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts verletzen als auch die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach freier Überzeugung zu entscheiden (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG), überschreiten (BSG in SozR Nr 9 zu § 103 SGG).

Das angefochtene Urteil kann auch auf dem Verfahrensmangel beruhen. Das hat die Revision dargetan. Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG als Tatsacheninstanz aufgrund der noch vorzunehmenden Beweisaufnahme und deren Würdigung zu einer anderen Beurteilung des geltend gemachten Anspruchs kommt.

Hiernach war der Rechtsstreit zurückzuverweisen, damit das LSG die versäumten Ermittlungen nachholen kann. Dabei dürfte es zweckmäßig sein, nicht nur die Zeugin A.    zu vernehmen, sondern auch andere noch lebende Personen, die bereits als Zeugen für das Beweisthema genannt worden sind - das gilt vor allem für den Ehemann der Klägerin - oder möglicherweise noch genannt werden.

Das Berufungsgericht wird in der das Verfahren abschließenden Entscheidung über die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660972

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