Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 02.07.1992) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 2. Juli 1992 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist die Gewährung einer Halbwaisenrente im Zugunstenwege.
Die im Dezember 1957 geborene Klägerin ist gesundheitsbedingt außerstande, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) gewährte ihr für die Zeit vom 28. Juni 1982 bis zum 31. Dezember 1982 Halbwaisenrente aus der Versicherung ihres am 28. Juni 1982 gestorbenen Vaters (Bescheid vom 27. Juli 1984). Den auf Weitergewährung über das 25. Lebensjahr hinaus gerichteten Widerspruch der Klägerin wies die BfA zurück (Widerspruchsbescheid vom 11. Dezember 1984). Im April 1989 beantragte die Klägerin sinngemäß, den Bescheid vom 27. Juli 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1984 insoweit zurückzunehmen, als darin die Gewährung der Halbwaisenrente über den 31. Dezember 1982 hinaus abgelehnt wurde, und diese Rente ab 1. Januar 1983 fortlaufend zu gewähren. Dies lehnte die BfA durch den streitigen Bescheid vom 26. Juni 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 1990 ab.
Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Kiel vom 5. März 1991; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Schleswig-Holstein vom 2. Juli 1992). Das Berufungsgericht ist folgender Auffassung: Die Entscheidungen der Beklagten stünden im Einklang mit § 44 Abs 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 40, 121 ff; ebenso im unveröffentlichten Beschluß vom 5. Mai 1981 – 1 BvR 1355/80) bestätigt. Nach eigener Prüfung des LSG sei zwar die von der Klägerin erhobene Rüge des Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes ≪GG≫) teilweise stichhaltig. Denn anders als das BVerfG sehe der Senat insoweit keinen unabweisbaren Typisierungsbedarf des Gesetzgebers. Dies sei jedoch nicht entscheidungserheblich, weil der Gesetzgeber einer eigenständigen Sozialleistung für Behinderte den Vorzug vor einem Wegfall der von der Klägerin beanstandeten Altersgrenze geben könne, ohne damit gegen Art 3 Abs 1 GG zu verstoßen. Außerdem obliege die zeitliche Planung der Verbesserungen der Stellung der besonders schwer Behinderten dem Gesetzgeber.
Zur Begründung der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der Vorlagepflicht aus Art 100 Abs 1 GG sowie die Verfassungswidrigkeit des § 44 Abs 1 AVG. Zwar habe das LSG die Unvereinbarkeit der Vorschrift mit Art 3 Abs 1 GG erkannt, die Entscheidungserheblichkeit und damit seine Vorlagepflicht jedoch falsch eingeschätzt. Im übrigen habe es die Entscheidung des BVerfG nicht richtig interpretiert. Entgegen den offensichtlich fehlerhaften Erwägungen des BVerfG könne die Ungleichbehandlung, welche die Menschenwürde der Klägerin verletze und mißachte, daß die Waisenrente vom Vater durch seine Lebensarbeit und seine Versicherungsbeiträge erarbeitet worden sei, nicht aus dem Grundsatz der Typisierung gerechtfertigt werden. Die Sozialhilfe habe völlig außer Betracht zu bleiben. Das BVerfG habe nur für die Situation des Jahres 1975 einen Verfassungsverstoß verneint, aber auf die allgemeine Entwicklung hingewiesen und damit zum Ausdruck gebracht, daß das für das Staatsvolk unerträgliche Gerechtigkeitsdefizit beseitigt werde. Nach allgemeinen Regeln habe der Gesetzgeber hierfür einen Zeitraum von zehn Jahren, der abgelaufen sei. Jede Altersbegrenzung in § 44 AVG sei willkürlich; der Gesetzgeber habe keine Freiheit in der Gestaltung einer Altersbegrenzung. Soweit das Bundessozialgericht (BSG; Urteil vom 12. März 1981 – 11 RA 12/80) keine verfassungsrechtlichen Bedenken gehabt habe, habe es verabsäumt, einen sachlichen Differenzierungsgrund für die Unterscheidung zwischen Waisen bis zum 25. Lebensjahr und älteren Waisen zu benennen. Ferner sei es im Widerspruch zum BVerfG von einer unzumutbaren Kostenlast für den Staat ausgegangen; hingegen habe das BVerfG darauf abgestellt, daß es nur wenige Fälle gebe, die vernachlässigt werden könnten. Schließlich habe das BSG verkannt, daß es nicht um eine bloße Interessenabwägung innerhalb der Versichertengemeinschaft gehe, sondern um die Verwirklichung des Sozialstaatsgebots in einer gesetzlichen Versicherung. Das weitere Vorbringen der Klägerin ergibt sich aus ihren Schriftsätzen vom 28. Juli 1992, vom 18. August 1992 und vom 9. Oktober 1992 (Bl 16 bis 20, 24, 31 bis 34 der Streitakte des BSG).
Die Klägerin beantragt,
- das angefochtene Urteil des LSG Schleswig vom 2. Juli 1992 und das Urteil des SG Kiel vom 5. März 1991 aufzuheben,
- den Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. März 1990 aufzuheben,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin unter Rücknahme des Bescheides vom 27. Juli 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1984 ab 1. Januar 1983 Waisenrente zu gewähren,
hilfsweise,
das Verfahren auszusetzen und die Sache gemäß Art 100 Abs 1 GG dem BVerfG vorzulegen,
- der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält § 44 Abs 1 Satz 2 AVG für verfassungsgemäß. Den ausdrücklich als nur rechtspolitisch bezeichneten Bedenken des BVerfG habe der Gesetzgeber in § 48 Abs 4 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) Rechnung getragen, indem er die Altersgrenze auf 27 Jahre angehoben habe. Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten wird auf deren Schriftsatz vom 18. September 1992 (Bl 27 bis 30 der Streitakte des BSG) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Die Beklagte hat mit dem streitigen Bescheid zu Recht abgelehnt, die bereits 1984 ausgesprochene Ablehnung der Gewährung einer Halbwaisenrente über den 31. Dezember 1982 hinaus zurückzunehmen. Der Klägerin steht seit diesem Zeitpunkt kein Anspruch auf diese Rente mehr zu.
Die Beklagte war nach § 44 Abs 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) nicht verpflichtet, den Bescheid vom 27. Juli 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1984 zurückzunehmen, weil dieser im Zeitpunkt seines Erlasses der Sach- und Rechtslage entsprach, also nicht rechtswidrig war. Vorab ist klarzustellen, daß die Klägerin für den Zeitraum vom 1. Januar 1983 bis zum 31. Dezember 1984 die begehrte Rücknahme dieser Entscheidung und die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der Halbwaisenrente schon deswegen nicht beanspruchen kann, weil gemäß § 44 Abs 4 SGB X Sozialleistungen nach Rücknahme eines entgegenstehenden Verwaltungsaktes „längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren” vor Beginn des Jahres erbracht werden dürfen, in dem der Antrag auf Rücknahme des ablehnenden Bescheides gestellt worden ist. Soweit ein Antragsteller aber gemäß § 44 Abs 4 SGB X keine Leistungen mehr für die Vergangenheit erhalten darf, hat er auch kein rechtliches Interesse an der Rücknahme (BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 1). Weil die Klägerin im Dezember 1984 auch das 27. Lebensjahr vollendet hatte, ist allein schon aus diesem Grunde nicht darauf einzugehen, daß ihr Halbwaisenrente für die Zeit ab Januar 1985 auch nach § 48 Abs 4 Nr 2 Buchst b SGB VI nicht zu zahlen ist, der gemäß § 300 Abs 2 SGB VI aus Gründen seines zeitlichen Geltungsbereichs nicht anwendbar ist (§ 304 SGB VI betrifft – wie die Beklagte zutreffend vorträgt ≪vgl auch Emmerich in GK-SGB VI, § 304 Rz 2 bis 5; BSG SozR 5770 Art 2 § 31 Nr 1≫ – nur bestimmte Übergangsrenten nach Saarländischem Recht). Nach dieser am 1. Januar 1992 in Kraft getretenen Vorschrift besteht der Anspruch ua auf Halbwaisenrente längstens (grundsätzlich) bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (Nr 1 aaO), darüber hinaus (Nr 2 aaO) bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres nur, wenn die Waise sich in Schulausbildung oder Berufsausbildung befindet oder ein freiwilliges Soziales Jahr iS des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen Sozialen Jahres leistet oder wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Der hier anzuwendende § 44 Abs 1 Satz 2 AVG unterscheidet sich von § 48 Abs 4 Nr 2 SGB VI rechtlich nur dadurch, daß diese Rente höchstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt werden kann. Nach alledem haben die Vorinstanzen zutreffend erkannt, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch nicht erfüllt sind, weil die Klägerin bereits mit Ablauf des 31. Dezember 1982 aus der Waisenrentenberechtigung ausgeschieden war.
Das BVerfG (E 40, 121, 131 ff = SozR 2400 § 44 Nr 1) hat im einzelnen aufgezeigt, weshalb § 44 Abs 1 Satz 2 AVG im Blick auf die Waisen, die gesundheitsbedingt außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, weder gegen Art 6 Abs 1 GG noch gegen Art 3 Abs 1 GG iVm dem Sozialstaatsprinzip verstößt. Den überzeugenden Ausführungen des BVerfG tritt der erkennende Senat in vollem Umfang bei. Die Einwendungen des Klägers gegen die den Senat bindenden (§ 31 Abs 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes) tragenden Ausführungen des BVerfG beruhen weder auf neuen gesellschaftlichen oder rechtlichen Entwicklungen, die es rechtfertigen könnten, die Frage der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift erneut dem BVerfG vorzulegen, noch auf einer zutreffenden Interpretation der Ausführungen des BVerfG. Daß die Erwägungen des Klägers auf Mißverständnissen beruhen, zeigt auch der klarstellende Beschluß des BVerfG vom 5. Mai 1981 – 1 BvR 1355/80. Insbesondere ergibt sich aus der Entscheidung des BVerfG (E 40, 121, 135; vgl zum Problembereich auch BVerfGE 43, 13 = SozR 2200 § 1280 Nr 1; BVerfGE 28, 324 = SozR Nr 10 zu Art 6 GG; ferner BSGE 52, 237 = SozR 2200 § 1267 Nr 25; SozR 2200 § 1267 Nr 24) der vom Kläger vermißte Sachgrund für die Unterscheidung zwischen Waisen von noch nicht 25 Jahren und älteren Waisen. Das Gesetz gewährt nämlich Waisenrente grundsätzlich nur bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres, weil Waisen dieser Altersgruppe sich bis auf wenige Ausnahmen noch in der Schul- oder Berufsausbildung befinden und deswegen ihren Unterhalt nicht selbst bestreiten können. Es bildet aber nach den heutigen sozialen Verhältnissen nicht mehr die Regel, daß jemand bereits mit 18 Jahren seine Berufsausbildung abgeschlossen hat und im Erwerbsleben steht. Deswegen wird Waisenrente über diese Altersgrenze hinaus bis zum vollendeten 25. (jetzt: 27.) Lebensjahr gewährt, wenn nachgewiesen wird, daß die Waise sich noch in der Ausbildung befindet oder das freiwillige Soziale Jahr leistet. Ist hingegen jemand nach Vollendung des 18. Lebensjahres gesundheitsbedingt außerstande, sich durch Erwerbstätigkeit selbst zu unterhalten, und kann er deshalb auch keine Schul- oder Berufsausbildung durchlaufen, versagt ihm das Gesetz die Halbwaisenrente dennoch nicht. Im Wege der (typisierend) gleichstellenden Begünstigung wird diese Waise so gestellt, als sei sie nicht gesundheitsbedingt verhindert, sich bis zum 25. (jetzt: 27.) Lebensjahr auf einen Beruf vorzubereiten.
Nach alledem konnte die Revision der Klägerin keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen