Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufklärung der Bevölkerung über befristetes Recht zur Nachentrichtung. Herstellungsanspruch

 

Orientierungssatz

1. Der Herstellungsanspruch setzt grundsätzlich die Verletzung einer dem einzelnen gegenüber bestehenden Pflicht des Sozialleistungsträgers voraus, so daß die Verletzung einer nur im öffentlichen Interesse bestehenden Verpflichtung, hier die Aufklärung der Bevölkerung über ein befristetes Recht zur Beitragsnachentrichtung, im allgemeinen nicht ausreicht, einen Herstellungsanspruch zu begründen (vgl BSG vom 21.6.1990 - 12 RK 27/88 = SozR 3 - 1200 § 13 Nr 1).

2. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt bei der Versäumung der Antragsfrist für die Zulassung zur Beitragsnachentrichtung jedenfalls dann grundsätzlich nicht in Betracht, wenn der Antrag um mehr als zwei Jahre verspätet gestellt worden ist.

 

Normenkette

SGB 1 § 13; AnVNG Art 2 § 49a Abs 3 S 1; ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 1; SozSichAbk ISR Art 3 Abs 1; SozSichAbkDVbg ISR Art 12 S 1; SozSichAbkDVbg ISR Art 12 S 3; SGB 10 § 27 Abs 3

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 04.12.1987; Aktenzeichen L 1 An 233/86)

SG Berlin (Entscheidung vom 04.11.1986; Aktenzeichen S 5 An 2582/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung berechtigt ist. Er ist 1923 geboren, israelischer Staatsangehöriger und lebt in Israel. Am 28. Oktober 1985 beantragte er bei der Beklagten die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 12 der Durchführungsvereinbarung (DV) zum Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (DISVA). Wegen des Ablaufs der Antragsfrist beantragte er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hilfsweise machte er einen "Herstellungsanspruch" im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geltend. Er habe seinerzeit von einem Verwandten die unzutreffende Auskunft erhalten, keine Möglichkeit der Nachentrichtung zu besitzen.

Mit Bescheid vom 22. April 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 1986 lehnte die Beklagte die Anträge des Klägers ab. Die Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts vom 4. November 1986). Das Landessozialgericht hat mit Urteil vom 4. Dezember 1987 die Berufung des Klägers mit der Begründung zurückgewiesen, die Antragsfrist sei versäumt und Wiedereinsetzung oder Nachsicht sei nicht zu gewähren gewesen. Auch die Voraussetzungen für einen Herstellungsanspruch lägen nicht vor.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat zugelassene Revision des Klägers, mit welcher dieser geltend macht, er habe vor Fristablauf von seinem Nachentrichtungsrecht und den dafür laufenden Fristen Kenntnis weder gehabt noch erlangen können. Insoweit liege ein Fall höherer Gewalt vor, der die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ohne zeitliche Begrenzung rechtfertige. Jedenfalls aber habe seine Unkenntnis von seinem Nachentrichtungsrecht darauf beruht, daß die Beklagte ihre Pflicht zur allgemeinen Aufklärung nach § 13 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) vernachlässigt habe. Eine derartige Pflichtverletzung begründe einen "Herstellungsanspruch". Dies gelte auch dann, wenn in Israel eine andere Behörde oder Dienststelle die Aufklärungspflichten der Beklagten habe erfüllen müssen. Die israelische Nationalversicherungsanstalt habe kaum etwas veröffentlicht und die Deutsche Botschaft in Tel Aviv überhaupt keine einschlägigen Hinweise erteilt. Die von bestimmten Verbänden, die sich mit Ansprüchen dieser Art befaßten, veröffentlichten Hinweise seien unzureichend und verwirrend gewesen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Dezember 1987 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 1986 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 22. April 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 1986 zu verurteilen, ihn zur Nachentrichtung von Beiträgen nach Art 12 DV/DISVA zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie räumt zwar ein, grundsätzlich auch zur Aufklärung von Ausländern im Ausland verpflichtet zu sein. Hier sei diese Verpflichtung jedoch der israelischen Nationalversicherungsanstalt als Verbindungsstelle im Sinne des DISVA übertragen gewesen. Trotzdem habe sie freiwillig auch eigene Aufklärungsmaßnahmen in Israel durchgeführt, insbesondere zusammen mit der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz umfangreiches Informationsmaterial nach Israel gesandt. Daß die Kenntnis des Nachentrichtungsrechts nach Art 12 DV/DISVA dort verbreitet gewesen sei, zeigten die ca 37000 von dort eingegangenen entsprechenden Anträge. Aber selbst eine etwaige Verletzung der Aufklärungspflicht könne jedenfalls in der Regel keinen Herstellungsanspruch begründen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen den Kläger im Einklang mit den angefochtenen Bescheiden der Beklagten nicht für berechtigt gehalten, nach Art 12 DV/DISVA Beiträge nachzuentrichten.

In der deutschen Angestelltenversicherung konnten nach Maßgabe der Abs 2 und 3 des Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Personen, die nach § 10 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zur freiwilligen Versicherung berechtigt waren, auf Antrag Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 1956 bis zum 31. Dezember 1973 nachentrichten. Diese Regelung war durch Art 2 § 2 Nr 14 des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) eingeführt worden und am 19. Oktober 1972 in Kraft getreten. Da die Frist für den Antrag auf Nachentrichtung am 31. Dezember 1975 ablief (Art 2 § 49a Abs 3 Satz 1 AnVNG), stand den nach § 10 AVG idF des RRG zur freiwilligen Versicherung Berechtigten, dh im wesentlichen allen Personen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland sowie Deutschen im Ausland, für die Antragstellung ein Zeitraum von mehr als drei Jahren zur Verfügung. Israelische Staatsangehörige, die sich gewöhnlich in Israel aufhielten, wurden deutschen Staatsangehörigen durch Art 3 Abs 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (DISVA) vom 17. Dezember 1973 (BGBl 1975 II 246) gleichgestellt und damit ebenfalls nachentrichtungsberechtigt. Ihnen stand jedoch, weil das Abkommen laut Bekanntmachung vom 2. April 1975 (BGBl 1975 II 443) erst am 1. Mai 1975 in Kraft trat, für eine rechtzeitige Antragstellung bis zum 31. Dezember 1975 nur ein Zeitraum von acht Monaten zur Verfügung. Doch wurde ihnen in Art 12 Satz 1 der Durchführungsvereinbarung (DV) vom 20. November 1978 (BGBl 1980 II 575) zum Abkommen erneut ein Nachentrichtungsrecht entsprechend den genannten Vorschriften eingeräumt. Der Antrag war nach Art 12 Satz 3 DV/DISVA binnen drei Jahren nach dem Inkrafttreten der DV/DISVA zu stellen. Damit war gewährleistet, daß den israelischen Staatsangehörigen in Israel ein etwa gleichlanger Antragszeitraum zur Verfügung stand wie den schon seit Oktober 1972 zur Beitragsnachentrichtung berechtigten Personen. Da die DV/DISVA laut Bekanntmachung vom 1. Juli 1980 (BGBl 1980 II 851) am 12. Juni 1980 in Kraft trat, endete die Antragsfrist am Montag, dem 13. Juni 1983.

Der Kläger hat diese Frist versäumt. Er hat den Antrag erst am 28. Oktober 1985 und damit um mehr als zwei Jahre verspätet gestellt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ihm deswegen nicht zu gewähren. Auch wenn die Wiedereinsetzungsregelung des § 27 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) auf die Antragsfrist anzuwenden wäre (vgl dazu BSGE 64, 153 = SozR 1300 § 27 Nr 4), konnte im Oktober 1985 die Wiedereinsetzung nicht mehr mit Erfolg beantragt und auch die versäumte Antragstellung nicht mehr nachgeholt werden, weil seit dem Ende der Frist am 13. Juni 1983 mehr als ein Jahr verstrichen war. Dem in Haifa lebenden Kläger war ein Antrag auf Wiedereinsetzung oder Nachentrichtung vor Ablauf der Jahresfrist auch nicht infolge höherer Gewalt unmöglich (vgl § 27 Abs 3 SGB X); denn seine Unkenntnis von der Regelung in Art 12 DV/DISVA wäre bei Anwendung der ihm zuzumutenden größtmöglichen Sorgfalt vermeidbar gewesen. Auch eine Nachsichtgewährung kommt bei einer Versäumung der Frist um mehr als ein Jahr hier nicht in Betracht (BSG SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 49), sofern für sie neben einer Anwendung des § 27 SGB X auf Antragsfristen überhaupt noch Raum sein sollte.

Dem Kläger ist das durch die Versäumung der Frist ausgeschlossene Nachentrichtungsrecht auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs wiedereinzuräumen. Es ist davon auszugehen, daß der Kläger sich erstmals mit dem Antrag vom Oktober 1985 an einen deutschen Rentenversicherungsträger gewandt hat, vorher also keine Verbindung zur deutschen Rentenversicherung hatte. Die Verletzung eines Anspruchs auf Beratung nach § 14 SGB I oder auf Auskunft nach § 15 SGB I scheidet damit von vornherein aus. Für eine fehlerhafte Beratung durch Privatpersonen - etwa durch Verwandte, die dem Kläger angeblich unzutreffende Auskünfte erteilt haben - braucht die Beklagte nicht einzustehen.

Soweit der Kläger geltend macht, er habe von seinem Recht zur Beitragsnachentrichtung innerhalb der Frist keine Kenntnis gehabt, weil die Beklagte die Bevölkerung in Israel nicht hinreichend aufgeklärt habe, begründet dieses Vorbringen, selbst wenn die Beklagte zur Aufklärung in Israel verpflichtet gewesen sein sollte und sie diese Pflicht verletzt hätte, keinen Anspruch des Klägers, so gestellt zu werden, als hätte er die Beitragsnachentrichtung rechtzeitig beantragt (Herstellungsanspruch). Denn einerseits setzt der Herstellungsanspruch grundsätzlich die Verletzung einer dem einzelnen gegenüber bestehenden Pflicht des Sozialleistungsträgers voraus, so daß die Verletzung einer nur im öffentlichen Interesse bestehenden Verpflichtung im allgemeinen nen nicht ausreicht, einen Herstellungsanspruch zu begründen. Allenfalls die Verletzung einer derartigen Verpflichtung könnte hier vorliegen. Denn die in § 13 SGB I verankerte Aufgabe der Leistungsträger - und damit auch der Einzugsstellen -, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bevölkerung über Rechte und Pflichten nach dem SGB - und damit möglicherweise auch über den Inhalt von Sozialversicherungsabkommen - aufzuklären, besteht keiner bestimmten Person, sondern einer unbestimmten Vielzahl von Personen gegenüber, die als solche nicht Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Bereits dieser Gesichtspunkt führt für den Regelfall zur Verneinung eines Herstellungsanspruchs. Daß hier einer der möglichen Ausnahmefälle vorliege, etwa daß die Beklagte oder eine für sie handelnde Behörde falsche oder irreführende Hinweise verbreitet habe, hat der Kläger selbst nicht vorgetragen. Im übrigen würde die Sanktionierung einer Verletzung der allgemeinen Aufklärungspflicht iS des § 13 SGB I durch Herstellungsansprüche für den Bereich des Sozialrechts zu einer Aushöhlung des "formellen Publizitätsprinzips" führen, wonach ordnungsgemäß verkündete Gesetze grundsätzlich allen Normadressaten als bekannt gelten, ohne Rücksicht darauf, ob und wann sie tatsächlich davon Kenntnis erlangt haben. Ebenso würden die zahlreichen für den Ablauf von Ausschlußfristen und die für ihre Wiedereinsetzung geltenden Vorschriften für das Gebiet des Sozialrechts an Bedeutung verlieren, wollte man dort im Ergebnis die Wirkung des Fristablaufs davon abhängig machen, ob die von ihr Betroffenen von Beginn und Dauer der Frist sowie den an ihren Ablauf geknüpften Rechtsfolgen Kenntnis hatten. Im einzelnen verweist der Senat auf die eingehende Begründung seiner am 21. Juni 1990 in einer ähnlich gelagerten Streitsache ergangene Entscheidung (12 RK 27/88), die zur Veröffentlichung vorgesehen ist.

Nach allem erwies sich die Revision des Klägers als unbegründet und war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650951

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