Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 09.01.1990) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 1990 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger für ein Kind, das in Rumänien Pflichtwehrdienst abgeleistet hat, das Ausbildungskindergeld gemäß § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 iVm § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) über das 27. Lebensjahr hinaus zusteht.
Der Kläger ist im Januar 1985 mit seiner Familie, zu der auch der am 8. Oktober 1960 geborene Sohn Horst-Michael gehört, aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt. Horst-Michael O … hat vom 18. März 1980 bis 30. Juni 1981 Pflichtwehrdienst in Rumänien geleistet. Vom 1. Oktober 1986 an studiert er Elektrotechnik an der Technischen Hochschule Aachen.
Die Beklagte gewährte dem Kläger zunächst das Kindergeld unter Berücksichtigung des Kindes Horst-Michael. Mit dem Bescheid vom 19. November 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Dezember 1987 entzog sie jedoch dem Kläger das Kindergeld ab November 1987 mit der Begründung, Horst-Michael habe im Oktober 1987 das 27. Lebensjahr vollendet. Die Ausnahmevorschrift des § 2 Abs 2 Satz 2 Nr 1 BKGG finde auf ihn keine Anwendung.
Das Sozialgericht (SG) Aachen hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte ferner antragsgemäß verurteilt, dem Kläger für die Zeit von November 1987 bis Februar 1989 Kindergeld für Horst-Michael zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die – vom SG zugelassene – Berufung der Beklagten den Leistungsanspruch auf die Zeit bis Januar 1989 begrenzt und im übrigen die Berufung zurückgewiesen: Das Kindergeld für das Kind Horst-Michael sei auch für die Zeit von November 1987 bis Januar 1989 zu gewähren. Gesetzlicher Grundwehrdienst iS des § 2 Abs 3 Nr 1 BKGG sei nicht nur der Dienst in der Bundeswehr, sondern auch der Pflichtwehrdienst in der rumänischen Armee. Allerdings verlängere sich die Bezugszeit des Kindergeldes hierdurch nur um 15 Monate.
Die Beklagte begründet ihre – vom LSG zugelassene – Revision damit, daß die in § 2 Abs 3 Satz 2 BKGG geregelte Berücksichtigung von Kindern über das 27. Lebensjahr hinaus nicht für solche Kinder gelte, die den Wehrdienst in Rumänien abgeleistet haben. Der Begriff „gesetzlicher Grundwehrdienst” richte sich ausschließlich nach den Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes – WPflG- (idF der Bekanntmachung vom 13. Juni 1986 – BGBl I 879 –). Da Horst-Michael O … keinen Wehrdienst iS des § 8 des WPflG geleistet habe, gehöre er auch nicht zu den in § 2 Abs 3 Satz 2 BKGG privilegierten Kindern.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Januar 1990 sowie das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 8. März 1989, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Der Senat hat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger für Horst-Michael O … das Kindergeld auch während der streitigen Zeit zustand.
Nach den das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG hatten der Kläger und sein Sohn Horst-Michael ihren Wohnsitz bis Anfang Januar 1985 in Rumänien. Den ebenfalls bindenden Tatsachenfeststellungen zufolge leistete Horst-Michael O … von März 1980 bis Juni 1981 Pflichtwehrdienst in Rumänien. Demgemäß kann der Kläger das verlängerte Ausbildungskindergeld (§ 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG) über das vollendete 27. Lebensjahr hinaus nur unter den Voraussetzungen des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG – die Unterfälle des § 2 Abs 3 Satz 2 Nrn 2 und 3 BKGG haben von vornherein nicht vorgelegen – zustehen.
Entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht entspricht zunächst ihre Auslegung des in § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG enthaltenen Begriffes „gesetzlicher Grundwehrdienst” nicht der Zielsetzung dieser Regelung. Diese am Wortlaut dieser Vorschrift orientierte Inhaltsbestimmung wäre nur gerechtfertigt, wenn der Rechtsbegriff „gesetzlicher Grundwehrdienst” nur nach den Vorschriften des Wehrpflichtgesetzes zu bestimmen wäre. Das hätte, wie die Beklagte zu Recht annimmt, zur Folge, daß der aufgrund ausländischer gesetzlicher Vorschriften im Ausland abgeleistete Pflichtwehrdienst zwangsläufig nicht zur Verlängerung der Kindergeld-Bezugszeiten nach Maßgabe des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG führen würde. Eine derartige Schlußfolgerung ist aber nicht gerechtfertigt. Es kann dahingestellt bleiben, ob, wie das LSG meint, in Fällen dieser Art die Berücksichtigung des im Ausland abgeleisteten Pflichtwehrdienstes nach Maßgabe des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG schon deshalb erforderlich ist, weil der Bundesminister der Verteidigung in Fällen dieser Art auf Antrag gemäß § 8 Abs 2 WPflG einen solchen Wehrdienst noch nachträglich auf die in Deutschland abzuleistende Wehrdienstzeit anrechnet. Eine positive Entscheidung gemäß § 8 Abs 2 WPflG mag neben der wehrdienstrechtlichen Bedeutung auch Rechtswirkungen für den Bereich des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG entfalten (vgl dazu für einen Doppelstaater: Erkennender Senat, Urteil vom 16. 11. 1984 – 10 RKg 11/83 –, SozR 5870 § 2 Nr 37). Die letztgenannte Rechtsfolge tritt aber auch ohne eine Entscheidung des Bundesverteidigungsministers iS des § 8 Abs 2 WPflG ein. Denn der Leistungspflichtige kann sich der Wehrdienstpflicht, die er aufgrund gesetzlicher Vorschriften des Aufenthaltsstaates abzuleisten hat, nicht entziehen. Der von ihm geleistete Dienst ist mithin gesetzlicher Grundwehrdienst iS des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG. Daraus folgt zugleich, daß die Privilegierung nach Maßgabe dieser Vorschrift auch für Zeiten der Zurücklegung des gesetzlichen Grundwehrdienstes im Ausland gilt.
Nur diese Abgrenzung des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG ist auch mit der Zielsetzung der Vorschrift des § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG vereinbar. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift werden zwar nur Kinder, die immer in einem der dort genannten Staaten gelebt haben und noch leben, nach dem BKGG berücksichtigt. Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß die in § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG für die Kindergeldgewährung über das 27. Lebensjahr hinaus geschaffene Regelung nur anzuwenden ist, wenn die Kinder auch im Zeitpunkt der Erfüllung des Sondertatbestandes des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG – hier: Vollendung des 27. Lebensjahres – noch in einem der in § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG genannten Staaten leben. Vielmehr erfordern Sinn und Zweck der in § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG getroffenen Regelung eine weitergehende Abgrenzung des Normgehalts. Denn bei einer wortlautentsprechenden Auslegung würde sich die Erfüllung der Voraussetzungen eines der Sondertatbestände des § 2 Abs 3 BKGG durch ein volksdeutsches Kind in seinem Aufenthaltsland – hier: die Ableistung des rumänischen Wehrdienstes durch den volksdeutschen Sohn des Klägers in Rumänien – nur dann zugunsten des Kindergeldberechtigten auswirken, wenn das Kind, das die Voraussetzungen des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG erfüllt, nach der Ableistung seines Wehrdienstes nicht in den Geltungsbereich des BKGG übersiedelt. Die in § 2 Abs 5 BKGG getroffene Regelung muß daher so verstanden werden, daß, soweit die Voraussetzungen des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG unter den in § 2 Abs 5 BKGG geregelten Besonderheiten erfüllt werden, auch die Leistungsvoraussetzungen des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG erfüllt sind. Das bedeutet hier, daß der Sohn des Klägers, der als Volksdeutscher bis zu seiner Umsiedlung in Rumänien gelebt hat und dort auch vor der Umsiedlung seinen gesetzlichen Wehrdienst abgeleistet hatte, gewissermaßen bereits mit der Anwartschaft auf spätere Gewährung des Ausbildungskindergeldes über das 27. Lebensjahr hinaus umgesiedelt ist. Denn – wie der erkennende Senat bereits in dem Urteil vom 30. Mai 1990 – 10 RKg 9/89 – (SozR 3-5870 § 2 Nr 6) dargelegt hat -die Lebenssituation der von § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG erfaßten Kinder kann für die Zeit ihres Aufenthalts im Ausland nur mit den Maßstäben gemessen werden, die auch den Besonderheiten ihrer dortigen Lebensverhältnisse entsprechen. § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG erfordert demgemäß, sowohl den Begriff des „Geltungsbereiches” des BKGG iS des § 2 Abs 4 Satz 1, erster Halbsatz BKGG als auch den des „gesetzlichen Wehrdienstes” iS des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG bei einem unter § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG fallenden – hier in Rumänien wohnhaft gewesenen – Kind unter Beachtung der Lebensverhältnisse abzugrenzen, die noch rechtliche Nachwirkungen für die entscheidungserhebliche Zeit haben (vgl dazu auch erkennender Senat, Urteil vom 30. Mai 1990 aa0). Da nach der Zielsetzung des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG alle Kinder berücksichtigt werden sollen, die nach den gesetzlichen Vorschriften ihres jeweiligen Aufenthaltsstaates Wehrdienst geleistet haben, und die deshalb auch nach ihrer Umsiedlung von den Eltern länger unterhalten werden müssen als Kinder, die eine derartige Dienstpflicht nicht erfüllt haben, ist es zu eng, als Kinder iS des § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG nur diejenigen zu erfassen, die im Bundesgebiet oder in Westberlin einen Dienst iS des § 2 Abs 3 Satz 2 BKGG geleistet haben und die deshalb ihre Berufsausbildung nicht innerhalb des vom Gesetzgeber als angemessen angesehenen Ausbildungszeitraumes (§ 2 Abs 3 Satz 1 BKGG) abschließen konnten. Das gilt jedenfalls für die Kinder, die unter § 2 Abs 5 BKGG fallen oder zeitweilig gefallen sind. Demgemäß beruht die Verzögerung der Ausbildung wegen der Ableistung des Wehrdienstes bei Horst-Michael O … auf dem gleichen Rechtsgrunde, der für die in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsenen Kinder den Anwendungsfall des § 2 Abs 3 Satz 2 Nr 1 BKGG rechtfertigt. Das LSG hat – auch rechnerisch zutreffend -daher zu Recht entschieden, daß sich die Kindergeldbezugszeit für den Kläger jedenfalls bis einschließlich Januar 1989 verlängert hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen