Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. keine Geldentschädigung bei objektiv bedeutungsloser Ausgangsklage. Klage gegen einen vor Geburt erlassenen Aufhebungsbescheid über Grundsicherungsleistungen für andere Familienmitglieder. sozialgerichtliches Verfahren. Besetzung des Entschädigungsgerichts. Mitwirkung eines Richters als Berufungsrichter im Ausgangsverfahren. kein Ausschluss bei Beschränkung der Entschädigungsklage auf die erste Instanz
Normenkette
GVG § 198 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, Abs. 3, 4 S. 1, Abs. 6; SGG § 60 Abs. 1; ZPO § 41 Nr. 7; SGB 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerinnen zu 1. und 2. wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. August 2022 aufgehoben, soweit deren Klage auf eine Entschädigung in Geld abgewiesen worden ist. Insoweit wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Revision des Klägers zu 3. gegen das vorgenannte Urteil des Hessischen Landessozialgerichts wird zurückgewiesen.
Der Kläger zu 3. trägt die Kosten des Revisionsverfahrens zu 1/3.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 2400 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Kläger - eine Mutter, ihre Tochter und ihr Sohn - begehren Entschädigung für die unangemessene Dauer eines Gerichtsverfahrens vor dem SG Darmstadt (zuletzt S 19 AS 377/14 ) .
Gegenstand des Ausgangsverfahrens war die Aufhebung von Leistungen nach dem SGB II für den Monat Februar 2014 in Höhe von insgesamt 1166,52 Euro (Bescheid vom 13.1.2014; Widerspruchsbescheid vom 25.3.2014) , die den Klägerinnen zu 1. und 2. vom dortigen Beklagten zuvor bewilligt worden war. Ab diesem Monat bezogen die Klägerinnen zu 1. und 2. und der am 21.1.2014 geborene Kläger zu 3. monatliche Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Höhe von insgesamt 1215 Euro (859 Euro für die Klägerinnen zu 1. und 2. und 356 Euro für den Kläger zu 3.).
Gegen die Aufhebung der Leistungen nach dem SGB II für Februar 2014 erhoben die Kläger am 17.4.2014 Klage vor dem SG. Am 14.11.2014 beantragten sie die Terminierung der Sache. Unter Bezugnahme auf diesen Terminierungsantrag rügten die Kläger am 18.3.2015 die Verzögerung des Verfahrens. Am 8.11.2017 erinnerten sie an dessen Fortgang und beantragten unter Hinweis auf die Verfahrensdauer nunmehr eine zeitnahe mündliche Verhandlung. Mit Gerichtsbescheid vom 19.10.2018 wies das SG die Klage ab.
Gegen den am 31.10.2018 zugestellten Gerichtsbescheid legten die Kläger am 28.11.2018 Berufung beim LSG ein. Nach Übertragung der Sache auf die Berichterstatterin und erfolglosen Vergleichsbemühungen hob das LSG mit Urteil vom 14.4.2021 den Gerichtsbescheid und die angefochtenen Bescheide auf. Das Urteil wurde den Klägern am 5.5.2021 zugestellt.
Bereits am 16.4.2021 haben die Kläger Entschädigungsklage erhoben und eine Entschädigung wegen überlanger Dauer des beim SG geführten Klageverfahrens geltend gemacht. Nach Zustellung der Entschädigungsklage an den Beklagten am 30.5.2022 hat das LSG als Entschädigungsgericht mit Urteil vom 24.8.2022 eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens beim SG festgestellt, jedoch die Klage abgewiesen, soweit sie auf eine Geldentschädigung gerichtet war. Der Entscheidung stehe nicht entgegen, dass der erkennende Senat bereits im Ausgangsverfahren mit der Berufung befasst gewesen sei. Ob die Kläger die erstinstanzliche Verfahrensdauer inhaltlich hinreichend deutlich gerügt hätten, könne dahinstehen. Das Ausgangsverfahren verzeichne zwar Zeiten gerichtlicher Inaktivität im Umfang von 41 Monaten, sodass nach Abzug einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit eine unangemessene Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens von 29 Monaten verbleibe. Allerdings sei eine Wiedergutmachung auf andere Weise - namentlich eine gerichtliche Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer - ausreichend. Denn das Verfahren sei für die Klägerinnen zu 1. und 2. bei einer finanziellen Beschwer von lediglich 307,52 Euro nur von geringer Bedeutung und für den vom aufgehobenen Bescheid nicht betroffenen Kläger zu 3. bedeutungslos gewesen. Ferner hätten die Kläger eine Haltung des "Dulde und Liquidiere" eingenommen und kein Interesse an einer zügigen Entscheidung gezeigt. Zudem sei zu berücksichtigen, dass die Kläger wie auch ihre Prozessbevollmächtigte die Arbeitskraft des SG aufgrund einer Vielzahl erhobener Klagen und eines aus dem Rahmen fallenden Prozessverhaltens in erheblichem Maße gebunden hätten.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger die Verletzung von § 198 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 GVG . Zu Unrecht habe das Entschädigungsgericht eine Entschädigung in Geld abgelehnt. Die Aufhebung existenzsichernder Leistungen sei für sie keineswegs von geringer Bedeutung gewesen. Ihre zwischenzeitliche Untätigkeit dürfe ihnen nicht zum Nachteil gereichen, weil sie nicht zur aktiven Prozessförderung verpflichtet seien. Die Anzahl ihrer Verfahren sei der Bescheidungspraxis der SGB II-Leistungsträger geschuldet. Die Zahl der von ihrer Prozessbevollmächtigten geführten Verfahren sei irrelevant.
Die Kläger beantragen schriftsätzlich,
das Urteil des Hessischen LSG vom 24.8.2022 abzuändern im Umfang der Klageabweisung und den Beklagten zu verurteilen, ihnen eine angemessene Entschädigung zu zahlen, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch nicht unter 2400 Euro liegen sollte, nebst Zinsen von 5 Prozentpunkten über den Basiszinssatz ab Antragstellung.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Zudem genüge die Revision nicht dem Begründungserfordernis des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG .
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Kläger ist hinsichtlich der Klägerinnen zu 1. und 2. im Sinne der teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Entschädigungsgericht begründet ( § 170 Abs 2 Satz 2 SGG ) . Hinsichtlich des Klägers zu 3. ist die Revision unbegründet und deshalb zurückzuweisen ( § 170 Abs 1 Satz 1 SGG ) .
A. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des Entschädigungsgerichts vom 24.8.2022 nur soweit den allein revisionsführenden Klägern ein Anspruch auf Geldentschädigung wegen der darin bereits festgestellten unangemessenen Dauer des vor dem SG geführten Klageverfahrens versagt worden ist. Auf eine Entschädigung allein wegen der Dauer des Ausgangsverfahrens in erster Instanz haben die Kläger die Entschädigungsklage im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis (vgl § 123 SGG ) bereits begrenzt. Dies ist prozessrechtlich zulässig ( BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21, RdNr 9; BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 11, jeweils mwN) .
B. Die Revision der Kläger ist zulässig. Entgegen der Ansicht des Beklagten genügt ihre Begründung den inhaltlichen Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG . Sie enthält einen bestimmten Antrag, nennt die (vermeintlich) verletzte Rechtsnorm und zeigt aufgrund einer - wenn auch knappen - rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auf, aus welchen Gründen die Kläger das Urteil für unrichtig halten (vgl zu den Anforderungen an die Revisionsbegründung bei Sachrügen BSG ≪Großer Senat≫ Beschluss vom 13.6.2018 - GS 1/17 - BSGE 127, 133 = SozR 4-1500 § 164 Nr 9, RdNr 33 ff) .
C. Die Revision ist hinsichtlich der Klägerinnen zu 1. und 2. im Sinne der teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Entschädigungsgericht begründet, weil der Senat mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen des Entschädigungsgerichts nicht abschließend entscheiden kann, ob den Klägerinnen zu 1. und 2. ein Anspruch auf Geldentschädigung zusteht (dazu unter 1.) . Hinsichtlich des Klägers zu 3. ist die Revision dagegen unbegründet, weil er keinen Anspruch auf Entschädigung in Geld hat (dazu unter 2.) . Anlass, den Rechtsstreit an einen anderen Spruchkörper des Entschädigungsgerichts zurückzuverweisen, weil der bisher für die Entschädigungsklage zuständige Spruchkörper des Entschädigungsgerichts bereits mit der Berufung des Ausgangsverfahrens befasst war, besteht nicht (dazu unter 3.) .
1. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob die Klägerinnen zu 1. und 2. einen Anspruch auf Geldentschädigung haben. Zwar ist die Entschädigungsklage zulässig (dazu unter a) . Auch haben sie die für eine Entschädigung in Geld erforderliche Verzögerungsrüge wirksam erhoben (dazu unter b) . Ob vorliegend trotz der vom Entschädigungsgericht rechtskräftig festgestellten unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens für die Klägerinnen zu 1. und 2. ausnahmsweise eine Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist, kann der Senat wegen fehlender Feststellungen zur Angemessenheit der Dauer des Berufungsverfahrens, zur Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Klägerinnen zu 1. und 2. sowie zu dessen Schwierigkeit nicht abschließend beurteilen (dazu unter c) .
a) Die Entschädigungsklage ist zulässig. Sie ist als allgemeine Leistungsklage statthaft ( § 54 Abs 5 SGG ; stRspr; zB BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 14 mwN) . Die Wartefrist des § 198 Abs 5 Satz 1 GVG , wonach eine Entschädigungsklage frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben werden kann, ist gewahrt. Die Klägerinnen zu 1. und 2. haben im Ausgangsverfahren vor dem SG jedenfalls mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 8.11.2017 wirksam eine überlange Verfahrensdauer gerügt (dazu sogleich unter b) und erst am 16.4.2021 - also nach Ablauf von sechs Monaten - Entschädigungsklage erhoben. Auch die sechsmonatige Klagefrist des § 198 Abs 5 Satz 2 GVG haben die Klägerinnen zu 1. und 2. eingehalten. Die Klageerhebung (vgl § 90 SGG ) erfolgte bereits vor Zustellung des Berufungsurteils. Der Eintritt der Rechtshängigkeit, die gemäß § 94 Satz 2 SGG erst mit der Zustellung der Klage beim Beklagten beginnt (hier am 30.5.2022), ist insoweit unerheblich ( BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 16 mwN) .
b) Die Klägerinnen zu 1. und 2. haben die für eine Geldentschädigung erforderliche Verzögerungsrüge vor dem SG jedenfalls am 8.11.2017 wirksam erhoben. Offen bleiben kann deshalb, ob dies auch für die von ihnen bereits am 18.3.2015 erhobene Rüge gilt.
Entschädigung in Geld erhält ein Verfahrensbeteiligter gemäß § 198 Abs 3 Satz 1 GVG nur, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Die Verzögerungsrüge kann erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird ( § 198 Abs 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG ) .
Dieser Obliegenheit sind die Klägerinnen zu 1. und 2. nachgekommen. Schon in Anbetracht der geringen Mindestanforderungen an den Inhalt einer Verzögerungsrüge (hierzu BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 25 und 28 f mwN) musste das SG den Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 8.11.2017 bei objektiver Würdigung unter Berücksichtigung aller erkennbaren Umstände des Einzelfalls als solche verstehen (zur Auslegungsbefugnis des Senats und den insoweit maßgeblichen Grundsätzen BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 32 ff mwN) . Denn die Klägerinnen zu 1. und 2. haben mit ihrem ausdrücklichen Hinweis auf die jahrelange Rechtshängigkeit und dem nochmaligen Terminierungsersuchen hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie mit der Verfahrensdauer nicht einverstanden sind und eine Beschleunigung des Verfahrens verlangen.
Die Klägerinnen zu 1. und 2. haben die Verzögerungsrüge auch nicht verfrüht erhoben. Denn zum Zeitpunkt ihrer Erhebung im November 2017 war das Verfahren bereits seit mehr als drei Jahren anhängig und jedenfalls ab Dezember 2014 vom SG nicht mehr verfahrensfördernd betrieben worden. Die erhebliche Zeitspanne gerichtlicher Inaktivität gab objektiv Anlass zur Besorgnis, das Verfahren werde unangemessen lang dauern (zu den Maßstäben für das Tatbestandsmerkmal "Anlass zur Besorgnis" einer Verfahrensverzögerung BSG Urteil vom 9.3.2023 - B 10 ÜG 2/21 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 23 RdNr 28 f) .
Trotz des offensichtlichen Schreibversehens der Prozessbevollmächtigten bei der Angabe des Aktenzeichens ("S 1 AS 377/14" anstatt "S 19 AS 377/14") konnte das SG den Schriftsatz dem gerügten Verfahren ohne größere Schwierigkeiten mit zumutbarem Aufwand zuordnen und hat dies auch getan (zur Notwendigkeit der Verfahrenszuordnung einer Verzögerungsrüge als Wirksamkeitsvoraussetzung BSG Urteil vom 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 19 RdNr 42 ff; zur Unbeachtlichkeit offensichtlicher Schreibversehen BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 28) .
c) Ob die Klägerinnen zu 1. und 2. Anspruch auf eine Entschädigung in Geld haben oder nach den Umständen des Einzelfalls - wie vom Entschädigungsgericht entschieden - eine Wiedergutmachung auf andere Weise als "kleiner Entschädigungsanspruch" ( BSG Urteil vom 15.12.2015 - B 10 ÜG 1/15 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 13 RdNr 15 und 17 mwN) - namentlich durch die gerichtliche Feststellung der Unangemessenheit der Verfahrensdauer - ausreicht, kann der Senat nicht abschließend entscheiden.
Nach § 198 Abs 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Hat das Verfahren unangemessen lange gedauert, wird ein Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist, vermutet ( § 198 Abs 2 Satz 1 GVG ) . Allerdings kann hierfür eine Geldentschädigung nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls eine Wiedergutmachung auf andere Weise, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts gemäß § 198 Abs 4 Satz 1 GVG , dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ausreichend ist ( § 198 Abs 2 Satz 2 GVG ) .
Das Entschädigungsgericht hat für das Ausgangsverfahren vor dem SG eine unangemessene Dauer von 29 Monaten errechnet und im Tenor die unangemessene Dauer dieses Verfahrens festgestellt ( § 198 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 2, Abs 4 Satz 1 GVG ) . Die Feststellung der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens vor dem SG als solche wird vom insoweit allein belasteten Beklagten nicht mit einer eigenen Revision angegriffen und ist daher für den Senat bindend. Ausgehend hiervon spricht nach § 198 Abs 2 Satz 1 GVG eine "starke" (aber widerlegbare) Vermutung für einen immateriellen Nachteil der Klägerinnen zu 1. und 2. aufgrund der eingetretenen Verzögerung (vgl BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 40; BVerwG Urteil vom 5.6.2020 - 5 C 3/19 D - juris RdNr 12 ; BT-Drucks 17/3802 S 19, 40 f; vgl auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ≪E G MR≫ Urteil vom 29.3.2006 - 36813/97 ≪Scordino/Italien≫ - NJW 2007, 1259 RdNr 204) , weshalb eine Wiedergutmachung auf andere Weise nach § 198 Abs 4 GVG anstatt einer Entschädigung in Geld auch nur ausnahmsweise in Betracht kommt ( BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 11/13 R - BSGE 118, 102 = SozR 4-1720 § 198 Nr 9, RdNr 36; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 59) .
Ob eine solche Wiedergutmachung auf andere Weise im konkreten Streitfall ausreichend ist, beurteilt sich nach § 198 Abs 2 Satz 2 GVG auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls iS von § 198 Abs 1 Satz 2 GVG ( BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 40; BFH Urteil vom 23.3.2022 - X K 6/20 - BFHE 276, 308 - juris RdNr 42; BVerwG Urteil vom 29.2.2016 - 5 C 31/15 D - juris RdNr 45 ; BGH Urteil vom 23.1.2014 - III ZR 37/13 - BGHZ 200, 20 - juris RdNr 62; BT-Drucks 17/3802 S 20) . In diese wird regelmäßig einzustellen sein, ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten eine besondere Bedeutung hatte, ob dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verzögerung beigetragen hat, ob er weitergehende immaterielle Schäden erlitten hat oder ob die unangemessene Dauer den einzigen Nachteil darstellt. Darüber hinaus kann es darauf ankommen, wie lange das Verfahren sich verzögert hat (vgl BFH Urteil vom 23.3.2022 - X K 6/20 - BFHE 276, 308 - juris RdNr 48; BVerwG Urteil vom 29.2.2016 - 5 C 31/15 D - juris RdNr 45 ) , ob das Ausgangsverfahren für den Verfahrensbeteiligten, auch angesichts der gesamten bisherigen Länge ( BSG Urteil vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL - BSGE 113, 75 = SozR 4-1720 § 198 Nr 1, RdNr 46) , eine besondere Dringlichkeit aufwies oder ob diese zwischenzeitlich entfallen war. Bedeutung erlangen können auch durch die unangemessene Verfahrensdauer erlangte Vorteile, die das Gewicht der erlittenen Nachteile aufwiegen (vgl zum Vorstehenden insgesamt BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 40 mwN) .
Hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens muss sich das Entschädigungsgericht regelmäßig konkret festlegen, weil sowohl die Art der Entschädigung (Geldentschädigung oder Wiedergutmachung auf andere Weise) als auch deren Höhe ( § 198 Abs 2 Satz 3 und 4 GVG ) hiervon abhängen (vgl BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 44; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 29) . Es kann den konkreten Umfang der unangemessenen Dauer lediglich dahingestellt sein lassen, wenn auf eine Geldentschädigung nach den Umständen des Einzelfalls ersichtlich kein Anspruch besteht (vgl BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 30 ff) .
Ob dies in Bezug auf die Klägerinnen zu 1. und 2. der Fall ist, kann der Senat - gemessen an den gesetzlichen Vorgaben und den in der Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätzen zur Prüfung einer angemessenen Verfahrensdauer (dazu unter aa) - schon aufgrund der fehlenden Feststellungen des Entschädigungsgerichts zur Angemessenheit der Dauer des Berufungsverfahrens , zur Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Klägerinnen zu 1. und 2. sowie zu dessen Schwierigkeit nicht überprüfen (dazu unter bb) . Diese wird das Entschädigungsgericht im wieder eröffneten Entschädigungsklageverfahren nachzuholen haben (dazu unter cc) .
aa) Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich gemäß § 198 Abs 1 Satz 2 GVG nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Darüber hinaus ist auch die Verfahrensführung oder Prozessleitung durch das Ausgangsgericht in die Betrachtung mit einzubeziehen. Denn eine Verletzung des Rechts auf Rechtsschutz in angemessener Zeit hängt wesentlich davon ab, ob dem Staat zurechenbare Verhaltensweisen des Ausgangsgerichts zur unangemessenen Dauer des Gerichtsverfahrens geführt haben. Maßgeblich sind insoweit Verzögerungen (vgl § 200 GVG ) , also sachlich nicht gerechtfertigte Zeiten des gerichtlichen Verfahrens (stRspr; zB BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R - BSGE 134, 18 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22, RdNr 18; BSG Urteil vom 7.9.2017 - B 10 ÜG 1/16 R - BSGE 124, 136 = SozR 4-1720 § 198 Nr 16, RdNr 38) .
Die Angemessenheit der Dauer eines sozialgerichtlichen Verfahrens ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG in drei Schritten zu prüfen (stRspr; zB BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21, RdNr 15 ff mwN) . Die maßgebliche Zeiteinheit ist hierbei der Kalendermonat. Den Ausgangspunkt und ersten Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die in § 198 Abs 6 Nr 1 GVG definierte Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss. In einem zweiten Schritt ist der Ablauf des Verfahrens insbesondere an den von § 198 Abs 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen, bei denen es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, die auch unter Heranziehung der Rechtsprechung des BVerfG sowie des EGMR auszulegen und zu vervollständigen sind. Bei der Feststellung der Tatsachen, die zur Ausfüllung der von § 198 Abs 1 Satz 2 GVG genannten unbestimmten Rechtsbegriffe erforderlich sind und bei deren Subsumtion im Einzelfall kommt dem Entschädigungsgericht ein erheblicher tatrichterlicher Beurteilungsspielraum zu. Das BSG als Revisionsgericht kann lediglich überprüfen, ob das Entschädigungsgericht den Bedeutungsgehalt der unbestimmten Rechtsbegriffe aus § 198 Abs 1 Satz 2 GVG und damit den rechtlichen Rahmen zutreffend erkannt und ihn ausfüllend alle erforderlichen Tatsachen festgestellt und angemessen berücksichtigt hat, ohne Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze zu verletzen. Auf dieser Grundlage ergibt schließlich die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtsschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls die Verfahrensdauer jeweils insgesamt noch als angemessen anzusehen ist, wenn eine Gesamtverfahrensdauer, die zwölf Kalendermonate je Instanz übersteigt, auf vertretbarer aktiver Verfahrensgestaltung des Gerichts beruht. Auch insoweit steht dem Entschädigungsgericht ein Beurteilungsspielraum zu.
bb) Ausgehend von diesen Maßstäben kann der Senat schon nicht beurteilen, ob der vom Entschädigungsgericht angenommene Umfang der Verzögerung des erstinstanzlichen Ausgangsverfahrens von 29 Monaten zutrifft. Denn es fehlen ausreichende Feststellungen des Entschädigungsgerichts zur Angemessenheit der Dauer des Berufungsverfahrens, zur Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Klägerinnen zu 1. und 2. sowie zu dessen Schwierigkeit.
Auch wenn das Entschädigungsbegehren - wie hier - auf das erstinstanzliche Verfahren beschränkt ist, bleibt der materiell-rechtliche Bezugsrahmen für die Prüfung der Angemessenheit der Verfahrensdauer und die Bestimmung des zeitlichen Umfangs einer Überlänge bei einem derart beschränkten Begehren nach § 198 Abs 6 Nr 1 GVG gleichwohl das gesamte gerichtliche Verfahren, dh von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss ( BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21, RdNr 28 mwN) . Deswegen ist bei einem Gerichtsverfahren, das - wie im vorliegenden Fall - über zwei Instanzen geführt worden ist, stets auch die Berufungsinstanz in den Blick zu nehmen. Dies hat das Entschädigungsgericht nicht hinreichend getan. Die fehlenden Feststellungen zur Angemessenheit der Dauer auch des Berufungsverfahrens sind aber schon deshalb notwendig, weil die einer Instanz zur Verfügung stehende, nicht ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeit entschädigungsmindernd auf eine vorhergehende Instanz übertragen werden kann (zur Möglichkeit einer instanzübergreifenden Verrechnung der Vorbereitungs- und Bedenkzeiten BSG Urteil vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 4/21 R - BSGE 134, 32 = SozR 4-1720 § 198 Nr 21, RdNr 23 ff) .
Auf die rechtsfehlerfreie Feststellung des konkreten Verzögerungsumfangs kann im Fall der Klägerinnen zu 1. und 2. auch nicht ausnahmsweise deshalb verzichtet werden, weil auf eine Entschädigungszahlung nach den weiteren Umständen des Einzelfalls ersichtlich kein Anspruch besteht (vgl BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 30 ff) .
Mit ihrer Klage im Ausgangsverfahren haben sie sich gegen die Aufhebung von existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II gewandt. Diesen ist regelmäßig eine überdurchschnittliche Bedeutung für ihre Empfänger beizumessen (BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 10.1.2023 - 1 BvR 1346/22 ua - juris RdNr 13; BVerfG ≪Kammer≫ Beschluss vom 27.9.2011 - 1 BvR 232/11 - juris RdNr 18; BSG Urteile vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 9/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 6 RdNr 48 und - B 10 ÜG 2/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 5 RdNr 39) . Dass der sich aus den für den Monat Februar 2014 stattdessen bewilligten Leistungen nach dem AsylbLG ergebende Differenzbetrag von 307,52 Euro für die Klägerinnen zu 1. und 2. gleichwohl (wirtschaftlich) lediglich von geringer Bedeutung war - wie das Entschädigungsgericht meint - wird nur dann angenommen werden können, wenn dafür hinreichende Anhaltspunkte ersichtlich sind. Diese lassen sich den bisherigen Feststellungen des angegriffenen Urteils jedoch nicht entnehmen. Denn die von § 198 Abs 1 Satz 2 GVG genannte Bedeutung des Ausgangsverfahrens ergibt sich aus der allgemeinen Tragweite der Entscheidung für die materiellen und ideellen Interessen der Beteiligten. Entscheidend ist zudem, ob und wie sich der Zeitablauf nachteilig auf die Verfahrensposition der Klägerinnen zu 1. und 2. und den geltend gemachten Anspruch sowie möglicherweise auf ihre weiteren geschützten Interessen ausgewirkt hat (vgl BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 34; BSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 2/13 R - BSGE 117, 21 = SozR 4-1720 § 198 Nr 3, RdNr 29) .
Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob die Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Klägerinnen zu 1. und 2. von vornherein als gering einzustufen ist, weil etwa eine offensichtlich aussichtslose und querulatorisch geprägte Klage erhoben worden ist (offengelassen auch in BSG Urteil vom 12.2.2015 - B 10 ÜG 7/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 10 RdNr 32) . Tatsachen, die einen solchen Schluss für das vorliegende Ausgangsverfahren zuließen, hat das Entschädigungsgericht nicht festgestellt. Vielmehr haben die Klägerinnen zu 1. und 2. im Berufungsverfahren durch Aufhebung der angefochtenen Bescheide obsiegt.
Tatsächliche Anhaltspunkte für eine dem Zweck des § 198 GVG widersprechende und sich auf einen Entschädigungsanspruch nachteilig auswirkende Haltung eines "Dulde und Liquidiere" der Klägerinnen zu 1. und 2. im erstinstanzlichen Ausgangsverfahren (vgl hierzu allgemein BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 46; BT-Drucks 17/3802 S 20 f, 41) hat das Entschädigungsgericht ebenfalls nicht hinreichend festgestellt. Diese haben vielmehr vor dem SG wiederholt um eine Terminierung des Verfahrens gebeten und - wie oben ausgeführt - eine wirksame Verzögerungsrüge erhoben. Im Übrigen sind Beteiligte über ihre Verantwortung für selbst verursachte Verzögerungen hinaus nicht verpflichtet, aktiv darauf hinzuwirken, dass das Gericht das Verfahren fördert und in angemessener Zeit zum Abschluss bringt (vgl BVerwG Urteil vom 29.2.2016 - 5 C 31/15 D - juris RdNr 21 ) .
Nähere Ausführungen zur Schwierigkeit des Verfahrens, die bei der Beurteilung einer angemessenen Dauer nach § 198 Abs 1 Satz 2 GVG weiterhin zu berücksichtigen ist, lassen sich dem angegriffenen Urteil ebenfalls nicht entnehmen. Soweit die Klägerinnen zu 1. und 2. eine Vielzahl von Klagen am SG anhängig gemacht haben, kann daraus durchaus eine erschwerte Verfahrensführung und eine gesteigerte Komplexität des hier allein zu betrachtenden Ausgangsverfahrens resultieren (vgl LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 24.1.2019 - L 37 SF 102/18 EK AS WA - juris RdNr 47 ) . Dies kann vom Entschädigungsgericht bei der Beurteilung der Schwierigkeit des Ausgangsverfahrens berücksichtigt werden und wäre dann bejahendenfalls konkret festzustellen. Das Prozessverhalten ihrer Prozessbevollmächtigten in Gerichtsverfahren, an denen die Kläger nicht beteiligt sind, müssen sich diese jedoch nicht zurechnen lassen. Eine Zurechnung findet über § 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 1 Satz 1 ZPO lediglich in eigenen Verfahren statt (vgl BSG Beschluss vom 12.2.2018 - B 10 ÜG 12/17 B - juris RdNr 9 ) .
cc) Die fehlenden Feststellungen zur (un-)angemessen Dauer des Berufungsverfahrens, zur Bedeutung des Ausgangsverfahrens für die Klägerinnen zu 1. und 2. sowie zu dessen Schwierigkeit wird das Entschädigungsgericht im wieder eröffneten Entschädigungsklageverfahren nachholen müssen. Ausgehend hiervon wird das Entschädigungsgericht den Umfang der (bindend festgestellten) unangemessenen Dauer des Ausgangsverfahrens erneut zu ermitteln und bei der oben dargestellten Abwägung aller Umstände des Einzelfalls im Rahmen der Prüfung, ob die Klägerinnen zu 1. und 2. die begehrte Geldentschädigung beanspruchen können oder sich mit der bereits ausgesprochenen Wiedergutmachung auf andere Weise begnügen müssen, zu berücksichtigen haben.
2. Die Revision ist hinsichtlich des Klägers zu 3. unbegründet. Zwar ist die zusammen mit den Klägerinnen zu 1. und 2. erhobene Entschädigungsklage zulässig (s dazu bereits unter 1.a) und die für eine Geldentschädigung notwendige Verzögerungsrüge wirksam erhoben (s dazu bereits unter 1.b) . Er hat jedoch über die vom Entschädigungsgericht bereits ausgesprochene Wiedergutmachung auf andere Weise hinaus keinen Anspruch auf eine Geldentschädigung. Auf die rechtsfehlerfreie Feststellung des Verzögerungsumfangs kann hier ausnahmsweise deshalb verzichtet werden, weil der Kläger zu 3. auf eine Entschädigungszahlung nach den vom Entschädigungsgericht für den Senat bindend ( § 163 SGG ) festgestellten weiteren Umständen des Einzelfalls ersichtlich keinen Anspruch hat (vgl BSG Urteil vom 12.12.2019 - B 10 ÜG 3/19 - SozR 4-1720 § 198 Nr 18 RdNr 30) .
Das Ausgangsverfahren war für den Kläger zu 3. aus der Sicht eines verständigen Betrachters von Anfang an in Bezug auf seine wirtschaftliche oder rechtliche Position objektiv ohne jede Bedeutung. Von dem im Ausgangsverfahren allein streitgegenständlichen SGB II-Aufhebungsbescheid war er nicht betroffen. Zum einen war dieser nur an die Klägerinnen zu 1. und 2. gerichtet (vgl § 37 Abs 1 Satz 1, § 39 Abs 1 SGB X ) . Zum anderen betraf die Aufhebung nur zuvor den Klägerinnen zu 1. und 2. bewilligte Leistungen. Ansprüche des erst nach der Leistungsbewilligung geborenen Klägers zu 3. wurden hierdurch nicht berührt. Schließlich erging dieser Bescheid am 13.1.2014 und damit noch vor der Geburt des Klägers zu 3. am 21.1.2014. Dass der Kläger zu 3. bei Erlass des Widerspruchsbescheids am 25.3.2014 bereits geboren und Mitglied der Bedarfsgemeinschaft war, ist insoweit unerheblich, weil seine Geburt keine Änderung der für die Aufhebung maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse zur Folge hatte. Ein Leistungsbegehren war im Ausgangsverfahren mangels Verwaltungsentscheidung über einen SGB II-Anspruch des Klägers zu 3. von vornherein unzulässig. Ein etwaiger emotionaler Nachteil wegen einer subjektiven Ungewissheit über den Verfahrensausgang ist schon wegen des Alters des Klägers zu 3. ausgeschlossen.
3. Das Urteil des Entschädigungsgerichts war daher nur bezüglich der Klägerinnen zu 1. und 2. aufzuheben und die Sache insoweit nach § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung dorthin zurückzuverweisen. Einer Zurückverweisung an einen anderen Senat des Entschädigungsgerichts gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 563 Abs 1 Satz 2 ZPO bedurfte es nicht, weil die Entscheidung über die Entschädigungsklage durch den im Ausgangsverfahren mit der Berufung befassten Senat des Entschädigungsgerichts infolge der Beschränkung des Entschädigungsbegehrens auf das erstinstanzliche Verfahren keinen Verstoß gegen das Mitwirkungsverbot des § 60 Abs 1 SGG iVm § 41 Nr 7 ZPO darstellt.
Nach dieser Bestimmung ist ein Richter von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes in Sachen wegen überlanger Gerichtsverfahren ausgeschlossen, wenn er in dem beanstandeten Verfahren in einem Rechtszug mitgewirkt hat, auf dessen Dauer der Entschädigungsanspruch gestützt wird. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, weil kein Mitglied des über die Entschädigungsklage der Klägerinnen zu 1. und 2. entscheidenden Spruchkörpers des Entschädigungsgericht im allein als überlang gerügten erstinstanzlichen Ausgangsverfahren mitgewirkt hat.
Allein hierauf kommt es aber an. Denn übergeordneter Bezugspunkt des in § 41 Nr 7 ZPO normierten Bedingungssatzes sind "Sachen wegen überlanger Gerichtsverfahren". Daher ist mit dem "beanstandeten Verfahren" das in § 198 Abs 6 Nr 1 GVG legal definierte "Gerichtsverfahren" gemeint. Die Mitwirkung eines Richters an diesem ist nach § 41 Nr 7 ZPO nur dann ausgeschlossen, sofern die Mitwirkung in dem "Rechtszug" erfolgt ist, auf dessen Dauer der Entschädigungsanspruch gestützt wird oder - wie es in den Gesetzesmaterialien ( BT-Drucks 17/3802 , S 37) heißt - "dessen überlange Dauer Grundlage des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs ist".
Der Begriff "Rechtszug" wird in § 41 ZPO selbst (siehe auch Nr 6) und in der ZPO allgemein (zB § 36 Abs 1; § 38 Abs 1 und 2; § 39; § 45 Abs 3; § 64) sowie im SGG (zB § 8; § 29; § 39 Abs 2; § 58 Abs 2) entsprechend seinem allgemeinen und juristischen Bedeutungsgehalt als Synonym für "Instanz" verwendet (vgl zB Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 7, 3. Aufl 1999, Stichwort: "Rechtszug" und https://www.duden.de/rechtschreibung/Rechtszug, letzter Aufruf: 26.10.2023; Weber, Rechtswörterbuch, 24. Aufl 2022, Stichwort: "Rechtszug"; s zB auchBSG Urteil vom 3.9.2014 - B 10 ÜG 12/13 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 4 RdNr 63; BSG Urteil vom 30.3.1967 - 12 RJ 298/66 - juris RdNr 14 f; BSG Beschluss vom 30.11.2006 - B 9a SB 14/06 B - SozR 4-1750 § 41 Nr 1 RdNr 5; BSG Beschluss vom 26.7.2006 - B 3 KR 6/06 B - SozR 4-1500 § 197a Nr 4 RdNr 8; BSG Beschluss vom 29.5.2006 - B 2 U 391/05 B - SozR 4-1500 § 193 Nr 3 RdNr 16; BSG Beschluss vom 12.4.2000 - B 9 V 57/99 B - juris RdNr 4 ) .
Anknüpfungspunkt für die Ausschließung ist damit allein die Mitwirkung in dem vom Entschädigungskläger mit seinem Entschädigungsbegehren (vgl § 123 SGG ) als überlang gerügten "Rechtszug", nicht aber eine Mitwirkung in von ihm unbeanstandet gebliebenen vorausgegangenen oder nachfolgenden Verfahrensabschnitten des Gerichtsverfahrens ( BSG Urteil vom 5.5.2015 - B 10 ÜG 5/14 R - SozR 4-1720 § 198 Nr 12 RdNr 11; BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 11 SF 5/21 S - juris RdNr 2 ; Flint in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 60 RdNr 41, Stand: Juni 2023) .
Anhaltspunkte, die hier gegen diese klare Wortbedeutung sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Wird daher das Entschädigungsbegehren - wie vorliegend - auf die unangemessene Dauer eines Rechtszugs (einer Instanz) eines Gerichtsverfahrens beschränkt, greift der Ausschlussgrund des § 41 Nr 7 ZPO nur ein, wenn der Richter des Entschädigungsgerichts in diesem (oder dieser) mitgewirkt hat. Das war in dem von den Klägerinnen zu 1. und 2. ausschließlich als überlang gerügten Verfahren vor dem SG im ersten Rechtszug ersichtlich nicht der Fall.
D. Die Kostenentscheidung betreffend die Klägerinnen zu 1. und 2. bleibt dem wieder eröffneten Entschädigungsklageverfahren vorbehalten. Die Kostenentscheidung den Kläger zu 3. betreffend folgt aus § 183 Satz 6, § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 SGG iVm §§ 154 Abs 2, 159 Satz 1 VwGO und § 100 Abs 1 ZPO . Danach fallen die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels demjenigen zur Last, der es eingelegt hat. Die Haftung erfolgt nach Kopfteilen, mithin trägt der Kläger zu 3. als allein Unterliegender von drei Revisionsklägern ein Drittel der Kosten der Revision. Nicht anzuwenden ist § 201 Abs 4 GVG . Die Vorschrift setzt voraus, dass anstelle der begehrten Entschädigung eine unangemessene Verfahrensdauer festgestellt wird, was im Revisionsverfahren nicht der Fall war.
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E. Die auch im Fall der Zurückverweisung vorzunehmende Streitwertfestsetzung für das Revisionsverfahren ( BSG Urteil vom 17.12.2020 - B 10 ÜG 1/19 R - BSGE 131, 153 = SozR 4-1720 § 198 Nr 20, RdNr 63 mwN) beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 47 Abs 1 Satz 1, § 52 Abs 3 Satz 1, § 63 Abs 2 Satz 1 GKG . Sie ergibt sich aus der von den Klägern mit der Revision gemeinsam geltend gemachten Entschädigungssumme von 2400 Euro. Die als Nebenforderung geltend gemachten Zinsen sind bei der Streitwertbemessung nicht zu berücksichtigen ( § 43 Abs 1 GKG ) . |
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Kaltenstein |
Ch. Mecke |
Othmer |
Fundstellen
Haufe-Index 16180525 |
NJW 2024, 1683 |
NVwZ 2023, 9 |
NZS 2024, 439 |
SGb 2024, 35 |