Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme der Arbeitslosenbewilligung für die Vergangenheit. Untersuchungsmaxime. Verletzung rechtlichen Gehörs. grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit. Vertrauensschutz
Orientierungssatz
1. Zur Verletzung der Untersuchungsmaxime (§ 103 SGG) bei der Überprüfung der Rücknahme einer Arbeitslosenhilfebewilligung, wenn die Feststellungen des LSG bereits keine revisionsgerichtlichen Aussagen darüber zulassen, inwieweit die Arbeitslosenhilfebewilligung rechtswidrig war und in welchem Umfang der Arbeitslose dadurch ggf zu Unrecht begünstigt worden ist.
2. Zur Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG).
3. Der Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 darf nicht auf den Umstand gestützt werden, dass die Rechtswidrigkeit der zur Überzahlung führenden Bewilligungsentscheidung beim Blick auf die Kontoauszüge habe auffallen müssen, sofern die Überweisung der Leistung nicht vor Bekanntgabe (§ 37 SGB 10) des Bewilligungsbescheides erfolgt ist und von der Überweisung nicht vor Bekanntgabe des Bescheides Kenntnis erlangt wurde. Die Bekanntgabe des Verwaltungsakts ist der für die Kenntnis und für das Kennenmüssen seiner Rechtswidrigkeit iS des § 45 Abs 2 S 3 Nr 3 SGB 10 maßgebliche Zeitpunkt. Eine im Zuge der Auszahlung der Leistungen nachträglich eingetretene Bösgläubigkeit darf nur im Rahmen des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs 2 S 1 und 2 SGB 10 berücksichtigt werden.
Normenkette
SGB 10 § 45 Abs. 1, 2 Sätze 1-2, 3 Nr. 3, § 37; SGG §§ 62, 103; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Im Streit ist die Teilaufhebung der Bewilligung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) für die Zeit vom 1. Januar bis 4. Dezember 2002 und die Rückforderung überzahlter Leistungen in Höhe von 4.076,28 Euro.
Die 1959 geborene Klägerin bezog vom 1. März bis 4. Dezember 2001 Arbeitslosengeld (Alg). Im Anschluss daran bewilligte ihr die Beklagte rückwirkend für den Zeitraum zwischen dem 5. Dezember und dem 31. Dezember 2001 Alhi (ausgehend von einem Bemessungsentgelt von 650 DM) in Höhe von 275,87 DM (Bescheid vom 9. Januar 2002) und ab dem 1. Januar 2002 (ausgehend von einem Bemessungsentgelt von 650 Euro) in Höhe von 224,70 Euro (Bescheid vom 11. Januar 2002). Dabei übernahm sie (die Beklagte) infolge interner Fehler bei der Währungsumstellung beim Bemessungsentgelt den Betrag von 650 ungekürzt von der Währung DM in die Währung Euro.
Nachdem die Klägerin im November 2002 einen Antrag auf Fortzahlung von Alhi gestellt hatte, bemerkte die Beklagte ihren Fehler, hob die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 1. Januar bis 4. Dezember 2002 teilweise - nämlich in Höhe der Differenz zwischen der bewilligten wöchentlichen Alhi von 224,70 Euro und einer zu beanspruchenden wöchentlichen Alhi von 140,28 Euro - auf und forderte von der Klägerin einen überzahlten Gesamtbetrag in Höhe von 4.076,28 Euro zurück (Bescheid vom 12. Februar 2003; Widerspruchsbescheid vom 12. März 2003).
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Gießen abgewiesen (Urteil vom 8. November 2004). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe die teilweise Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung grob fahrlässig nicht erkannt. Sie sei dazu verpflichtet gewesen, den Bescheid sorgfältig zu prüfen und ihn angesichts der engen zeitlichen Nähe mit dem vorangegangenen Bewilligungsbescheid zu vergleichen. Beides habe sie in vorwerfbarer Weise versäumt.
Die Berufung der Klägerin hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 13. November 2006). Es hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem es bei den Beteiligten die Zustimmung dazu unter Hinweis darauf eingeholt hatte, dass es in der Sache nur um "Rechtsfragen bzw Abwägungen" gehe. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, die Entscheidung des SG sei im Ergebnis richtig. In Ansehung der gesellschaftlichen Tragweite der Euroumstellung müsse davon ausgegangen werden, dass die Klägerin die beiden Bescheide verglichen, jedenfalls aber "den Euro-Bescheid" anhand vorhandener Unterlagen genau geprüft habe. Dabei hätte ihr ins Auge springen müssen, dass sich die Bemessungsgrundlage betragsmäßig nicht verändert habe. Unabhängig davon hätte ihr spätestens beim Blick auf die Kontoauszüge auffallen müssen, dass sie fast doppelt soviel Geld erhalten habe wie im Monat zuvor.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin zum einen Verfahrensmängel. Das LSG hätte nicht ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, weil es - entgegen seiner Ankündigung - nicht nur Rechtsfragen entschieden, sondern auch Sachverhaltsfeststellungen getroffen habe, die von den Feststellungen des SG abwichen. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen die Gewährung rechtlichen Gehörs. Sie (die Klägerin) habe zu keinem Zeitpunkt damit rechnen können, dass das LSG seiner Entscheidung einen anderen Sachverhalt zugrunde legen werde als das SG. Zum anderen beruhe das Urteil auf einer Verletzung von § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X. Zu Unrecht stelle das LSG auch darauf ab, dass sich die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung ihr (der Klägerin) bei Prüfung der Kontoauszüge hätte aufdrängen müssen. Es komme aber darauf an, dass grobe Fahrlässigkeit bereits im Zeitpunkt der Bescheiderteilung vorgelegen habe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. März 2003 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung der Berufungsentscheidung und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Der Senat kann mangels hinreichender Feststellungen schon nicht beurteilen, inwieweit die mit dem angefochtenen Bescheid aufgehobene Bewilligungsentscheidung rechtswidrig war.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid vom 12. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. März 2003, mit dem die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alhi vom 11. Januar 2002 für den Zeitraum vom 1. Januar bis 4. Dezember 2002 teilweise - nämlich in Höhe des Differenzbetrags von 84,42 Euro wöchentlich zwischen der bewilligten Leistung von 224,70 Euro und der zu beanspruchenden Alhi von 140,28 Euro - zurückgenommen und überzahlte Leistungen in einem Umfang von insgesamt 4.076,28 Euro zurückgefordert hat.
Die Aufhebungsentscheidung der Beklagten ist an § 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) iVm § 330 Abs 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) zu messen. Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter Einschränkungen ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 45 Abs 1 SGB X). Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs 2 Satz 1 SGB X), wobei Schutzwürdigkeit in der Regel dann vorliegt, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder Vermögensdispositionen getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs 2 Satz 2 SGB X). Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings ua dann nicht berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X). Liegen die Voraussetzungen des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X vor, ist der Verwaltungsakt abweichend von den allgemeinen Regelungen zwingend mit Wirkung auch für die Vergangenheit zurückzunehmen (§ 330 Abs 2 SGB III).
Ob die angegriffene Aufhebungsentscheidung der Beklagten Bestand hat, kann nicht abschließend beurteilt werden. Die Feststellungen des LSG lassen bereits keine revisionsgerichtliche Aussage darüber zu, inwieweit der Bescheid der Beklagten vom 11. Januar 2002 rechtswidrig war und in welchem Umfang die Klägerin dadurch ggf zu Unrecht begünstigt worden ist. Hier bedarf es einer vollinhaltlichen Prüfung der materiellen Voraussetzungen des Alhi-Anspruchs, weil es sich bei dem Bescheid vom 11. Januar 2002 nicht um einen bloßen sog Anpassungsbescheid, sondern um einen umfassenden Neubewilligungsbescheid für den Zeitraum ab 1. Januar 2002 gehandelt hat.
Das LSG hat allerdings nur festgestellt, dass die Beklagte dieser Alhi-Bewilligungsentscheidung ein anderes Bemessungsentgelt zu Grunde gelegt hat als der Bewilligungsentscheidung für die Zeit zwischen dem 4. Dezember und dem 31. Dezember 2001 (650 Euro gegenüber 650 DM) und dass der Klägerin deshalb höhere Alhi als zuvor bewilligt worden ist (224,70 Euro gegenüber 275,87 DM). Inwieweit das Bemessungsentgelt im Bescheid vom 11. Januar 2002 zu Unrecht mit 650 Euro festgesetzt worden ist, lässt sich daraus - abgesehen von weiteren Faktoren für die Höhe der Alhi - nicht schließen. Die fehlenden Feststellungen wird das LSG nachzuholen haben.
Ist schon deshalb eine Zurückverweisung der Sache an das LSG geboten, kommt es auf die geltend gemachten Verfahrensfehler nicht an. Allerdings hat das LSG zumindest den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verletzt. Der mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫) besagt, dass der Beteiligte zum jeweiligen Verfahren herangezogen und ihm Gelegenheit gegeben werden muss, sich vor Erlass der Entscheidung zum Prozessstoff zu äußern und gehört zu werden. Dementsprechend dürfen nur diejenigen Tatsachen einer Entscheidung zu Grunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten haben äußern können (§ 128 Abs 2 SGG). § 62 SGG verpflichtet das Gericht zwar nicht generell, seine Rechtsauffassung zu dem Prozessstoff vorab mitzuteilen oder bei der Erörterung der Sach- und Rechtslage bereits die endgültige Beweiswürdigung darzulegen (Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 3 mwN; vgl auch BVerfGE 84, 188, 190). Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll jedoch verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (BSG, Urteil vom 11. November 2003 - B 2 U 32/02 R -, NZS 2004, 660 ≪661≫).
Dem so ausgestalteten Anspruch der Klägerin hat das LSG nicht hinreichend Rechnung getragen. Es hätte sie vor seiner Entscheidung zumindest darauf hinweisen müssen, dass es beabsichtigt, seiner rechtlichen Bewertung den Sachverhalt zu Grunde zu legen, dass sie (die Klägerin) die ihr im Januar 2002 zugegangenen Bewilligungsbescheide genau geprüft und insbesondere miteinander verglichen habe. Eine besondere Verpflichtung zur Mitteilung seiner Auffassung von den relevanten Tatumständen bestand für das LSG hier deshalb, weil die Beteiligten nach Lage des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Prozessgeschichte mit der Zugrundelegung dieses Sachverhalts nicht zu rechnen brauchten. Zum einen hat das SG in seinem Urteil festgestellt, dass die Klägerin die Bescheide der Beklagten weder für sich genommen geprüft noch miteinander verglichen habe, zum anderen hat das LSG die Beteiligten in seiner Verfügung vom 21. August 2006 zwecks Einholung der Zustimmung zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) darauf hingewiesen, dass es lediglich um "Rechtsfragen bzw Abwägungen" gehe. In Anbetracht dieser Umstände durften die Prozessbeteiligten davon ausgehen, dass das LSG seine rechtliche Beurteilung im Wesentlichen auf den Sachverhalt stützen werde, den bereits das SG seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Jede abweichende Bewertung der Umstände musste vom Empfängerhorizont eines umsichtigen Verfahrensbeteiligten überraschend wirken.
Schließlich wird das LSG zu beachten haben, dass es den Vorwurf der grob fahrlässigen Unkenntnis iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X nicht auf den Umstand stützen darf, dass der Klägerin die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung beim Blick auf die Kontoauszüge habe auffallen müssen, sofern die Überweisung der Alhi in der seit 1. Januar 2002 neu bewilligten Höhe nicht vor Bekanntgabe (§ 37 SGB X) des Bewilligungsbescheids vom 11. Januar 2002 erfolgt ist und die Klägerin von der Überweisung nicht vor Bekanntgabe des Bescheids Kenntnis erlangt hat. Es entspricht der Rechtsprechung des BSG, dass die Bekanntgabe des Verwaltungsakts der für die Kenntnis und für das Kennenmüssen seiner Rechtswidrigkeit iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 3 SGB X maßgebliche Zeitpunkt ist, weil anderenfalls der Vertrauensschutz auf Grundlage der Abwägung nach § 45 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X weitgehend ausgeschaltet werden würde (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 24). Dementsprechend dürfte eine im Zuge der Auszahlung der Leistungen nachträglich eingetretene Bösgläubigkeit nur im Rahmen des Vertrauensschutzes nach § 45 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X berücksichtigt werden.
Bei einer erneuten Entscheidung wird das LSG abhängig von seinen Feststellungen zur Rechtmäßigkeit der Aufhebungsverfügung auch über die Rechtmäßigkeit der Rückforderungsverfügung nach Maßgabe des § 50 SGB X neu zu befinden haben.
Der LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 2129566 |
NZA 2009, 662 |
info-also 2009, 120 |