Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. März 1995 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger begehrt wegen Schwerpflegebedürftigkeit Pflegegeld nach den §§ 53 bis 57 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V).

Der Kläger ist seit seiner Geburt (22. Juni 1989) als Familienangehöriger bei der beklagten Ersatzkasse versichert. Seit September 1990 ist bekannt, daß er an einer Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus I) leidet. Er ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60 und dem Merkzeichen H (hilflos) anerkannt. Die Mutter des Klägers beaufsichtigt den Kläger ständig, während des Kindergartenbesuchs (8.00 bis 12.00 Uhr) ist sie über einen City-Ruf („Piepser) sofort erreichbar; auch bei Festen und Ausflügen des Kindergartens sowie beim wöchentlichen Fußballtraining muß sie anwesend sein. Viermal täglich (7.00, 12.00, 18.00 und 22.00 Uhr – bei Krankheit auch nachts alle zwei Stunden) führt sie Blutzuckermessungen, zwei- bis viermal täglich Injektionen durch und bestimmt danach Zeitpunkt, Art sowie Menge des Essens. Der Kläger kann grundsätzlich alles essen, Nahrung mit hohen Werten wird in geringerer Menge gereicht oder ersetzt. Etwa ein- bis zweimal monatlich muß der Kläger wegen hoher Meßwerte im Kindergarten fehlen.

Am 18. Juli 1991 stellte der Kläger einen Antrag auf Pflegegeld nach den §§ 53 bis 57 SGB V. Die Beklagte holte vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ein Aktengutachten und ein Gutachten nach Hausbesuch ein und lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 11. November 1991 und Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 1992).

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, Pflegegeld ab 18. Juli 1991 zu gewähren (Urteil vom 14. Juni 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Mutter des Klägers erneut angehört und die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. März 1995).

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 53 und 57 SGB V sowie der §§ 68 und 69 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) aF.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. März 1995 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 14. Juni 1994 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

II.

Die Revision des Klägers war zurückzuweisen. Der Kläger begehrt mit der Revision unter Berücksichtigung der für die Zeit ab April 1995 erfolgten gesetzlichen Regelung der Pflegeversicherung Pflegegeld nach dem SGB V nur für die Zeit bis zum 31. März 1995. Sein Antrag, die Berufung der Beklagten gegen deren Verurteilung zur Zahlung von Pflegegeld für die Zeit ab dem 18. Juli 1991 zurückzuweisen, betrifft hiernach nur die Zeit vom 18. Juli 1991 bis zum 31. März 1995. Für diese Zeit hat das LSG einen Anspruch auf Pflegegeld zu Recht verneint.

1. Der Anspruch richtet sich nach den §§ 53 bis 57 SGB V. Diese Vorschriften sind zwar nach Art 4 Nr. 4 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit – Pflegeversicherungsgesetz – vom 26. Mai 1994 (BGBl. I Nr. 30 S. 1014) zum 1. April 1995 außer Kraft getreten und zu diesem Zeitpunkt durch die Pflegegeld-Regelungen des Sozialgesetzbuches – Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI) ersetzt worden. Sie bleiben aber für die Zeit bis zum 31. März 1995 maßgeblich, auf die es hier allein ankommt.

2. Der Anspruch auf Pflegegeld nach § 57 SGB V setzt das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit i.S. von § 53 Abs. 1 SGB V voraus. Nach § 53 Abs. 1 SGB V ist als schwerpflegebedürftig anzusehen, wer nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedarf. „Schwerpflegebedürftigkeit” ist, wie der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des 1. und 4. Senats des Bundessozialgerichts (≪BSG≫ SozR 3-2500 § 53 Nrn 2 und 4) bereits wiederholt (SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 und 6; SozR 3-2500 § 57 Nr. 3) dargelegt hat, ein gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff.

Bei der Bestimmung der „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens”, für die der Hilfebedarf zu ermitteln ist, ist nach der Rechtsprechung des BSG zwischen Erwachsenen, Kindern bis zur Vollendung des 3. Lebensjahres (Kinder unter drei Jahren) und Kindern zwischen 3 und etwa 8 Jahren (Kinder ab drei Jahre) zu unterscheiden. Der Kläger gehörte in der streitigen Bezugszeit (vom 18. Juli 1991 bis zum 31. März 1995) zunächst bis zum 21. Juni 1992 einschließlich zur Gruppe der Kinder unter drei Jahren und danach zur Gruppe der Kinder ab drei Jahre. Er war am 31. März 1995 noch keine 6 Jahre alt. Es kann deshalb auch hier offenbleiben, ob die Obergrenze genau auf 8 Jahre oder auf ein höheres Lebensalter (etwa bis zu 12 Jahre) anzusetzen ist.

3. Für die Zeit vom 18. Juli 1991 bis zum 21. Juni 1992, in der der Kläger zur Gruppe der Kinder unter drei Jahren gehörte, hat das LSG Schwerpflegebedürftigkeit verneint, weil der Pflegemehrbedarf im Vergleich mit einem gleichaltrigen gesunden Kind 3 Stunden täglich nicht erreiche. Dabei hat das LSG entsprechend der angeführten Rechtsprechung den gesamten Pflegebedarf ohne Beschränkung auf Katalogtätigkeiten berücksichtigt. Es hat einen Mehrbedarf hinsichtlich der Diät, der 4 täglichen Blutzuckermessungen, der 2 bis 3 täglichen Insulinspritzen und hinsichtlich der Aufsicht anerkannt und auf weniger als 3 Stunden täglich angesetzt.

Die Revision rügt, daß schon der Aufsichtsbedarf 3 Stunden täglich weit übersteige. Das SG habe der Klage zutreffend mit der Begründung entsprochen, daß „wegen der Gefahr der Unterzuckerung die Beaufsichtigung des Junge engmaschiger als bei Gleichaltrigen” üblich sein müsse. Damit wird, wie vom LSG zutreffend ausgeführt, verkannt, daß auch ein gesundes Kind dieser Altersgruppe (bis 3 Jahren) im Grundsatz nicht ohne Aufsicht allein gelassen werden kann. In zeitlicher Hinsicht kommt daher nur eine geringe Mehrbelastung in Betracht. Die Begründung des LSG, der Überwachungsmehraufwand falle weniger zeitlich als qualitativ ins Gewicht, besagt in diesem Zusammenhang, daß der zeitliche Überwachungsmehraufwand, auch wenn er wegen der größeren Intensität mit einem fiktiven Zeitzuschlag versehen wird, zusammen mit dem beschriebenen Pflegemehraufwand (Diät usw) 3 Stunden täglich nicht erreicht. Eine derartige Feststellung, die für mehrere Tätigkeiten den durchschnittlichen Zeitaufwand zusammenfaßt, ohne Einzelwerte anzusetzen, reicht im Falle der Erkrankung an Diabetes trotz der von der Revision hervorgehobenen Eigengefährdung durch hypoglykämischen Schock aus, obgleich bei einer Störung des Galaktosestoffwechsels entsprechend dem andersartigen Krankheitsbild eingehendere Feststellungen erforderlich werden (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 7). Der Schulungsbedarf der Eltern ist kein Bedarf „auf Dauer” und daher zu Recht nicht berücksichtigt.

Die Revision rügt ferner zu Unrecht, Schwerpflegebedürftigkeit sei unabhängig davon, ob der Pflegemehrbedarf 3 Stunden täglich übersteige, schon deshalb anzuerkennen, weil der Kläger als Schwerbehinderter mit einem GdB von 60 und dem Merkzeichen H (hilflos) anerkannt sei. Bei Erwachsenen kann auf Feststellungen zum Hilfebedarf bei den „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens” auch bei Versicherten nicht verzichtet werden, die i.S. des Schwerbehindertenrechts (§ 33b Einkommensteuergesetz) schwerbehindert und hilflos sind, wie dies beim Kläger von den dafür zuständigen Behörden anerkannt ist. Denn § 53 Abs. 1 SGB V setzt ein gesteigertes Maß der Hilflosigkeit gerade bei den „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens” voraus. Diese bewußt eigenständige Definition schließt einen schematischen Rückgriff auf Regelungen in anderen Rechtsbereichen aus (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 2). Schon wegen der Eigenständigkeit des § 53 SGB V scheidet eine Verletzung der von der Revision angeführten §§ 68 und 69 BSHG a.F. aus. Die Eigenständigkeit setzt einer Berücksichtigung der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” (Ausgabe 1983, vgl. den Hinweis im Rundschreiben vom 1. Dezember 1983 BArbBl 1984, Nr. 1, 77) enge Grenzen. Nach den Anhaltspunkten ist beim Diabetes mellitus eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 bis 60 v.H. (Nr 26.15) und bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres Hilflosigkeit anzunehmen (Seite 33, Nr. 22, h), was aber nicht besagt, daß die Hilflosigkeit in dem nach § 53 SGB V erforderlichen gesteigertem Maß vorliegt. Soweit in den Anhaltspunkten der Hilfebedarf erläutert wird, ist dies bei der Prüfung der Schwerpflegebedürftigkeit zu berücksichtigen.

Das gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder ab drei Jahren und für Kinder unter drei Jahren, obgleich der Katalog für Kinder ab drei Jahre nur eingeschränkt und für Kinder unter drei Jahren in vollem Umfang nicht gilt. Denn § 53 Abs. 1 SGB V setzt im Grundsatz für alle drei Gruppen ein gesteigertes Maß der Hilflosigkeit gerade bei den „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens” voraus, das anhand eigenständiger Kriterien zu ermitteln ist (vgl. das vom LSG zitierte Urteil des Senats vom 14. Dezember 1994 – 3/1 RK 65/93 – DOK 1995, 113 und BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 2 und 7). Insbesondere kann aus der Höhe der MdE zumindest nicht generell auf den Umfang der Funktionsausfälle und den Umfang der dadurch bei den Katalogtätigkeiten erforderlichen Pflege geschlossen werden.

4. Für die Zeit vom 22. Juni 1992 bis zum 31. März 1995, mit der sich die Revision vorrangig befaßt, hat das LSG zu Recht auf diejenigen von der Rechtsprechung in einem Katalog zusammengefaßten „gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens” abgehoben, die für Kinder ab drei Jahre gelten. Dem hält die Revision zu Unrecht entgegen, die Einengung auf die Katalogtätigkeiten könne bei Diabetes nicht eingreifen. Vielmehr zeigen das von der Rechtsprechung entwickelte System und die hierfür maßgebenden Gründe, daß das gesetzliche Tatbestandsmerkmal der „gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens” die Festlegung der Katalogtätigkeiten erfordert und ein Absehen von den Katalogtätigkeiten nur bei der Gruppe der kleineren Kinder zuläßt.

Die für die Beurteilung bei erwachsenen Versicherten zu berücksichtigenden Tätigkeiten des täglichen Lebens hat das BSG, ausgehend von den Richtlinien der Spitzenverbände der Krankenkassen, in einem Katalog von insgesamt achtzehn Verrichtungen zusammengefaßt (vgl. hierzu die Urteile des erkennenden Senats SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 bis 9). Der Katalog setzt sich zusammen aus vierzehn Verrichtungen des Grundbedarfs aus den Bereichen Mobilität, Körperpflege, Ernährung und Kommunikation sowie vier Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs.

Ergibt sich ein Hilfebedarf bei vierzehn oder mehr Verrichtungen, so ist Schwerpflegebedürftigkeit anzunehmen, ohne daß weitere Ermittlungen zur Intensität des jeweiligen Hilfebedarfs erforderlich sind. Den vom Gesetzgeber bewußt hoch angesetzten Maßstab (§ 53 Abs. 1 SGB V: Hilfebedarf „in sehr hohem Maße”) für die Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit erfüllt eine derart hilflose Person ohne weiteres; denn sie kann sich – wie im Gesetzgebungsverfahren vorausgesetzt (BT-Drucks 11/2237, S. 183) – in „nahezu allen Bereichen” nicht selbst versorgen. Besteht ein Hilfebedarf bei weniger als vierzehn, aber mindestens neun Verrichtungen, so kommt die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur in Betracht, wenn – was dann in einem zweiten Prüfungsschritt zu beurteilen ist – zusätzliche Umstände eine Gleichstellung des Hilfebedarfs mit demjenigen bei einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen rechtfertigen. Besteht ein Hilfebedarf nur bei weniger als neun Verrichtungen, sind Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach §§ 53ff. SGB V nicht zu gewähren; auf den Umfang des Hilfebedarfs bei einzelnen Verrichtungen kommt es beim ersten Prüfungsschritt nicht an. Eine derart schematische Erfassung und Bewertung des Hilfebedarfs ist angesichts der Vielzahl von Betroffenen zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung unabdingbar (vgl. hierzu BSGE 73, 146, 155 = SozR 3-2500 § 53 Nr. 4; BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 6).

Bei Säuglingen und Kleinkindern sieht der Senat von einer Beurteilung nach Maßgabe der Katalogtätigkeiten ab (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 7 und Nr. 8). Dabei werden als Säuglinge Kinder unter zwölf Monaten und als Kleinkinder Kinder zwischen ein und drei Jahren bezeichnet (entsprechend den Begriffsdefinitionen im Säuglingsnahrungswerbegesetz vom 10. Oktober 1994 ≪BGBl. I 2846≫). Säuglinge und Kleinkinder (Kinder unter drei Jahren) bedürfen indes bei den Katalogtätigkeiten, unabhängig von ihrer Krankheit oder Behinderung, allein aufgrund ihres Lebensalters in vollem Umfang fremder Hilfe. Bei ihnen konzentrieren sich die nach § 53 Abs. 1 SGB V maßgebenden „gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen” auf wenige Verrichtungen des Grundbedarfs. Dabei muß der zusätzliche Pflegebedarf täglich mindestens mehr als drei Stunden ausmachen. Eine Einbeziehung auch solcher Verrichtungen, die von Kleinkindern aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch gar nicht oder allenfalls ansatzweise eigenständig ausgeführt werden, würde dagegen nicht zu sachgerechten Ergebnissen führen (vgl. zum Ganzen BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 7).

Bei Kindern ab drei Jahre ist dagegen im Grundsatz von dem für Erwachsene aufgestellten Katalog von Verrichtungen (vgl. BSGE 73, 146, 154ff. = SozR 3-2500 § 53 Nr. 4 und BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 6) auszugehen. Der Katalog ist jedoch für die Anwendung auf Kinder ab drei Jahre zumindest bis zum Alter von acht Jahren (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 8) insoweit zu modifizieren, als die Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs bei der Erfassung der Verrichtungen, bei denen ein krankheits- bzw. behinderungsbedingter Pflegemehrbedarf besteht (erste Stufe der Ermittlung des Pflegebedarfs), unberücksichtigt bleiben. Bei Erwachsenen hat die Erfassung der Katalogtätigkeiten, bei denen ein Pflegebedarf besteht, den Sinn, diejenigen Fälle von einer weiteren, ins Detail gehenden Ermittlung des Hilfebedarfs auszunehmen, bei denen entweder schon die große Zahl der hilfebedürftigen Verrichtungen den Schluß zuläßt, daß Schwerpflegebedürftigkeit in jedem Fall vorliegt oder bei denen wegen der geringen Zahl solcher Verrichtungen die Notwendigkeit von Pflege „in sehr hohem Maße” von vornherein ausgeschlossen werden kann. Der Katalog nennt nur Verrichtungen, die von einem gesunden Erwachsenen ohne fremde Hilfe erbracht werden. Die Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs werden jedoch auch bei gesunden Kindern von den Betreuungspersonen und nicht von den Kindern selbst ausgeführt. Die Einbeziehung des hauswirtschaftlichen Bedarfs würde deshalb die Gewichtung zwischen den Verrichtungen, bei denen ein Mehrbedarf besteht und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, sachwidrig zu Lasten kranker bzw. behinderter Kinder verschieben. Bei Kindern ist deshalb zu prüfen, bei welchen der verbleibenden vierzehn Katalogtätigkeiten ein behinderungsbedingter Pflegebedarf besteht. Ist bei Kindern behinderungsbedingt auch bei den vier Tätigkeiten des hauswirtschaftlichen Bereichs ein höherer Aufwand erforderlich als bei gleichaltrigen gesunden Kindern, so muß der entsprechende Zeitbedarf im Rahmen der Gleichstellungssachverhalte, also auf der zweiten Stufe der Ermittlung des gesamten Pflegebedarfs, berücksichtigt werden.

Auch bei Kindern ab drei Jahre liegt ein Hilfebedarf „in sehr hohem Maße”, wie ihn § 53 Abs. 1 SGB V für den gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gerichteten Anspruch auf häusliche Pflegehilfe voraussetzt, stets dann vor, wenn bei elf oder mehr (etwa 80 v.H. und mehr) Verrichtungen ein zusätzlicher Hilfebedarf von erheblichem Gewicht gegenüber gleichaltrigen gesunden Kindern besteht. Tritt ein derartiger Mehraufwand bei sieben bis zehn Verrichtungen (50 bis etwa 80 vH) auf, liegt ein Hilfebedarf in sehr hohem Maße nur dann vor, wenn besondere Gleichstellungssachverhalte erfüllt sind, die den Schluß zulassen, daß der Pflegeaufwand ebenso gewichtig ist wie bei einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen. Als Gleichstellungssachverhalte kommen insbesondere in Betracht:

  • der zeitliche Umfang des Pflegebedarfs sowie
  • die körperliche und physische Belastung der Pflegeperson.

Der zeitliche Mehraufwand für Pflegeleistungen kann in diesem Bereich die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur dann rechtfertigen, wenn er den täglichen Hilfebedarf gesunder Kinder um etwa drei Stunden übersteigt. Besteht ein Hilfebedarf nur bei weniger als sieben Verrichtungen, sind Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach den §§ 53ff. SGB V nicht zu gewähren (vgl. zum Ganzen: BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 7 und 8).

5. Hiernach scheidet Schwerpflegebedürftigkeit schon deshalb aus, weil der Kläger nach den Feststellungen des LSG nur bei 2 der 14 Verrichtungen der Hilfe bedarf (Nahrungszubereitung und Nahrungsaufnahme).

Dies greift die Revision zwar mit der Argumentation an, im vorliegenden Falle „ermöglichten” die Hilfeleistungen der Mutter dem Kläger erst die vierzehn Verrichtungen des täglichen Lebens. Das überzeugt jedoch bezüglich der Hilfe bei Nahrungszubereitung und -aufnahme schon deshalb nicht, weil die Ernährung eines Menschen immer Voraussetzung für seine gesamte übrige Lebensentfaltung ist und mit dieser Argumentation eine nur relativ geringfügige Hilfestellung im Ernährungsbereich eine durch den tatsächlichen Pflegebedarf nicht gerechtfertigte Gewichtigkeit erlangen würde.

Die Revision macht geltend, daß der „Diabetes mellitus Patient” im kindlichen Alter wegen der Infektionsanfälligkeit erheblicher Hilfe bei der körperlichen Pflege im gesamten Hygienebereich bedürfe. Ein Pflegebedarf bestehe bei sieben Verrichtungen (Nahrungszubereitung und -aufnahme, Waschen, Mundpflege, Haarpflege und Benutzung der Toilette). Das Revisionsvorbringen genügt indes nicht den Anforderungen, die an eine zulässige Verfahrensrüge gegen die Tatsachenfeststellung des LSG, daß in den 5 zuletzt genannten Bereichen kein zusätzlicher Pflegebedarf bestehe, zu stellen sind. Die Revision benennt keine Handlung der Pflegeperson welche zusätzlich anfallen soll, sie benennt nicht die insoweit mögliche Ermittlungsmaßnahme und macht nicht deutlich, aus welchen Gründen sich das LSG zu dieser Ermittlungsmaßnahme hätte gedrängt fühlen müssen. In seinem Urteil vom 14. Dezember 1994, 3/1 RK 65/93 (DOK 1995, 113), zu einem ähnlich gelagerten Fall (Diabetes mellitus I im Kindergarten- und frühen Grundschulalter, Grad der Behinderung 50 sowie Merkzeichen H) ist der Senat ebenfalls von einem Hilfebedarf bei einer, höchstens zwei der Verrichtungen ausgegangen. Demnach muß es bei den Feststellungen des LSG über einen Pflegebedarf bei nur zwei Verrichtungen des täglichen Lebens bleiben (§ 163 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

6. Obgleich es nach dem Vorgesagten nicht mehr darauf ankommt, liegt auch kein besonderer Gleichstellungssachverhalt vor. Zum einen hat schon das LSG einen zeitlichen Umfang des Pflegebedarfs von täglich mindestens drei Stunden verneint. Soweit die Revision dagegen einen höheren Zeitaufwand bloß behauptet, muß es mangels Verfahrensrüge auch bei diesen Feststellungen des LSG bleiben. Im übrigen ist der Senat auch in dem ähnlich gelagerten Fall vom 14. Dezember 1994, 3/1 RK 65/93 (DOK 1995, 113), von einem Hilfebedarf von weniger als drei Stunden ausgegangen. Auch hier gelten die dortigen Ausführungen, daß der zeitliche Aufwand für die täglichen Insulinspritzen gering und daß für die Diabetesernährung ein umfangreiches Angebot an Fertignahrungsmitteln auf dem Markt ist.

Es fehlt auch an einer außergewöhnlichen körperlichen oder seelischen Belastung der Pflegeperson. Das ist für die Hilfestellungen bei den Blutzuckermessungen, bei der Nahrungszubereitung und bei der Nahrungsaufnahme evident. Die täglichen Injektionen mit gelegentlichen Reizreaktionen des Kindes mögen durchaus belastend, im Einzelfall auch erheblich belastend sein, außergewöhnlich belastend sind sie nicht.

Letztlich stellt auch die Revision im Kern nicht auf diese Hilfestellungen, sondern – wie das SG – auf die dauernde Rufbereitschaft der Mutter ab. Dabei ist richtig, daß die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” (1983, S. 33 RdNr 22) beim Diabetes mellitus Hilflosigkeit stets bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres annehmen, und zwar im Hinblick auf die Erforderlichkeit ständiger Überwachung (wegen der Gefahr eines hypoglykämischen Schocks, zur Insulindosierung, zur Einhaltung der Diät und wegen der notwendigen körperlichen Betätigung). Das LSG hat hierzu festgestellt, daß es sich zwar um eine Bereitschaft „rund um die Uhr” handele, nicht jedoch um eine ständige oder doch immer wieder auftretende tatsächliche Hilfeleistung. Auch der Senat hat schon früher entschieden, daß eine Einschränkung der Entfaltungsmöglichkeiten und die im Vergleich zu Eltern gesunder Kinder erheblich stärkere Bindung an die eigene Wohnung keinen Hilfebedarf i.S. von § 53 Abs. 1 SGB V darstellen (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr. 7). Es ist zwar nicht zu verkennen, daß diese Bereitschaft eine dauernde Lästigkeit mit erheblichen Einschränkungen für die Lebensführung der Mutter des Klägers darstellt. Gleichwohl ist es ihr aber möglich, insbesondere während der Zeit des Kindergartenbesuchs, trotz der Rufbereitschaft („Piepser”) vielen, wenn auch nicht allen Interessen nachzugehen, wie Gesprächen, Lesen, Fernsehen, Erledigen sonstiger Familienarbeiten, Gartenarbeit usw.

Die Revision macht zu Unrecht geltend, bei einem Erwachsenen, der wegen Eigengefährdung ständiger Aufsicht bedürfe, sei Schwerpflegebedürftigkeit gegeben, und das müsse auch bei Kindern gelten. Insoweit ist zwar zutreffend, daß bei Erwachsenen nicht zu prüfen ist, ob die Pflegeperson ihre Zeit sinnvoll nutzen kann. Indes ist die Gleichstellung von Erwachsenen und Kindern in diesem Zusammenhang unzulässig. Denn ein Erwachsener bedarf ohne Krankheit/Behinderung nicht der Aufsicht. Ein Kind der hier betroffenen Altersklasse bedarf demgegenüber auch ohne Krankheit ständiger Aufsicht. Entfällt der krankheitsbedingte Grund der Beaufsichtigung eines Erwachsenen, wird die Pflegeperson vollständig frei, im Falle eines Kindes bleibt die Pflegeperson zeitlich gebunden und es ändert sich vornehmlich nur ihre Möglichkeit, die Zeit der Beaufsichtigung auch im eigenen Interesse zu nutzen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI605845

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