Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Krankenversicherung. Off-Label-Use von Arzneimitteln auf Kosten der Krankenversicherung. Erweiternde verfassungskonforme Auslegung bei lebensbedrohlicher Erkrankung. Zur Beurteilung der Multiplen Sklerose. Polyglobin
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein zulassungsüberschreitender Off-Label-Use eines Arzneimittels zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherungs setzt voraus, dass aufgrund einer Phase III-Arzneimittelzulassungs-Studie oder gleichwertiger Erkenntnisse die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht. Diese Regelungen des Leistungsrechts sind nur dann im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anspruchserweiternd verfassungskonform auszulegen, wenn – hinausgehend über das Krankheitsschwere-Erfordernis für einen Off-Label-Use – eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende bzw. eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (stRspr; vgl. BSG, Urteil v. 14.12.2006, Az. B 1 KR 12/06 R).
2. Eine notstandsähnliche Situation, ein Zeitdruck bzw. ein zur Lebenserhaltung notwendiger akuter Behandlungsbedarf bestehen im Fall einer Multiplen Sklerose als chronisch progredienter Krankheit trotz der Schwere der Erkrankung nicht, weil mit dem Off-Label-Use nur versucht werden soll, auf die Krankheitsschübe Einfluss zu nehmen bzw. das Fortschreiten der Behinderung zu hemmen. Ein Off-Label-Use des Immunglobulin-Fertigarzneimittels “Polyglobin 10 %” kommt daher zur Behandlung von Multipler Sklerose nicht in Betracht.
Normenkette
SGB V § 13 Abs. 3 S. 1, § 2 Abs. 1, § 12 Abs. 1, § 27 Abs. 1 S. 2, § 31 Abs. 1 S. 1; AMG § 21 Abs. 1
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2005 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für ein selbst beschafftes, außerhalb seines bestimmungsgemäßen Indikationsgebiets angewandtes Arzneimittel (Off-Label-Use).
Die 1955 geborene, bei der beklagten Ersatzkasse versicherte Klägerin erkrankte 1981 an Multipler Sklerose (MS), die bei ihr in einer sekundär-chronischen Form mit Schüben besteht. Seit 1995 erhielt die Klägerin deswegen eine immunmodulatorische Therapie mit dem dafür zugelassenen Arzneimittel Betaferon. Im Verlaufe der Therapie kam es zu Nebenwirkungen (grippeähnliche Symptomatik, Verstärkung der Spastik), sodass die Klägerin im Januar 2000 über ihren behandelnden Vertragsarzt, den Neurologen und Psychiater B…, von der Beklagten begehrte, stattdessen mit intravenös zu verabreichenden Immunglobulinen (IvIg) versorgt zu werden. Die Klägerin erhielt aufgrund der Verordnungen ihres Arztes das IvIg-Präparat “Polyglobin 10 %” zunächst als Sachleistung; dieses Mittel verfügt zwar über eine Arzneimittelzulassung in Deutschland für verschiedene Indikationen, nicht jedoch für die Behandlung von MS. Nach Einschaltung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) lehnte die Beklagte die Kostenübernahme ab, weil das Mittel für die Behandlung von MS nicht zugelassen und die Therapie für die chronisch-progrediente MS nicht abgesichert sei (Bescheid vom 21.3.2000; Widerspruchsbescheid vom 21.9.2000). Deshalb hat die Klägerin das Sozialgericht (SG) angerufen.
Weil der Nervenarzt B… wegen seiner vertragsärztlichen Verordnungen von “Polyglobin 10 %” Arzneikostenregressen ausgesetzt war, verordnete er der Klägerin das Mittel vom 24.8.2001 an nur noch auf Privatrezept. Sie wandte von August 2001 bis Januar 2002 für die Beschaffung aus einer Apotheke insgesamt 4.776,98 € auf, deren Erstattung sie mit ihrer Klage begehrt. Hierzu hat sie ua geltend gemacht, sie leide an einer Spritzenphobie, sodass ihr tägliche subkutane Injektionen mit anderen Mitteln nicht möglich seien; andere Behandlungsmöglichkeiten bestünden nicht. Durch die IvIg-Therapie hätten sich die Befunde sowie ihre Bewegungs- und Gehfähigkeit deutlich verbessert.
Das SG hat die Klage abgewiesen, weil kein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V bestehe. Die Behandlung der sekundär-chronischen MS mit “Polyglobin 10 %” sei keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erforderlichen Voraussetzungen für einen Off-Label-Use seien nicht erfüllt. Es gebe keine Forschungsergebnisse, die eine Zulassung des Präparats für die Behandlung der Krankheit der Klägerin erwarten ließen. Selbst nach Mitteilung des behandelnden Arztes habe eine Studie Ende 2001 keinen therapeutischen Nutzen für entsprechende MS-Patienten ergeben. Auch in den “Leitlinien zur Behandlung der MS” der Deutschen Gesellschaft für Neurologie werde diese Therapie nicht empfohlen. Ein nur für den Einzelfall geltend gemachter Behandlungserfolg führe nicht zur Leistungspflicht (Urteil vom 4.9.2003).
Das Landessozialgericht (LSG) hat die dagegen gerichtete Berufung zurückgewiesen: Ein Off-Label-Use von “Polyglobin 10 %” scheide aus, weil aufgrund der Datenlage nach den zutreffenden Feststellungen des SG keine begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Obwohl sich ein Wandel bei der Behandlung der schubförmig verlaufenden frühen MS abzeichne, gelte dies nicht auch für die sekundär-chronische MS. Nach Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts/Bundesamt für Sera und Impfstoffe von Oktober 2005 würden immunmodulatorische Medikamente zwar inzwischen bereits früh nach einer MS-Diagnose eingesetzt; die Erteilung einer Arzneimittelzulassung für “schubförmige MS” erfordere aber eine Phase-III-Studie, die bislang nicht durchgeführt worden sei. Schließlich sei die Wirksamkeit bereits zum Zeitpunkt der Behandlung nicht ausreichend nachgewiesen und eine positive Entscheidung veranlasst gewesen (Urteil vom 15.12.2005).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 13 Abs 3 SGB V iVm § 2 Abs 1 Satz 3, § 12 Abs 1, § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 SGB V. Das LSG schließe sie rechtswidrig von notwendigen Leistungen zur Behandlung ihrer MS aus. Da “Polyglobin 10 %” über Jahre hinweg die Beschwerden ihrer schwerwiegenden Krankheit gelindert und sich als potenziell wirksam erwiesen habe, dürfe sie als wirtschaftlich weniger potente Versicherte nicht schutzlos dem Umstand ausgeliefert sein, dass bei ihr herkömmliche Arzneimittel unverträglich bzw wirkungslos seien. Geboten sei vielmehr eine verfassungsadäquate Anwendung und Auslegung des Leistungsrechts der GKV. Das Urteil des BSG vom 19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 – Sandoglobulin) halte angesichts des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.12.2005 – 1 BvR 347/98 (BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5) verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr Stand. MS sei als lebensbedrohende Krankheit anzusehen bzw stehe einer solchen wertungsmäßig gleich. – Nach ihren Angaben im Revisionsverfahren wird die Klägerin im Falle auftretender MS-Schübe aktuell mit Cortison-Präparaten behandelt.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2005 und des Sozialgerichts Berlin vom 4. September 2003 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 21. März 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2000 zu verurteilen, ihr 4.776,98 € abzüglich der zu leistenden gesetzlichen Zuzahlungen zu zahlen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. Dezember 2005 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Wirksamkeit des Mittels sei für die Krankheit der Klägerin nicht belegt. Der Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 wirke sich nicht aus, weil es hier nicht um eine lebensbedrohliche oder vorhersehbar tödlich verlaufende Krankheit gehe.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass sie von der Beklagten die Erstattung der in der Zeit von August 2001 bis Januar 2002 aufgewandten Kosten für das auf privatärztliche Verordnung hin selbst beschaffte Fertigarzneimittel “Polyglobin 10 %” nicht beanspruchen kann.
Die Voraussetzungen des allein in Betracht kommenden Kostenerstattungsanspruchs aus § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V (hier anzuwenden in der seit 1.7.2001 geltenden Fassung von Art 5 Nr 7 Buchst b Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – vom 19.6.2001, BGBl I 1046) sind nicht erfüllt. Danach ist eine Krankenkasse zur Kostenerstattung verpflichtet, wenn sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dem Versicherten dadurch für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind. Die Beklagte hat die Versorgung mit dem begehrten Arzneimittel in der hier betroffenen Zeit nicht zu Unrecht abgelehnt. Das folgt aus dem Leistungsrecht der GKV (1.), auch wenn es verfassungskonform ausgelegt wird (dazu 2.).
1. Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 SGB V reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3-2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; zuletzt: BSG, Urteil vom 14.12.2006 – B 1 KR 12/06 R – Idebenone, zur Veröffentlichung vorgesehen). Zu diesen Leistungen gehört die Versorgung mit dem Arzneimittel “Polyglobin 10 %” nicht.
a) Arzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt (vgl zB BSG, Urteil vom 4.4.2006 – B 1 KR 12/04 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 22 mwN – D-Ribose). Dies ist hier der Fall, weil “Polyglobin 10 %” für die Behandlung der MS nicht zugelassen ist.
b) Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von “Polyglobin 10 %” auf Kosten der GKV, das nur über eine Zulassung für die Behandlung anderer Krankheiten als für diejenige verfügt, an welcher die Klägerin leidet, muss ebenfalls ausscheiden. Der Senat hat bereits in seinem von den Vorinstanzen in Bezug genommenen Urteil vom 19.3.2002 – B 1 KR 37/00 R (BSGE 89, 184 ff = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 – Sandoglobulin) sowohl allgemein zu den Voraussetzungen für einen solchen Off-Label-Use ausführlich Stellung genommen als auch speziell für einen an MS (dort in einer primär chronisch-progredienten Verlaufsform) leidenden Versicherten den Anspruch auf eine intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen im Einzelnen verneint. Ein Off-Label-Use kommt nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (ebenso zuletzt – diese Rspr auch gegen Kritik aus dem Schrifttum verteidigend – Urteil vom 26.9.2006 – B 1 KR 1/06 R – SozR 4-2500 § 31 Nr 5 RdNr 17 f – Ilomedin, auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen).
Auch wenn es sich bei der bei der Klägerin bestehenden Form der MS um eine die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Krankheit handelt und es zumutbare Behandlungsalternativen wegen aufgetretener erheblicher Nebenwirkungen von Betaferon (vgl aber noch BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 – Sandoglobulin) nicht zu geben scheint (so die Feststellungen der Vorinstanzen), fehlt es jedenfalls an der für einen Off-Label-Use auf Kosten der GKV erforderlichen Erfolgsaussicht. Wie der Senat (aaO und Urteil vom 26.9.2006 – B 1 KR 1/06 R – RdNr 19) dargelegt hat, kann von hinreichenden Erfolgsaussichten dann ausgegangen werden, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt worden ist und Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht worden sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht worden sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht. Die letztgenannten Voraussetzungen waren im Sandoglobulin-Urteil des Senats – bei dem die Versorgung mit Immunglobulinen in der Zeit von September 1997 bis zur Verkündung des Urteils am 19.3.2002 im Streit war – nicht erfüllt. Die Voraussetzungen sind damit gleichermaßen nicht erfüllt bezogen auf den im Falle der Klägerin streitigen Behandlungszeitraum von August 2001 bis Januar 2002, zumal neue, auf diesen Zeitpunkt zurückwirkende Erkenntnisse nicht vorliegen. Der Senat hat im genannten Urteil darauf abgestellt, dass nach den vom Paul-Ehrlich-Institut veröffentlichten Ergebnissen eines internationalen Symposiums von November 2001 für die sekundär-progressive MS ebenfalls kein wissenschaftlicher Konsens über den Nutzen einer Behandlung mit Immunglobulinen bestand (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8).
Mit diesen Erkenntnissen stehen die von der Revision nicht beanstandeten, vom LSG in Bezug genommenen Feststellungen des SG in Einklang. Die Vorinstanzen haben sich insbesondere auf Stellungnahmen des Paul-Ehrlich-Instituts von Oktober 2005 und die “Leitlinien zur Behandlung der MS” (Stand April 2002) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie gestützt und dargelegt, dass sich selbst für die Folgezeit kein Wandel in der Datenlage für die sekundär-chronische MS abzeichnete, an der die Klägerin leidet. Hinzu kommt das hier fehlende – auch vom LSG hervorgehobenen – Erfordernis, dass die anspruchsauslösenden positiven Erkenntnisse bereits zum Zeitpunkt der Behandlung der Klägerin hätten vorliegen müssen (vgl zuletzt BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN – Wobe-Mugos E…, vgl auch Urteil vom 26.9.2006 – B 1 KR 3/06 R – SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN – Neuropsychologische Therapie, zur Veröffentlichung vorgesehen). Die neu erhobenen Daten zur Wirksamkeit von IvIg bei schubförmiger MS führten nur dazu, dass immunmodulatorische Medikamente schulmäßig inzwischen frühzeitig nach der Diagnosestellung eingesetzt werden, jedoch kann dieser Arzneimitteleinsatz nicht auf die sekundär-chronische MS übertragen werden; eine Phase-III-Arzneimittelzulassungs-Studie ist bezogen auf die Krankheit der Klägerin und das streitbefangene Arzneimittel bislang nicht mit Erfolg durchgeführt worden. Es sind auch keine Forschungsergebnisse ersichtlich, die eine Zulassung des Präparats zur Behandlung der sekundär-chronischen MS bereits in den Jahren 2001/2002 erwarten ließen. Selbst der behandelnde Arzt der Klägerin hat im Klageverfahren mitgeteilt, dass eine als Zulassungsstudie geplante Studie des Herstellers von “Polyglobin 10 %” Ende 2001 keinen therapeutischen Nutzen für Patienten mit primär- oder sekundär-chronischer MS ergeben habe. Schließlich wurde die begehrte Therapie auch in den “Leitlinien zur Behandlung der MS” (Stand April 2002) der Deutschen Gesellschaft für Neurologie bei sekundär progredienter MS aufgrund der Forschungslage nicht empfohlen. Damit ist – entsprechend den Erkenntnissen des Sandoglobulin-Urteils des Senats – gleichermaßen auszuschließen, dass seinerzeit außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens schon Erkenntnisse vorlagen, die denjenigen einer Phase-III-Studie gleichstehen (vgl in Bezug auf dieses alternative Erfordernis: Urteil des Senats vom 26.9.2006 – B 1 KR 1/06 R – SozR 4-2500 § 31 Nr 5 RdNr 24 – Ilomedin, zur Veröffentlichung vorgesehen).
c) Auch weitere von der Klägerin vorgetragene Gesichtspunkte verhelfen der Revision nicht zum Erfolg. Um einen sog Seltenheitsfall, in dem sich eine Krankheit und ihre Behandlung einer systematischen Erforschung entzieht und bei dem eine erweiterte Leistungspflicht der Krankenkassen in Betracht zu ziehen wäre (vgl dazu BSGE 93, 236 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 21 – Visudyne), handelt es sich vorliegend nicht. Der von der Klägerin speziell für ihren Einzelfall geltend gemachte Behandlungserfolg ist unerheblich, weil die streitige Therapie wissenschaftlich anerkannt wirksam sein muss, um den sich für den Behandlungs- und Versorgungsanspruch eines Versicherten aus § 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V ergebenden Einschränkungen genügen zu können; der Anspruch umfasst folglich nur solche Leistungen, die zweckmäßig und wirtschaftlich sind und deren Qualität dem allgemein anerkannten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entspricht. Hierzu genügt es nicht, dass die Arzneimitteltherapie bei einem Versicherten nach seiner eigenen Ansicht oder derjenigen seiner Ärzte positiv gewirkt haben soll und ggf herkömmlichen Arzneimitteln vorzuziehen ist (vgl zB BSGE 76, 194, 198 = SozR 3-2500 § 27 Nr 5 S 11 – Remedacen). Zu Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels muss es vielmehr grundsätzlich zuverlässige wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen in dem Sinne geben, dass der Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Anzahl von Behandlungsfällen belegt ist (vgl zB BSGE 93, 1, 2 = SozR 4-2500 § 31 Nr 1, jeweils RdNr 7 mwN – Immucothel; zuletzt BSGE 95, 132 RdNr 18 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 25 mwN – Wobe-Mugos E). Auch bei einer erfolgten Arzneimittelanwendung sind Spontanheilungen und wirkstoffunabhängige Effekte mit in Rechnung zu stellen (vgl BSG, Urteil vom 4.4.2006 – B 1 KR 7/05 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 4 RdNr 42 mwN – Tomudex ≪auch zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen≫).
2. Zu keinem anderen Ergebnis führt schließlich aufgrund des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 (1 BvR 347/98 – BVerfGE 115, 25 = SozR 4-2500 § 27 Nr 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 – immunbiologische Therapie) die verfassungskonforme Auslegung derjenigen Normen des SGB V, die einem verfassungsrechtlich begründeten Anspruch auf Arzneimittelversorgung entgegenstehen (vgl dazu BSG, Urteil vom 4.4.2006 – B 1 KR 7/05 R, SozR aaO RdNr 23 – Tomudex).
a) Diese Auslegung hat zur Folge, dass im Rahmen der Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit ausnahmsweise bejaht werden müssen, obwohl ein Mittel bzw eine Behandlungsmethode an sich von der Versorgung zu Lasten der GKV ausgeschlossen ist. Die verfassungskonforme Auslegung setzt ua voraus, dass eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende (vgl BSG, ebenda RdNr 21 und 30 mwN) oder eine zumindest wertungsmäßig damit vergleichbare Erkrankung vorliegt (vgl BSG, Urteil vom 4.4.2006 – B 1 KR 12/04 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 7 RdNr 31 f – D-Ribose). Daran fehlt es.
Der Senat hat insoweit zuletzt in seinem Urteil vom 14.12.2006 – B 1 KR 12/06 R (Idebenone, RdNr 17 ff, zur Veröffentlichung vorgesehen) ausgeführt, dass mit den genannten Krankheits-Kriterien des BVerfG eine strengere Voraussetzung umschrieben wird, als sie mit dem Erfordernis einer “schwerwiegenden” Erkrankung für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist. Denn hieran knüpfen weitergehende Folgen an. Ohne einschränkende Auslegung ließen sich fast beliebig vom Gesetzgeber bewusst gezogene Grenzen überschreiten. Entscheidend ist, dass das vom BVerfG herangezogene Kriterium bei weiter Auslegung sinnentleert würde, weil nahezu jede schwere Krankheit ohne therapeutische Einwirkung irgendwann auch einmal lebensbedrohende Konsequenzen nach sich zieht. Das kann aber ersichtlich nicht ausreichen, das Leistungsrecht des SGB V und die dazu ergangenen untergesetzlichen Regelungen nicht mehr als maßgebenden rechtlichen Maßstab für die Leistungsansprüche der Versicherten anzusehen (vgl auch BSG, Urteil vom 26.9.2006 – B 1 KR 3/06 R – RdNr 34 – Neuropsychologische Therapie).
Bereits die Anforderungen an das Bestehen einer “schwerwiegenden” Erkrankung für einen Off-Label-Use sind erheblich. Nicht jede Art von Erkrankung kann den Anspruch auf eine Behandlung mit dazu nicht zugelassenen Arzneimitteln begründen, sondern nur eine solche, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt. Auch ein Off-Label-Use bedeutet nämlich, Arzneimittel für bestimmte Indikationen ohne die arzneimittelrechtlich vorgesehene Kontrolle der Sicherheit und Qualität einzusetzen, die in erster Linie Patienten vor inakzeptablen unkalkulierbaren Risiken für die Gesundheit schützen soll. Ausnahmen können schon insoweit nur in engen Grenzen aufgrund einer Güterabwägung anerkannt werden, die der Gefahr einer krankenversicherungsrechtlichen Umgehung arzneimittelrechtlicher Zulassungserfordernisse entgegenwirkt, die Anforderungen des Rechts der GKV an Qualität und Wirksamkeit der Arzneimittel (§ 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V) beachtet und den Funktionsdefiziten des Arzneimittelrechts in Fällen eines unabweisbaren, anders nicht zu befriedigenden Bedarfs Rechnung trägt (so zum Ganzen BSG, Urteil vom 14.12.2006 – B 1 KR 12/06 R – RdNr 18 mwN – Idebenone).
Der institutionelle Schutz, den das für Deutschland erforderliche Arzneimittelzulassungsverfahren bietet, fehlt auch bei einem systematisch betriebenen Off-Label-Use, weil in derartigen Fällen die gebotene indikationsbezogene Arzneimittelzulassungsprüfung nicht stattgefunden hat. Damit aber drohen den Versicherten auch hier Gesundheitsgefahren, vor denen sie das Zulassungsverfahren gerade schützen will. Soll trotzdem – noch hinausgehend über die dargestellten einschränkenden Voraussetzungen der Sandoglobulin-Rechtsprechung für einen Off-Label-Use – unter Berufung auf den verfassungsrechtlich gebotenen Gesundheitsschutz ein Anspruch auf die zulassungsüberschreitende Anwendung eines Arzneimittels zu Lasten der GKV begründet werden, ist auch darauf abzustellen, ob sich die Gefahr eines tödlichen Krankheitsverlaufs schon in näherer oder erst in ganz ferner, noch nicht genau absehbarer Zeit zu konkretisieren droht. Verbleibt durch einen langen, verzögerten Krankheitsverlauf jahrzehntelang Zeit zur Therapie, ist in Rechnung zu stellen, dass die im Zeitablauf typischerweise voranschreitenden medizinischen und pharmakologischen Erkenntnisse in Zukunft Therapiemöglichkeiten eröffnen und (positive wie negative) Ergebnisse zu Tage fördern können, welche aktuell noch nicht verfügbar sind. Dann aber ist es auch verfassungsrechtlich hinnehmbar, den von einer schweren Krankheit betroffenen Patienten bei fehlender Akut-Problematik trotz der damit verbundenen Belastungen und Unzuträglichkeiten in der Regel abzuverlangen, vor der Inanspruchnahme der GKV für unkonventionelle Pharmakotherapien zunächst das Vorliegen einer auf solchen Forschungsergebnissen gestützten Zulassung der beanspruchten Fertigarzneimittel abzuwarten. Dementsprechend hat das BSG die qualifizierten Erfordernisse einer lebensbedrohlichen Krankheit iS des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 (aaO) verneint zB bei einem Prostata-Karzinom im Anfangsstadium (Urteil vom 4.4.2006 – B 1 KR 12/05 R, SozR 4-2500 § 27 Nr 8 RdNr 36 – Interstitielle Brachytherapie mit Permanent-Seeds), bei einer in 20 bis 30 Jahren drohenden Erblindung (Beschluss vom 26.9.2006 – B 1 KR 16/06 B) sowie bei einer langsam progredient verlaufenden Friedreich'schen Ataxie mit über Jahre hinweg möglichen stabilen Symptomen (Urteil vom 14.12.2006 – B 1 KR 12/06 R – Idebenone).
Gerechtfertigt ist eine verfassungskonforme Auslegung der einschlägigen gesetzlichen Regelungen nur, wenn eine notstandsähnliche Situation im Sinne einer in einem gewissen Zeitdruck zum Ausdruck kommenden Problematik vorliegt, wie sie für einen zur Lebenserhaltung bestehenden akuten Behandlungsbedarf typisch ist. Das bedeutet, dass nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen muss, dass sich der voraussichtlich tödliche Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums mit großer Wahrscheinlichkeit verwirklichen wird. Ähnliches kann für den ggf gleichzustellenden, akut drohenden und nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorgans oder einer herausgehobenen Körperfunktion gelten. Solches ist bei einer bestehenden MS in sekundär-progredienter Verlaufsform trotz der unbestreitbaren Schwere dieser Krankheit nicht anzunehmen. Wie die MDK-Ärzte Dres. Hanisch und Hoffmann in ihrem in den Beklagtenakten enthaltenen, der Klägerseite zur Kenntnis gegebenen Gutachten “Einsatz von Immunglobulinen bei MS” (Stand Dezember 2005, Seite 9/10) – gestützt auf umfangreiche medizinische Fachliteratur-Recherchen – ausgeführt haben, benötigen ca 50 % der MS-Patienten nach 15 Jahren Hilfe beim Laufen und beträgt die durchschnittliche Dauer vom Beginn der Krankheit bis zur Rollstuhlabhängigkeit 29,9 Jahre. Die durchschnittliche Zeit von Krankheitsbeginn bis zum Tod beträgt in der Regel mindestens 30-40 Jahre, ohne dass die MS dann selbst idR unmittelbare Todesursache ist; die durchschnittliche Überlebenswahrscheinlichkeit von MS-Patienten ist zehn Jahre nach Krankheitsbeginn im Vergleich mit der Normalbevölkerung noch um etwa zehn Jahre reduziert. Ausgehend von diesen auch von der Revision nicht beanstandeten Erkenntnissen handelt es sich bei der sekundär-progredienten MS nicht um eine Krankheit, die von ihrem akuten Behandlungsbedarf her derjenigen gleichsteht, welche dem vom BVerfG am 6.12.2005 entschiedenen Fall der Duchenne'schen Muskeldystrophie zugrunde lag. Während die von diesem Leiden betroffenen Patienten zumeist das 20. Lebensjahr nicht erleben (vgl BSGE 81, 54, 55 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4), besteht für Patienten mit sekundär-progredienter MS eine deutlich andere Situation. Die letztgenannte Krankheit wird charakterisiert durch eine chronische, zT schubartig verlaufende Progredienz. Eine gezielt kausale Therapie gibt es insoweit nicht, vielmehr kann – auch mit den von der Klägerin begehrten, im Übrigen nicht nebenwirkungsfreien Immunglobulinen – nur versucht werden, die Schubrate bzw die Schwere der Schübe zu vermindern bzw die Progression der Behinderung zu hemmen (vgl MDK-Gutachten S 11, 14, 15 f).
Die Klägerin ist im Falle auftretender Krankheitsschübe zudem nicht gänzlich unversorgt, sondern wird dann zur Linderung mit Cortison behandelt. Eine zulassungsüberschreitende Anwendung von “Polyglobin 10 %” unter Lockerung der zum Schutz der Patienten und der Versicherten der GKV geschaffenen speziellen gesetzlichen Regelungen über die Arzneimittelversorgung muss vor diesem Hintergrund ausscheiden.
Mit Hilfe des Beschlusses des BVerfG vom 6.12.2005 lässt sich auch nicht die rechtliche Schranke überwinden, dass für einen auf Kosten der GKV zulässigen Off-Label-Use bereits zum Zeitpunkt der Behandlung die oben dargestellten anspruchsauslösenden Erkenntnisse vorliegen müssen (vgl dazu bereits BSG SozR 4-2500 § 31 Nr 4 RdNr 31; zuvor außerhalb der Fälle grundrechtsorientierter Auslegung: stRspr, vgl BSGE 81, 54, 58 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 S 13 f; SozR 3-2500 § 135 Nr 12 S 56 f ≪für Festlegungen in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen≫; BSGE 93, 236, 243 = SozR 4-2500 § 27 Nr 1 RdNr 19; BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN ≪für Pharmakotherapien≫). Diese allgemeine Voraussetzung des Leistungsrechts der GKV gilt unabhängig davon, ob die zu behandelnde Krankheit eine besondere Schwere und Lebensbedrohung aufweist. Das Verfassungsrecht gebietet es nicht, eine Krankenkasse für leistungspflichtig zu erklären und zur Kostenerstattung zu verurteilen, wenn sich eine zum Behandlungszeitpunkt aufgestellte, den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechende Prognose über die Erfolgsaussichten einer bestimmten Behandlung aufgrund zwischenzeitlich gewonnener neuer Erkenntnisse ex post als (möglicherweise) “medizinisch überholt” erweist.
Von daher ist es für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der in den Jahren 2001/2002 angefallenen Therapiekosten ohne Belang, dass die einschlägigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Behandlung der MS (im Internet unter www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/030-050.htm – recherchiert am 28.2.2007) inzwischen geändert worden sind (3. überarbeitete Aufl vom 16.10.2004). Im Übrigen heißt es auch in diesen Leitlinien speziell zur sekundär-progredienten MS unter Bezugnahme auf eine Studie aus dem Jahr 2004 (Hommes et al, “Intraveneous immunoglobulin in secondary progressive multiple sclerosis ≪SMPS≫: randomized placebo-controlled trial”, Lancet 364 ≪9440≫, 1149-1156) weiterhin, dass die intravenöse Verabreichung von Immunglobulinen für diese Verlaufsform der MS nicht empfohlen werden könne.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
KrV 2007, 189 |
SGb 2007, 287 |