Entscheidungsstichwort (Thema)
Regelaltersrente. Rückwirkender Rentenbeginn. Sozialrechtlicher Herstellungsanspruch. Vierjahresfrist
Leitsatz (redaktionell)
Die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 SGB X ist entsprechend auf einen Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs anzuwenden (Fortsetzung der Rechtsprechung des BSG, vgl. SozR 3-1300 § 44 Nr. 25; BSGE 87, 280, 288 f). Es kann daher im Einzelfall dahingestellt bleiben, ob der Leistungsträger eine Nebenpflicht verletzt oder unmittelbar gegen anwendbares Recht verstoßen hat.
Normenkette
SGB X § 44 Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 2005 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 9. Dezember 2004 zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander für das Berufungs- und Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beklagte wendet sich gegen ihre Verurteilung, dem Kläger auch für den Zeitraum Januar 1994 bis Dezember 1996 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zu zahlen.
Den Antrag des Klägers auf Rente wegen EU bzw Berufsunfähigkeit (BU) von Januar 1991 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 19.6.1991; Widerspruchsbescheid vom 10.12.1991). Zur Begründung führte sie aus, der Kläger erfülle nicht die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen BU bzw EU nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Nachdem die Kindererziehungszeit für die am 25.9.1981 geborene Tochter S… zunächst der Mutter zugeordnet worden war (Bescheid vom 17.11.1987 an die Ehefrau des Klägers), gaben die Eheleute im Januar 1991 gleichzeitig mit der Stellung des Rentenantrags durch den Kläger eine gemeinsame Erklärung über die Zuordnung von Kindererziehungs- und Berücksichtigungszeiten beim Vater ab. Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 22.8.1991 an die Ehefrau des Klägers den Bescheid vom 17.11.1987 auf und merkte die Kindererziehungszeit für die Tochter S… nicht mehr dem Konto der Ehefrau des Klägers vor.
Im Juli 2001 beantragte der Kläger, die die Gewährung der Rente ablehnenden Bescheide zurückzunehmen; seit dem 1.1.1992 seien die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Rente wegen EU erfüllt, weil für seine Tochter S… eine Berücksichtigungszeit anzuerkennen sei. Die Beklagte lehnte den Antrag auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung zunächst ab (Bescheid vom 7.12.2001), erkannte jedoch mit Bescheid vom 10.12.2001 beim Kläger für die Erziehung der Tochter S… eine Berücksichtigungszeit vom 25.9.1981 bis zum 24.9.1991 an.
Dem Widerspruch des Klägers gegen die Ablehnung der Rente wegen EU/BU half die Beklagte teilweise ab und bewilligte ab 1.7.2001 – dem Beginn des Antragsmonats – Rente wegen voller Erwerbsminderung (Bescheid vom 20.9.2002). Die Widerspruchsstelle gab dem Widerspruch darüber hinaus teilweise statt; sie führte aus, “auf Grund des Antrags vom 25.01.1991 in Verbindung mit dem Antrag auf Kindererziehungszeiten vom 22.08.1991” bestehe ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch; über die bisherige Entscheidung hinaus sei dem Kläger Rente vier Jahre rückwirkend (soweit nicht verjährt) zu gewähren; im Übrigen wies sie den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 17.12.2002). Durch Bescheid vom 12.2.2003 bewilligte die Beklagte dem Kläger auf Grund der Entscheidung über den Widerspruch ab Januar 1992 Rente wegen EU bis zur Vollendung des 65. Lebensjahrs; die Rente sei ab Januar 1997 zu zahlen.
Das Sozialgericht Stuttgart (SG) hat die auf Gewährung von Rente wegen EU bereits ab Januar 1994 gerichtete Klage abgewiesen: Bei dem dem Kläger zustehenden Anspruch auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gelte die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) entsprechend (Bezugnahme auf Urteil des 9. Senats des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 14.2.2001, BSGE 87, 280 = SozR 3-1200 § 14 Nr 31). Somit bestehe der Zahlungsanspruch des Klägers für maximal vier Jahre vor dem Antrag im Jahre 2001, dh – wie von der Beklagten bewilligt – erst ab 1.1.1997.
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 12.2.2003 verurteilt, ihm Rente wegen EU bereits ab 1.1.1994 zu zahlen. Es ist dem Urteil des 4. Senats des BSG vom 6.3.2003 (BSGE 91,1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1) gefolgt, wonach die Regelung des § 44 Abs 4 SGB X auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht entsprechend anzuwenden sei. Die Einrede der Verjährung habe die Beklagte nicht erhoben.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 44 Abs 4 SGB X. Die Rechtsmeinung des 4. Senats des BSG in seinem Urteil vom 6.3.2003 (aaO), wonach § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X in allen Erstfeststellungsverfahren nicht gelte, vermöge nicht zu überzeugen. Den Regelungen der § 44 Abs 4, § 48 Abs 4 SGB X und § 45 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB I) sei der Wille des Gesetzgebers zu entnehmen, dass Sozialleistungen für die Vergangenheit nur in begrenztem Umfang zu erbringen seien. Den Rechtsnormen der § 99 des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI), § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X und § 45 SGB I könne demgegenüber kein lückenfreies Regelungskonzept zur rückwirkenden Leistungserbringung entnommen werden. Vielmehr sei die Auffassung des 9. Senats des BSG (Bezug auf BSG vom 14.2.2001, aaO) zutreffend, wonach auch bei erstmaliger Gewährung einer Rente für die Vergangenheit auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die rückwirkende Zahlung analog § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X zu begrenzen sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17.11.2005 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 9.11.2004 zurückzuweisen.
Der Kläger hat sich in der Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Auf Grund des Einverständnisses nach § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung.
Streitgegenstand ist ausschließlich, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger auch für die Zeit vom 1.1.1994 bis 31.12.1996 Rente wegen EU zu zahlen, weil das LSG nur hinsichtlich dieses Zeitraums das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung verurteilt hat. Nicht streitbefangen ist der Zeitraum ab 1.1.1997, weil die Beklagte ab diesem Zeitpunkt Rente wegen EU leistet und der Kläger insoweit keine weiter gehende Klage verfolgt hat (wie sich aus der Zusammenschau der Anträge der Beteiligten und dem Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung ergibt). Ebenfalls nicht streitgegenständlich ist die Zeit vor dem 1.1.1994, weil der Kläger hinsichtlich dieses Zeitraums keine Klage und auch nicht etwa Anschlussrevision mit dem Ziel einer Klageerweiterung erhoben hat.
Gegenstand des Verfahrens ist jedenfalls der Bescheid der Beklagten vom 7.12.2001 in der Gestalt des Bescheids vom 20.9.2002 und des Widerspruchsbescheids vom 17.12.2002 sowie des Bescheids vom 12.2.2003. Letzter wurde gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens.
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG, das die Beklagte zur Zahlung von Rente wegen EU auch für die Zeit vom 1.1.1994 bis 31.12.1996 verurteilt hat, war aufzuheben, und die Berufung des Klägers war damit zurückzuweisen. Dem Kläger steht Rente wegen EU für diesen Zeitraum nicht zu. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob dem Anspruch des Klägers die Vorschrift des § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X (nach Abs 4 der Vorschrift werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist) unmittelbar entgegensteht, weil es sich materiell bei dem angegriffenen Bescheid um einen Bescheid über einen Zugunstenantrag handelt, bei dem die Leistung maximal vier Jahre vor dem Antrag oder der Zugunstenentscheidung gewährt werden kann, oder der Anspruch des Klägers auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs analog der Vorschrift des § 44 Abs 4 Satz 1 SGB X zu begrenzen ist.
Waren die og Bescheide aus dem Jahr 1991 rechtswidrig, weil sie nicht bereits die dem Kläger jedenfalls ab 1.1.1992 zustehende Rente gewährt haben, war der vom Kläger im Juli 2001 gestellte Antrag auf Rücknahme dieser Bescheide gerichtet und somit die Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X unmittelbar anwendbar. Waren die genannten Bescheide jedoch nicht rechtswidrig, so hat die Beklagte jedenfalls gegen ihre Pflicht verstoßen, den Kläger spätestens anlässlich der Erteilung des Widerspruchsbescheids vom 10.12.1991 auf die Möglichkeit hinzuweisen, sich durch einen Antrag bis Ende April 1992 (§ 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI) die ihm ab Januar 1992 zustehende Rentenzahlung zu sichern (§ 14 SGB I). Auch hieraus folgt jedoch keine weitere Rückwirkung (s hierzu unten). Denn dem Kläger steht auch bei Vorliegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs eine Rentenzahlung nicht über vier Jahre vor Antrag im Jahre 2001 zu, dh nicht für die streitige Zeit von 1994 bis 1996.
Ebenfalls offen bleiben kann, ob dem Kläger Rente bereits vor dem 1.1.1992 (also nach den Bestimmungen der RVO) zustand, die Bescheide des Jahres 1991 also aus diesem Grunde rechtswidrig waren. Denn eine Rentenzahlung vor 1994 ist nicht streitig. Ebenso ist es ohne Belang, ob dem Kläger bei Rentenbewilligung vor 1992 für die Zeit ab 1997 eine höhere oder eine niedrigere Rente zustünde. Stünde ihm eine höhere Rente zu, wäre dies unerheblich, weil nicht über ein Rechtsmittel des Klägers (weder für die Zeit vor noch für die Zeit nach 1997) zu entscheiden ist. Stünde ihm eine niedrigere Rente zu, wäre dies ebenfalls nicht entscheidend, weil die Beklagte nicht mehr erreichen kann als die Abweisung der nur noch streitigen Klage für die Zeit vor 1997.
Das LSG ist davon ausgegangen, dass der Kläger einen Anspruch auf Herstellung des Zustands hat, wie er bei Stellung eines Antrags nach In-Kraft-Treten des SGB VI vorgelegen hätte, wenn die Beklagte ihn rechtzeitig beraten hätte. Einzelheiten sind insoweit für den Senat nicht entscheidungserheblich, zumal die Beklagte den Herstellungsanspruch dem Grunde nach einräumt und entsprechende Leistungen gewährt. Die Revision der Beklagten bezieht sich lediglich auf den Umfang der aus einem derartigen Herstellungsanspruch folgenden Leistungspflichten. Der Kläger hat jedenfalls keinen weiter gehenden Leistungsanspruch als von der Beklagten ab 1.1.1997 anerkannt, dh nicht für die Zeit von 1994 bis 1996.
Auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ist die rückwirkende Leistungserbringung auf vier Jahre begrenzt. Die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB VI ist insoweit entsprechend anzuwenden; dies hat der Senats mit Urteil vom selben Tag unter dem Az B 13 R 58/06 R klargestellt (auf die Begründung in diesem Urteil im Einzelnen wird verwiesen). Der Senat hat sich der bisherigen Rechtsprechung des BSG seit In-Kraft-Treten des SGB X angeschlossen, dass ein Anspruch auf rückwirkende Leistungserbringung auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ebenfalls der Vier-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 SGB X unterfällt (vgl zuletzt BSG 14. Senat vom 28.1.1999, SozR 3-1300 § 44 Nr 25; BSG 9. Senat vom 14.2.2001, BSGE 87, 280, 288 f = SozR 3-1200 § 14 Nr 31). Der bisher nur außerhalb tragender Gründe geäußerten entgegenstehenden Rechtsansicht des 4. Senats des BSG (zuletzt im Urteil vom 6.3.2003, BSGE 91, 1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1 RdNr 71) hat er sich nicht angeschlossen.
Zur Begründung dieser Rechtsmeinung hat die bisherige Rechtsprechung des BSG darauf abgestellt, dass sowohl bei der nachträglichen Korrektur eines bindenden belastenden Verwaltungsakts (§ 44 SGB X) als auch beim sozialrechtlichen Herstellungsanspruch eine vergleichbare Interessenlage bestehe. In beiden Fällen wird vom Leistungsträger das Recht unrichtig angewandt, und in beiden Fällen hat dies zur Folge, dass der Leistungsberechtigte nicht die ihm zustehende Leistung erhält. Auf Verschulden des Leistungsträgers kommt es nicht an. Aus diesen Gründen kann es für den zeitlichen Umfang der rückwirkenden Leistung nicht wesentlich sein, ob der Leistungsträger eine Leistung durch Verwaltungsakt zu Unrecht versagt oder er aus anderen ihm zuzurechnenden Gründen den Berechtigten nicht in den Leistungsgenuss hat kommen lassen. Die Rechtsähnlichkeit der Fallgruppen erfordert daher die Gleichbehandlung. Der 9. Senat des BSG hat insbesondere darauf hingewiesen, dass die Verletzung einer Nebenpflicht des Leistungsträgers (zB einer Beratung) nicht weiter reichen könne als der Anspruch nach § 44 SGB X als Rechtsfolge der Verletzung einer Hauptpflicht (Leistungsgewährung durch rechtmäßigen Verwaltungsakt, vgl zB BSGE 87, 280, 288 = SozR 3-1200 § 14 Nr 31). Für die Gleichbehandlung der Fälle einer nachträglichen Korrektur eines bindenden Verwaltungsakts mit denen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch spricht auch, dass hiermit im Grenzbereich beider Rechtsinstitute – wie zB gerade im vorliegenden Fall – unterschiedliche Rechtsfolgen vermieden werden. Weiter ist zu beachten, dass in Anwendungsfällen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X die Rückwirkung zu Gunsten des Betroffenen auf vier Jahre begrenzt ist (Abs 4 der Vorschrift). Ein abschließendes Regelungskonzept durch § 99 SGB VI, § 44 Abs 4 SGB X und § 45 SGB I vermochte der Senat im Gegensatz zur Auffassung des 4. Senats (vgl SozR 3-2600 § 99 Nr 5 und BSGE 91, 1 = SozR 4-2600 § 115 Nr 1) nicht zu erblicken. Weil der Gesetzgeber bisher von einer gesetzlichen Regelung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs abgesehen hat, besteht auch keine Sperre, ein richterrechtlich entwickeltes Rechtsinstitut wie den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch durch analoge Übernahme einer neuen gesetzlichen Regelung wie der des § 44 Abs 4 SGB X fortzuentwickeln.
Der Senat weist jedoch darauf hin, dass auf der Grundlage der Rechtsmeinung des LSG dieses zunächst der Frage hätte nachgehen müssen, ob die rechtsverbindlichen Ablehnungsbescheide des Jahres 1991 bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig waren. In diesem Fall wäre jedenfalls nur die vierjährige Rückwirkung nach § 44 Abs 4 SGB X in Betracht gekommen.
Ob die og Bescheide bereits nach den Vorschriften der RVO rechtswidrig waren, hat das LSG nicht geprüft. Nach seinen Feststellungen kann nicht abschließend beurteilt werden, ob das der Fall war. Der Kläger hat die Wartezeit erfüllt. Zwar mögen die so genannten besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (36 Monate mit Beiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung in den letzten 60 Kalendermonaten) nicht vorliegen (vgl §§ 1246, 1247 RVO in der bis zum 31.12.1991 geltenden – neueren – Fassung ≪nF≫). Es fehlen jedoch Feststellungen des LSG dazu, ob der maßgebliche Rahmenzeitraum durch so genannte Aufschub- oder Streckungstatbestände iS von § 1246 Abs 2a Satz 2 RVO nF (Ausfallzeit oder Zeiten der Kindererziehung) in die Vergangenheit erweitert worden ist. Es bedürfte der Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen in § 1246 Abs 2a RVO nF allerdings nicht, wenn die Übergangsregelung des Art 2 § 6 Abs 2 ArVNG eingriffe. Auch insoweit fehlen Feststellungen des LSG.
Wenn die Frage der Rechtswidrigkeit der Bescheide wegen Verstoßes gegen die Vorschriften der RVO nicht hätte bejaht werden können, wäre zu prüfen gewesen, ob die og Bescheide aus dem Jahre 1991 nicht bereits deshalb rechtswidrig waren, weil sie dem Kläger nicht (bereits) die ihm auch nach Meinung des LSG ab 1.1.1992 zustehende Rente bewilligten.
Maßgeblich für die Frage, auf welchen Zeitraum sich der Bescheid bezieht, ist eine Auslegung nach dem insoweit maßgebenden “objektivierten” Empfängerhorizont (vgl BSG vom 8.12.1993, SozR 3-1300 § 34 Nr 2 S 4). Der Kläger hatte seinen Rentenantrag im Jahre 1991 bereits – auch – im Hinblick auf das neue, erst ab 1.1.1992 geltende Recht gestellt, was sich aus seiner gemeinsam mit seiner Ehefrau gleichzeitig abgegebenen Erklärung über die Zuordnung von Kindererziehungszeiten und Kinderberücksichtigungszeiten (die erst mit Wirkung ab 1.1.1992 eingeführt wurden) ergibt. Dann aber spricht vieles dafür, dass der ablehnende Rentenbescheid vom 19.6.1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.1991 nicht anders aufzufassen war, als dass er sich auch auf die Rechtslage ab 1.1.1992 bezog. Er hat jedenfalls seinen Regelungsgehalt nicht ausdrücklich auf den Rechtszustand bis zum 31.12.1991 beschränkt. Augenscheinlich hat ihn auch der Kläger als abschließende Regelung aufgefasst und deshalb nicht sogleich einen (weiteren) Rentenantrag nach neuem Recht gestellt.
Die Erteilung eines “vorwirkenden” Bescheids war der Beklagten auch nicht untersagt. Es ist durchaus üblich, dass zB Altersrenten nicht nur bereits vor Vollendung des maßgebenden Lebensalters beantragt, sondern auch durch Bescheid bewilligt werden. Der damit ermöglichte nahtlose Übergang vom Arbeitsentgelt zur Rente ist gesetzlich vorgesehen: Er wird zB durch das Verfahren der Vorausbescheinigung nach § 194 iVm § 70 Abs 4 SGB VI unterstützt. Für die besondere Fallgestaltung wie beim Kläger war nach § 17 Abs 1 Nr 1 SGB I eine “vorwirkende” Bescheiderteilung angebracht. Es stand bereits bei Stellung seines Rentenantrags vom 25.1.1991 fest, dass ihm (jedenfalls) ab Januar 1992 Rente wegen EU zustehen wird. Das ab 1.1.1992 geltende Recht war bereits vor Jahresende 1989 verkündet worden. Diese lange Vorlaufzeit sollte einen möglichst reibungslosen Übergang vom alten zum neuen Recht ermöglichen; dazu diente auch die Übergangsvorschrift des Art 80 des Rentenreformgesetzes 1992, die insbesondere “Verzögerungen bei den nach In-Kraft-Treten neu beginnenden Renten … vermeiden” sollte (BT-Drucks 11/4124 S 238 zu Art 72 des Entwurfs).
Im Übrigen könnte bereits das “Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses” (BSG 4. Senat vom 28.6.1990, BSGE 67, 104, 113 f = SozR 3-1300 § 32 Nr 2) dagegen sprechen, einen Rentenantrag durch Widerspruchsbescheid vom Dezember 1991 ablehnen zu dürfen, wenn ab 1.1.1992 ein Rentenanspruch besteht.
Hätte das LSG diese Erwägungen angestellt, hätte bereits auf der Grundlage seiner Rechtsmeinung die Anwendung des § 44 Abs 4 SGB X nahe gelegen. Jedenfalls aber zeigt gerade der Fall des Klägers, von welchen Differenzierungen es abhängen kann, ob ein Rücknahmeanspruch nach § 44 SGB X oder ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch besteht. Eben dies spricht für die Lösung des Senats, die Rückwirkung in beiden Fällen einheitlich zu begrenzen.
Schließlich sei zur Erwägung des LSG, die Beklagte habe die Einrede der Verjährung nicht erhoben, darauf hingewiesen, dass in jeder Geltendmachung des Rechts, auf Grund Zeitablaufs nicht mehr leisten zu müssen, die Einrede der Verjährung enthalten sein kann (vgl zB BGH vom 3.4.1996 – XII ZR 86/95, NJW 1996, 1894, 1895); dies muss dann aber auch für die Berufung auf § 44 Abs 4 SGB X (hier etwa in der Berufungserwiderung) gelten.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen