Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 14.09.1990) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. September 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um (die Anrechnung von Entgelt auf) „vorgezogenes” Übergangsgeld.
Die 1931 geborene Klägerin bezog als Personalsachbearbeiterin bis Juni 1988 ein monatliches Bruttoentgelt von (zuletzt) 4.252,– DM. Sie beantragte im Mai 1987 bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) medizinische Leistungen zur Rehabilitation, im Juli 1987 Rente wegen Berufs- bzw Erwerbsunfähigkeit. Vom 24. November 1987 bis zum 19. Januar 1988 nahm sie an einem von der Beklagten gewährten Heilverfahren teil, an das sich eine ärztlich verordnete Schonungszeit bis zum 26. Januar 1988 anschloß; im Entlassungsbericht wurde die Klägerin für fähig befunden, eine zweistündige bis unterhalbschichtige Tätigkeit zu verrichten.
Mit streitigem Bescheid vom 25. Mai 1988 gewährte die Beklagte, ausgehend von einem am 22. Mai 1987 eingetretenen Versicherungsfall, für die Zeit vom 27. Januar 1988 an Rente wegen Berufsunfähigkeit. Durch weiteren streitigen Bescheid vom 6. Juni 1988 erkannte die Beklagte den Anspruch auf Übergangsgeld ab dem 1. Juni 1987 an, lehnte aber dessen Zahlung ab, weil in der genannten Zeit das Nettoarbeitsentgelt den Betrag des Übergangsgeldes überschritten habe (Hinweis auf § 18f Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes – AVG). Während des Widerspruchsverfahrens wandelte die Beklagte die Berufsunfähigkeitsrente mit Wirkung vom 1. Juli 1988 in Rente wegen Erwerbsunfähigkeit um (Bescheid vom 11. August 1988). Den Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 21. Februar 1989 zurück: Für die Zeit vom 1. Juni 1987 bis zum 26. Januar 1988 entfalle ein Anspruch auf Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, weil dem Grunde nach Anspruch auf Übergangsgeld bestanden habe, auf das allerdings das höhere Nettoarbeitsentgelt anzurechnen gewesen sei.
Das Sozialgericht Lüneburg (SG) hat die auf Zahlung des Übergangsgeldes in Höhe der Berufsunfähigkeitsrente für die Zeit vom 1. Juni 1987 bis zum 26. Januar 1988 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 7. Februar 1990). Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat die Berufung der Klägerin als unzulässig verworfen. In der angefochtenen Entscheidung vom 14. September 1990 ist im wesentlichen ausgeführt, die Berufung sei entsprechend der im SG-Urteil enthaltenen Rechtsmittelbelehrung nicht zulässig, weil sie iS des § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe. Zwar handele es sich hier um den Anspruch auf vorgezogenes Übergangsgeld; dieses sei aber an die Stelle der Rente getreten (§ 18d Abs 1 Satz 2 AVG). Da Ausgestaltung und Zwecksetzung des vorgezogenen Übergangsgeldes der anschließenden Rente entsprächen, müsse der Berufungsausschluß gleichermaßen gelten.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor, daß und weshalb nach ihrer Rechtsauffassung der Berufungsausschluß des § 146 SGG nicht auf das Übergangsgeld erstreckt werden könne, selbst wenn dieses an die Stelle der Rente getreten und in deren Höhe zu zahlen sei (Hinweis auf das inzwischen erlassene Urteil des 13. Senats des Bundessozialgerichts -BSG- vom 6. März 1991 – 13/5 RJ 52/90). Deshalb habe das Berufungsgericht kein Prozeßurteil erlassen dürfen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. September 1990 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückzuverweisen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Berufung der Auffassung der Klägerin an, meint aber, daß die Klägerin in der Sache selbst keinen Erfolg haben könne.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist im Sinne des gestellten Antrages begründet. Das angefochtene Urteil muß aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Die Klägerin hat mit Recht gerügt, das LSG hätte ihre Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der Sache selbst entscheiden müssen. Denn Gründe für einen Ausschluß der Berufung liegen nicht vor:
Nach § 143 SGG findet gegen Urteile der Sozialgerichte die Berufung an das Landessozialgericht statt, „soweit sich aus den Vorschriften dieses Unterabschnitts nichts anderes ergibt”. Dies bedeutet, daß die Berufung im Grundsatz zulässig, in den vom Gesetz genannten Ausnahmefällen dagegen ausgeschlossen ist (vgl BSGE 1, 69, 71; 22, 226, 227). Den Berufungsausschluß in der gesetzlichen Rentenversicherung regelt § 146 SGG. Danach ist in Angelegenheiten der Rentenversicherungen die Berufung nicht zulässig, soweit sie Beginn oder Ende der Rente oder nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betrifft. Beim Streitgegenstand des anhängigen Verfahrens handelt es sich um die Zahlung vorgezogenen Übergangsgeldes für einen abgelaufenen Zeitraum, nicht um Rente. Die Auffassung des LSG, § 146 SGG sei auf vorgezogenes Übergangsgeld entsprechend anwendbar, hält der erkennende Senat nicht für zutreffend.
Zwar hatte das BSG zunächst auch das Übergangsgeld für abgelaufene Zeiträume in den Anwendungsbereich des § 146 SGG einbezogen (Urteil des 12. Senats vom 27. September 1963 – 12/3 RJ 64/61 = SozR Nr 11 zu § 146 SGG; Beschluß des 4. Senats vom 9. Januar 1969 – 4 RJ 91/68 = Nr 48 zu § 150 SGG). Demgegenüber ist jedoch der 11. Senat des BSG im Urteil vom 27. April 1978 – 11 RA 39/77 (BSGE 46, 167 = SozR 1500 § 146 Nr 8) zu dem Ergebnis gelangt, § 146 SGG sei jedenfalls auf Übergangsgeld iS des § 17 AVG idF des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG) vom 7. August 1974 (BGBl I, 1881) nicht mehr anwendbar; denn seit dem RehaAnglG gebe es das Übergangsgeld in mehreren Bereichen des Sozialrechts, also nicht nur als spezielle Leistung der Rentenversicherung, so daß es nicht mehr als rentenähnlich bezeichnet werden könne; es unterscheide sich hinsichtlich seiner Voraussetzungen, seiner Berechnung und seines Zweckes deutlich von einer Rente der gesetzlichen Rentenversicherung.
Allerdings hat der 11. Senat in dem genannten Urteil offengelassen, ob das Verbot der entsprechenden Anwendung des § 146 SGG auf das Übergangsgeld auch dann gilt, wenn das Übergangsgeld in der Rentenversicherung an die Stelle einer Rente tritt (§ 18d Abs 1 Satz 2 AVG). Diese Frage hat nun der 13. Senat des BSG in dem von der Klägerin zitierten Urteil vom 6. März 1991 bejaht und ausgeführt, § 146 SGG sei auch auf Übergangsgeld nach § 1241d Abs 5 der Reichsversicherungsordnung -RVO- (= § 18d Abs 5 AVG), das anstelle der Rente in Höhe der Rente zu gewähren ist, nicht entsprechend anzuwenden.
Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Sie stimmt überein mit der Rechtsprechung, die zur Parallelvorschrift des § 146 SGG – § 145 Nr 2 SGG – ergangen ist. Dort ist für die Unfallversicherung entschieden worden, daß hinsichtlich eines Anspruchs auf Verletztengeld (§ 560 RVO) für einen bereits abgelaufenen Zeitraum die Berufung nicht ausgeschlossen sei, weil sich diese Leistung nach Zweck, Voraussetzungen und Berechnungsgrundlagen erheblich von „Rente” unterscheide (Urteil vom 27. Oktober 1967 – 2 RU 222/65 = BSGE 27, 188 = SozR Nr 1 zu § 560 RVO). Daß es auch für Ausnahmevorschriften kein Analogieverbot schlechthin geben mag (vgl BSGE 57, 192, 196 und SozR 1200 § 42 Nr 4), steht nicht der Aussage entgegen, § 146 SGG sei (ebenso wie § 145 aaO) gleichwohl wegen seines Ausnahmecharakters, aber auch nach dem Grundsatz der Rechtsmittelklarheit vornehmlich am Wortlaut orientiert auszulegen (BSG SozR 1500 § 146 Nr 16; zum Grundsatz der Rechtsmittelklarheit vgl GmSOGB in SozR 1500 § 161 Nr 18 S 36).
Hiernach ist es nur folgerichtig, wenn der 13. Senat in dem genannten Urteil ausgeführt hat (aaO, S. 5, 6), das Übergangsgeld verliere seinen Charakter nicht dadurch, daß es – dort gemäß § 1241d Abs 5 RVO – in Höhe der Rente zu gewähren sei; vielmehr verbiete es die gebotene restriktive Auslegung des § 146 SGG, das Übergangsgeld bei der Zulässigkeit der Berufung aufzuspalten je nachdem, wie es im konkreten Fall zu berechnen sei. Deshalb ist es für die Zulässigkeit der Berufung auch ohne Belang, daß es in dem vom 13. Senat entschiedenen Fall darum ging, gemäß § 1241d Abs 5 RVO „anstelle der Rente Übergangsgeld in Höhe der Rente zu zahlen”, während vorliegend nach § 18d Abs 4 AVG iVm Abs 1 Satz 2 AVG ein Anspruch auf Übergangsgeld geltend gemacht wird, das „wenigstens in Höhe der Rente zu zahlen” ist.
Da das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel beruhen kann, war es aufzuheben und dem LSG die Möglichkeit zu eröffnen, nunmehr eine Sachentscheidung zu treffen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Hierbei wird die einschlägige höchstrichterliche Rechtsprechung zu beachten sein.
Bei seiner das Verfahren abschließenden Entscheidung wird das Berufungsgericht auch über die Kosten des gesamten Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen