Verfahrensgang
LSG Berlin (Urteil vom 19.08.1988) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 19. August 1988 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Herstellung einer Versicherungsunterlage für Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten, die in der UdSSR bzw in Rumänien zurückgelegt worden sein sollen.
Die Revisionsklägerin ist die Rechtsnachfolgerin des 1920 in der Bukowina (damals Rumänien) geborenen und am 16. Februar 1991 verstorbenen H. … E. … (im folgenden: Antragsteller – Ast.), der als rassisch Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) anerkannt war. Der Ast. lebte bei Beginn der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen im Jahre 1941 in C. … und nach Beendigung der Deportation (März 1944) von 1944/1945 an in F. … /Rumänien. Im Oktober 1950 wanderte der Ast. zusammen mit seiner Frau von Rumänien nach Israel aus, dessen Staatsbürger er seitdem war.
Der Ast. beantragte im Januar 1983 bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ua die Herstellung von Versicherungsunterlagen für Versicherungszeiten, die er nach seinen Angaben in der UdSSR und in Rumänien zurückgelegt hatte. So sei er von Anfang 1940 bis August 1941 in C. … in einer Eier-Kooperative als kaufmännischer Angestellter beschäftigt gewesen und habe Beiträge zur (damals russischen) Versicherung entrichtet. Er stamme aus einem deutschsprachigen Elternhaus. Sowohl seine erste als auch seine zweite Ehefrau (Heirat 1947) seien deutscher Volkszugehörigkeit. Im persönlichen Lebensbereich habe er zu dem Zeitpunkt, als er Rumänien verlassen habe, noch Deutsch gesprochen und dies auch weiterhin getan.
Die Beklagte, die die Entschädigungsakten des Ast. zum Verfahren beigezogen hatte, lehnte den Antrag ab, da sich aus der im Entschädigungsverfahren durchgeführten Sprachprüfung ergebe, daß der Ast. Deutsch nicht wie eine Muttersprache schreibe und nicht ersichtlich sei, wann und wo er die deutsche Sprache überwiegend benutzt habe (Bescheid vom 13. Juli 1983). Zur Begründung des hiergegen eingelegten Widerspruchs bezog sich der Ast. auf das Protokoll der vom israelischen Finanzministerium durchgeführten Sprachprüfung. In dem Bericht vom 2. Juli 1970 heißt es hierzu, die Eltern des Ast. hätten beide eine deutsche Schulausbildung gehabt und seien deutscher Muttersprache gewesen. Der Ast. habe von 1926 bis 1934 eine rumänische Volksschule und von 1934 bis 1938 ein rumänisches Gymnasium mit der Fremdsprache Deutsch besucht. Die Muttersprache auch seiner zweiten Ehefrau sei Deutsch. Der Ast. spreche Deutsch mühelos, lese es fließend und schreibe Deutsch mit mehreren Fehlern. Obwohl er manueller Arbeiter sei, spreche er ein formsicheres Deutsch mit beachtlichem Wortschatz. Ebenso wie seine Mutter und sein Bruder, die als dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) zugehörig bestätigt worden seien, habe der Ast. bei Beginn der Verfolgung dem dSK angehört. Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 25. September 1984 zurück.
Klage und Berufung des Ast. sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Berlin vom 10. September 1985; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Berlin vom 19. August 1988). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, es sei schon zweifelhaft, ob der Ast., der auch die rumänische Sprache beherrsche und nur Schulen mit Rumänisch als Unterrichtssprache besucht habe, in einem rein deutschsprachigen Elternhaus aufgewachsen und Deutsch seine Muttersprache sei. Jedenfalls habe er zum maßgeblichen Zeitpunkt 1950 nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit noch die deutsche Sprache mehr als das Rumänische verwendet. Er habe insbesondere keine Einzelheiten über seine Sprachgewohnheiten in der Zeit von 1945 bis 1950 vorgetragen. Soweit sich der Ast. darauf berufe, daß die Entschädigungsbehörden die Zugehörigkeit seines Bruders Max und einer Tante zum dSK bestätigt hätten, ändere dies an der Beurteilung seiner Zugehörigkeit nichts.
Der Ast. hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und eine Verletzung des § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) gerügt. Das LSG habe nicht berücksichtigt, daß eine Zugehörigkeit zum dSK nur nach einer Übergangszeit, die hier noch nicht abgelaufen gewesen sei, hätte verlorengehen können. Des weiteren habe das Berufungsgericht verkannt, daß einem – verfolgungs- und kriegsbedingt – erzwungenen Wechsel des Sprachverhaltens nicht die gleiche Wirkung zukommen könne wie einem freiwilligen Wechsel.
Die Klägerin, die das Verfahren nach dem Tod des Ast. fortführt, beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte, die keinen Antrag stellt, trägt vor, über den geltend gemachten Anspruch könne mangels Sachaufklärung noch nicht entschieden werden. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ende auch bei nicht mehr überwiegendem Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich die Zugehörigkeit zum dSK erst nach einer Übergangszeit, deren Dauer von den Umständen des Einzelfalles abhänge. Diesem Gesichtspunkt trügen die angegriffenen sozialgerichtlichen Entscheidungen noch nicht Rechnung. Deswegen sei eine Prüfung der Frage, ob der Ast. ursprünglich dem dSK angehört habe, noch nicht erfolgt. Das sei nunmehr nachzuholen. Gewisse Angaben der Zeugen in den Versicherungen an Eides Statt vom 8. Mai 1986 sowie die Erklärung vom 10. September 1987 könnten im Zusammenhang mit den Entschädigungsakten die dSK-Zugehörigkeit des Ast. bei Verfolgungsbeginn glaubhaft machen. Eine solche wäre zwischen diesem Ereignis im Jahre 1941 und der Auswanderung im Jahre 1950 nach Maßgabe weiterer Prüfung noch nicht verlorengegangen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet.
Nach § 11 Abs 2 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO – idF vom 3. März 1960 – BGBl I S 137, zuletzt geändert durch Art 3 des Rentenanpassungsgesetzes ≪RAG≫ 1990 vom 28. Mai 1990, BGBl I S 986, aufgehoben mit Wirkung vom 1. Januar 1992 durch Art 41 Nr 1 des Renten-Überleitungsgesetzes ≪RÜG≫ vom 25. Juli 1991, BGBl I S 1606) sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes (FRG) Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Der Ast. gehörte nicht zum Personenkreis des § 1 FRG. Nach den bisherigen Feststellungen des LSG steht auch nicht fest, ob er die Voraussetzungen des § 17a FRG idF des Art 14 Nr 17 des RÜG, in Kraft getreten am 1. Juli 1990 (Art 42 Nr 3 aaO), erfüllte. Das kann indes zunächst offenbleiben; denn für den vor dem 1. Juli 1990 liegenden Zeitraum können mögliche Versicherungszeiten des Ast. in der UdSSR und Rumänien nach den §§ 15, 16 FRG nur dann nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 – vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 des Rentenreformgesetzes 1992 ≪RRG 1992≫ vom 18. Dezember 1989 – BGBl I S 2261) stehen bei der Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) „vertriebene Verfolgte” gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Das FRG ist somit dann zugunsten des Ast. anzuwenden, wenn er zwar „vertrieben” war, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebener anerkannt werden konnte.
Gemäß § 1 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer – als deutscher Volkszugehöriger – nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen Rumänien verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger im Sinne des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu wird in § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG bestimmt, daß § 19 Abs 2 Buchstabe a Halbsatz 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift reicht es aus, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat. Nach § 20 Abs 2 WGSVG idF des RRG 1992 wird vermutet, daß die Zugehörigkeit zum dSK eine wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ist. Das gilt nicht, wenn das Vertreibungsgebiet nachweislich im wesentlichen aus anderen Gründen verlassen worden ist, weil der Zugehörigkeit zum dSK nicht annähernd das gleiche Gewicht zukommt. Eine verfolgungsbedingte Abwendung vom dSK oder eine Wohnsitznahme in einem nichtdeutschsprachigen Land widerlegt allein diese Vermutung nicht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum dSK eine „im Regelfall” ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279, 281 = SozR 5070 § 20 Nr 3; vgl auch BSG SozR aaO Nrn 2, 4, 5, 13, jeweils mwN); denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprachkreis, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher „im Regelfall” aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat. Wer sich allerdings freiwillig, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingt, von dem Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Bereich auf Dauer abwendet, gehört nicht mehr dem dSK an (BSGE 50, 279, 281; BSG SozR 5070 § 20 Nr 4 S 14; Nr 13 S 50; SozR 3-5070 § 20 Nr 1; Urteil des Senats vom 28. Juni 1990 – 4 RA 40/88).
Aber auch derjenige, der Deutsch als Muttersprache gesprochen hat und nach Beendigung der Verfolgungsmaßnahmen zunächst weiterhin im persönlichen Lebensbereich verwendet, verliert die Zugehörigkeit zum dSK nicht unmittelbar mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwiegt; die Zugehörigkeit bleibt vielmehr regelmäßig für eine Übergangszeit erhalten (BSGE 50, 279, 282 = SozR aaO Nr 3 S 9; Nr 13 S 48; SozR 3-5070 § 20 Nr 1). Dabei hängt die Dauer der Übergangszeit nicht nur von den subjektiven – persönlichen – Gründen, die zum Nichtgebrauch des Deutschen geführt haben, sondern auch von den objektiven Lebensverhältnissen ab, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind (BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 1; Urteile des erkennenden Senats vom 16. August 1990 – 4 RA 18/89 – und vom 27. September 1990 – 4 RA 32/89). Eine indizielle Bedeutung für eine freiwillige Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten – auch im persönlichen Bereich – um so weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben.
Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen hat das LSG die Bedeutung des Rechtsbegriffs der „Abwendung vom dSK” verkannt. Es hat zunächst schon nicht berücksichtigt, daß – auf der Grundlage seiner bisherigen Feststellungen – Anhaltspunkte für eine Lösung des Ast. vom dSK nicht vorliegen. Der Umstand allein, daß er nicht hinreichend vorgetragen haben soll, er habe auch in der Zeit von 1945 bis 1950 im persönlichen Lebensbereich überwiegend Deutsch gesprochen, reicht für die Annahme einer Lösung vom dSK nicht aus, zumal wenn er – wie geltend gemacht – mit Frauen, die ebenfalls dem dSK zugehörig waren, verheiratet war. Zudem ist nicht berücksichtigt worden, daß selbst bei der Feststellung eines Lösungstatbestandes die dSK-Zugehörigkeit nicht mit dem Eintritt dieses Tatbestandes endet. Sie bleibt, wie oben dargestellt, noch für eine Übergangszeit erhalten. Selbst wenn man also, wie vom LSG wohl unterstellt, den Beginn der Lösung des Ast. vom dSK im Ende der Verfolgung sehen würde, wäre der zwischen diesem Zeitpunkt und der Auswanderung (Oktober 1950) liegende Zeitraum nicht zu lang, um nach der Rechtsprechung des BSG (vgl zuletzt Urteil des Senats vom 26. September 1991 – 4 RA 89/90 – zur Veröffentlichung vorgesehen) als Übergangszeit im aufgezeigten Sinne in Betracht zu kommen.
Sofern der Ast. mithin ursprünglich dem dSK angehört haben sollte, wozu das LSG – ausgehend von seiner Rechtsauffassung zu Recht – keine Feststellungen getroffen hat, hätte er diese Zugehörigkeit auch im Zeitpunkt der Auswanderung allein aufgrund des Zeitablaufs noch nicht verloren. Ohne diese Feststellungen kann jedoch nicht entschieden werden, ob dem Ast. der geltend gemachte Anspruch zustehen kann.
Ergibt sich bei den vom LSG hierzu nachzuholenden Ermittlungen, bei denen alle zugänglichen Beweismittel zu verwerten sind, daß der Ast. ursprünglich dem dSK angehört und diese Zugehörigkeit auch nicht aufgrund anderweitiger Umstände bis zum Zeitpunkt der Auswanderung verloren hat, liegen die Voraussetzungen des § 20 WGSVG vor. Zugleich wären die Voraussetzungen des am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17a FRG erfüllt. Dabei reicht es für das Tatbestandsmerkmal des § 17a Buchst a Nr 3 FRG „sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt hatten” im Hinblick auf das mit dieser Vorschrift angestrebte Ziel der Gleichstellung der deutschen Juden mit deutschstämmigen Aussiedlern aus (vgl BT-Drucks 11/5530, S 29), daß der Ast. „dem Judentum zugehörig”, also Jude war.
Das LSG wird danach weiter zu untersuchen haben, ob und ggf welche Versicherungszeiten der Ast. in der UdSSR bzw in Rumänien zurückgelegt hat.
Die Revision der Klägerin mußte daher zur Zurückverweisung der Streitsache an das LSG führen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen