Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 17.11.1989)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 1989 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit hat.

Der 1936 geborene Kläger hat den Gipserberuf bis 1953 erlernt und einige Jahre ausgeübt. Nach einer Dienstzeit als Zeitsoldat war er ab 1959 als Kraftfahrer (Führerscheinklasse 2) beschäftigt. Wegen eines Arbeitsunfalles, bei dem er einen Bruch des ersten Lendenwirbelkörpers erlitt, erhielt er 1977 und 1978 vorübergehend eine Unfallrente nach einer MdE von 30 bzw 20 vH. Ein erster, 1983 gestellter Rentenantrag blieb erfolglos. Sein Beschäftigungsverhältnis ist zum 30. September 1986 gelöst worden.

Den im Juli 1985 erneut gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17. September 1985 ab. Den Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 24. April 1986 zurück.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Oktober 1986 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren und die weitergehende, auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete, Klage abgewiesen (Urteil vom 22. Oktober 1987). Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt und der Kläger Anschlußberufung. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Die Anschlußberufung des Klägers hat es zurückgewiesen (Urteil vom 17. November 1989).

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und der §§ 62, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 22. Oktober 1987 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. November 1989 als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet. Das LSG hat § 1246 Abs 2 RVO nicht richtig angewandt und § 62 SGG verletzt.

Das LSG hat unangegriffen festgestellt, daß der Kläger seinen bisherigen Beruf als Kraftfahrer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben kann. Für die Beurteilung des qualitativen Werts der bisherigen Tätigkeit des Klägers ist das LSG auch zu Recht davon ausgegangen, daß als bisheriger Beruf des Klägers der des Berufskraftfahrers zugrundezulegen ist. Der Kläger hat nach den Feststellungen des LSG die Kenntnisse und Fähigkeiten eines Berufskraftfahrers und war auch zuletzt noch als Fahrer eines Lkws beschäftigt.

Soweit das LSG davon ausgegangen ist, als Berufskraftfahrer gehöre der Kläger zur Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters iS des von der Rechtsprechung entwickelten Berufsgruppenschemas, kann der Senat dies nicht abschließend entscheiden. Unter ausschließlicher Berücksichtigung der Dauer der Ausbildung zum Berufskraftfahrer von zwei Jahren (vgl § 2 der Berufskraftfahrer-Ausbildungsverordnung vom 26. Oktober 1973 – BGBl I S 1518 –) gehört der Berufskraftfahrer noch nicht zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters, da allein bezogen auf ihre Ausbildungsdauer dieser Gruppe nur Berufe mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren zuzurechnen sind (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 143 und Nr 159 = BSGE 64, 85). Der Beruf des Berufskraftfahrers ist auch nicht trotz seiner kürzeren Ausbildungszeit als sog Erwachsenenberuf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters einzuordnen. Der Senat hat in dem in BSGE 66, 84 veröffentlichten Urteil darauf hingewiesen, daß nach § 7 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) niemand ein Kraftfahrzeug der Klasse 2 vor Vollendung des 21. Lebensjahres führen darf, es sei denn, die Verwaltungsbehörde habe eine Ausnahme nach § 7 Abs 2 StVZO zugelassen. Er hat daraus geschlossen, daß möglicherweise der Beruf des Berufskraftfahrers im allgemeinen erst in einem Alter erlernt wird, das höher ist als das Ausbildungsalter bei anderen Arbeiterberufen. Der qualitative Wert dieser Tätigkeit könne deshalb trotz einer nur zweijährigen Ausbildungszeit anders zu beurteilen sein. Dies sei aber nicht der Fall, wenn auch der Beruf des Kraftfahrers regelmäßig in einem Alter begonnen werden könne, das auch für die sonstigen gesetzlich geregelten Anlernberufe maßgebend sei. Letzteres hat das LSG festgestellt. Die Auszubildenden können nach diesen Feststellungen die Prüfung für den Führerschein der Klasse 2 regelmäßig schon vor Vollendung des 18. Lebensjahres ablegen und erhalten einen Tag nach Vollendung des 18. Lebensjahres die Fahrerlaubnis der Klasse 2 ausgehändigt. Die gegen diese Feststellung gerichteten Angriffe der Revision sind unbegründet. Unerheblich ist, daß die Zahl der Auszubildenden gering ist (in Baden-Württemberg im Jahr 1989 nur 100). Diese geringe Zahl von Auszubildenden spricht zwar dafür, daß ein Großteil der Berufskraftfahrer keine Ausbildung nach dem in der oben angegebenen Ausbildungsverordnung vorgesehenen regelmäßigen Ausbildungsgang durchlaufen haben werden. Sie mögen nach langjähriger Tätigkeit als Kraftfahrer die Prüfung ohne ordnungsgemäße Ausbildung abgelegt haben. Entscheidend ist aber nicht, ob die Prüfung außerhalb des ordnungsgemäßen Ausbildungsganges häufig erst im höheren Alter abgelegt wird, sondern ob die Ausbildung regelmäßig in einem Alter aufgenommen und abgeschlossen werden kann, das dem in anderen Ausbildungsberufen entspricht. Letzteres ist nach den oa Feststellungen der Fall.

Damit kann jedoch nicht abschließend entschieden werden, ob der Beruf des Klägers zur Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters oder des Facharbeiters gehört. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats sind auch Versicherte, die in Tätigkeitsbereichen ohne anerkannte Ausbildung oder mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren gearbeitet haben, der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zugeordnet, wenn diese Tätigkeiten den anerkannten Ausbildungsberufen mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung – insbesondere wegen ihrer Bedeutung für die Betriebe – tarifvertraglich qualitativ gleichgestellt sind (vgl die Urteile in BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16, BSGE 58, 239 = SozR aaO Nr 129 und SozR aaO Nr 164 und zuletzt Urteile vom 14. Mai 1991, 5 RJ 82/89 – zur Veröffentlichung vorgesehen –, 5 RJ 59/90). Dieser Rechtsprechung hat sich auch der 13. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) angeschlossen (vgl Urteile vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 69/90 und 13/5 RJ 17/90).

Aus der vom LSG im Urteil getroffenen Feststellung, der Kläger sei als Berufskraftfahrer beschäftigt gewesen und auch entsprechend bezahlt worden, vermag der Senat nicht zu erkennen, ob in dem für den Kläger maßgebenden Tarifvertrag seine Tätigkeit als Berufskraftfahrer der eines Facharbeiters qualitativ gleichgestellt ist oder der eines angelernten Arbeiters. Von dem Ergebnis dieser Ermittlungen hängt ab, ob der Kläger wegen seines bisherigen Berufs zur Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters gehört.

Die Entscheidung des LSG erweist sich nach den bisher getroffenen Feststellungen auch nicht aus anderen Gründen als richtig. Die vom LSG genannte Verweisungstätigkeit eines Pförtners ist als ungelernte und tarifvertraglich einer Anlerntätigkeit nicht gleichgestellte Tätigkeit einem Facharbeiter nicht zumutbar. Die vom LSG außerdem genannte Tätigkeit eines Registrators der Vergütungsgruppe VIII BAT ist als Verweisungstätigkeit von ihrem Wert her grundsätzlich auch einem Facharbeiter zumutbar, was von der Revision nicht bestritten wird (vgl hierzu auch das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 12. September 1991 in der Sache 5 RJ 34/90). Sie wäre damit dem Kläger auch dann zumutbar, wenn sein bisheriger Beruf der Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen wäre.

Die Feststellung des LSG, der Kläger könne noch die Tätigkeit eines Registrators, der nach Vergütungsgruppe VIII BAT entlohnt wird, verrichten und innerhalb von weniger als drei Monaten erlernen, ist aber verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG hat diese Feststellung auf eigene Gerichtskunde gestützt. Es hat die Tätigkeiten eines Registrators bei einem Gericht, die ihm selbst bekannt sind, zugrunde gelegt. Dabei hat das LSG gegen § 62 SGG verstoßen. Der Kläger kann sich mit Erfolg darauf berufen, daß er auf diese vom LSG angenommene Gerichtskunde im Verfahren nicht hingewiesen worden ist. Zwar hat die Beklagte im Berufungsverfahren die Tätigkeit eines Registrators, der in die Vergütungsgruppe VIII BAT eingestuft ist, als mögliche Verweisungstätigkeit benannt. Der Kläger hat aber im Berufungsverfahren zu Recht geltend gemacht, daß er bei der Vielzahl der von der Beklagten genannten Verweisungstätigkeiten einer näheren Darlegung der Zumutbarkeit (dh der spezifischen Anforderungen und des Werts) der einzelnen Verweisungstätigkeiten benötige. Das LSG hat seinerseits zwar darauf hingewiesen, daß es „einfachere Angestelltentätigkeiten” für zumutbar halte. Aus diesem Hinweis vor der mündlichen Verhandlung konnte der Kläger aber nicht entnehmen, daß das LSG eine Verweisung auf Registraturtätigkeiten der Vergütungsgruppe VIII BAT für möglich halten werde. In diese Vergütungsgruppe sind „Angestellte im Büro-, Registratur-, … sonstigen Innendienst … mit schwierigerer Tätigkeit …” eingruppiert, während einfachere Registraturarbeiten in die Vergütungsgruppe IXb BAT (Fallgruppe 1a) eingestuft sind, auf die der Kläger nicht verweisbar ist (vgl Senatsurteil vom 12. September 1991 aaO).

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174208

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge