Entscheidungsstichwort (Thema)
Übergangsgeld. Berechnung des Regellohns
Leitsatz (amtlich)
Für die Berechnung des Regellohns dürfen Entgelt- und Zeitfaktor auch einem Beschäftigungsverhältnis entnommen werden, das gegen die Arbeitszeitordnung verstößt.
Normenkette
AFG § 59 Abs 2 S 1; AFG § 59 Abs 3 S 1; RehaAnglG § 13 Abs 6; ArbZO §§ 2-3, 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des dem Kläger für zwei Jahre zu gewährenden Übergangsgeldes (Übg) während seiner Umschulung zum Büromaschinenmechaniker ab April 1987. Vor Beginn der beruflichen Rehabilitation hatte der Kläger in zwei Beschäftigungsverhältnissen wöchentlich insgesamt 62 Stunden gearbeitet und dabei monatlich brutto rund 4.800,-- DM verdient. Dem entsprach ein Nettoentgelt von 2.760,-- DM, aus dem die Beklagte unter Berücksichtigung der Nettoverdienstgrenze und unter Zugrundelegung einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nur 48 Stunden ein Übg von kalendertäglich zunächst 49,08 DM = monatlich 1.472,20 DM errechnete (Bescheid vom 10. Juli 1987 und Widerspruchsbescheid vom 29. September 1987). Der Kläger hatte im gerichtlichen Verfahren in beiden Instanzen mit seinem Begehren Erfolg, die tatsächliche wöchentliche Arbeitszeit von 62 Stunden der Berechnung zugrunde zu legen (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 1. Juli 1988 und Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 22. November 1988). In den Entscheidungen wird ausgeführt, daß der Regellohn iS des § 59 Abs 3 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) aus der Summe beider Beschäftigungen zu ermitteln sei, ohne daß sich im Rehabilitationsrecht (anders als in §§ 44, 112 AFG beim Unterhaltsgeld -Uhg-) eine Begrenzung auf die tarifliche Arbeitszeit und damit auf die nach der Arbeitszeitordnung (AZO) zulässige Stundenzahl ergebe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, das angefochtene Urteil verstoße gegen § 59 AFG iVm den Grundsätzen des Arbeitszeitrechts. Als Inhalt des Arbeitsverhältnisses iS von § 59 Abs 3 AFG könne nur das gelten, was von der Rechtsordnung im ganzen gebilligt werde. Werde gegen die Bestimmungen der AZO verstoßen, führe dies zur teilweisen Nichtigkeit der arbeitsrechtlichen Vereinbarungen, so daß der insoweit entgangene Verdienst durch das Übg nicht ersetzt werden dürfe.
Die Beklagte beantragt,
die entgegenstehenden Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Anspruchsgrundlage für das dem Kläger gewährte Übg ist § 59 AFG (idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes vom 20. Dezember 1985 - BGBl I S 2484). Die Vorinstanzen haben die Voraussetzungen dieser Vorschrift geprüft und zutreffend für erfüllt gehalten; sie haben auch die Grundlage für die Bemessung des Übg richtig festgelegt.
Das Übg ist nach dem Regellohn, dh nach dem entgangenen regelmäßigen Entgelt, zu bemessen (§ 59 Abs 2 Satz 1 AFG). Der Regellohn bestimmt sich nach dem Entgelt, das der Kläger im letzten vor Beginn der Maßnahme abgerechneten Lohnabrechnungszeitraum des letzten Beschäftigungsverhältnisses - Bemessungszeitraum - erzielt hat (§ 59 Abs 3 Satz 1 AFG; dazu BSGE 58, 175, 178 ff = SozR 4100 § 59 Nr 3). Als letztes Beschäftigungsverhältnis sind, wovon auch die Beklagte zutreffend ausgeht, beide vom Kläger ausgeübte Tätigkeiten zu berücksichtigen (vgl BSGE 37, 189, 191 = SozR 2200 § 560 Nr 1).
Das Übg soll während der Fördermaßnahme, solange der Behinderte infolge der Teilnahme an ihr nicht erwerbstätig sein kann, den ausfallenden Lohn ersetzen und weiterhin annähernd denjenigen Lebensunterhalt gewährleisten, der durch das letzte vorher erzielte Arbeitseinkommen ermöglicht wurde (BSGE 53, 229, 232 = SozR 1241 Nr 21; SozR 2200 § 568 Nr 6). Wie bei der Berechnung des Krankengeldes aus der gesetzlichen Krankenversicherung, das dem Übg während der beruflichen Rehabilitation angeglichen ist (§ 13 Rehabilitations-Angleichungsgesetz -RehaAnglG- vom 7. August 1974, BGBl I S 1881; vgl BSG SozR 2200 § 1241 Nr 32 S 109), richtet sich die Höhe der Leistung zwar nach dem entgangenen regelmäßigen Arbeitsentgelt, dem sog Regellohn. Der maßgebende Regellohn ist dabei nicht der vom Behinderten während der Umschulung mutmaßlich sonst erzielte Verdienst, der innerhalb einer Bezugszeit entsprechend der jeweiligen Lohnhöhe und Arbeitszeit sowie entsprechend den jeweiligen Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer verschieden hoch sein könnte und sich oft erst im nachhinein feststellen ließe. Im Gesetz ist vielmehr ein von vornherein berechenbarer Regellohn bestimmt, der kraft unwiderlegbarer gesetzlicher Vermutung als dasjenige Entgelt gilt, das der Versicherte unter normalen Verhältnissen während der Arbeitsunfähigkeit oder während der Umschulung verdient hätte (vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 92 unter Bezugnahme auf Nr 59). Die Faktoren der Regellohnberechnung, die Höhe des Entgelts und die Zahl der sich aus dem Inhalt des Arbeitsverhältnisses ergebenden regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden sind also nicht die Größen, die bei Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses weiterhin gegolten hätten oder gelten würden, sondern der im zurückliegenden Arbeitsverhältnis tatsächlich regelmäßig angefallene Zeitbedarf und die Höhe des vereinbarten Stundenlohns. Eine Begrenzung auf die tarifliche Arbeitszeit oder eine nach der AZO zulässige Stundenzahl enthält das Gesetz nicht. Eine solche Begrenzung ergibt sich auch nicht im Wege der Auslegung der anzuwendenden Regeln.
Ob im vorliegenden Fall der Kläger in einem Umfang gearbeitet hat, der gegen die AZO (AZO vom 13. April 1938, RGBl I 447, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 10. März 1975, BGBl I S 685) verstieß, hat die Beklagte nicht ermittelt und kann auch nach den Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden. Die nach §§ 2, 3 und 5 AZO festgelegte Höchstgrenze von 10 Stunden an sechs Werktagen kann nämlich bei einer Beschäftigung als Kraftfahrer überschritten werden (vgl hierzu Denecke/Neumann, AZO, 10. Aufl 1987, § 9 RdNrn 12 f; Meisel/Hiersemann, AZO, 2. Aufl 1977 § 2 RdNrn 117 f). Auch fehlt es an Feststellungen dazu, ob die für den Kläger bescheinigte Arbeitszeit Pausen umfaßte; denn bezahlte Ruhepausen gelten nicht als Arbeitszeit iS der AZO (vgl Meisel/Hiersemann, aaO, § 2 RdNrn 3 f, 6). Eine weitere Sachaufklärung ist indessen entbehrlich, weil die Klage auch bei einem Verstoß gegen die AZO Erfolg hat.
Ein Verstoß gegen die AZO, die auch auf sog Doppelarbeitsverhältnisse Anwendung findet (BAG AP § 1 AZO Nr 2; Denecke/Neumann, aaO, § 2 RdNr 24), hat keine Bemessung des Regellohns nach anderen als nach den tatsächlichen regelmäßigen Verhältnissen zur Folge. Ein Rückgriff auf Tarifvertrag oder die nach AZO zulässige Arbeitszeit sieht das AFG für das Übg in Übereinstimmung mit dem RehaAnglG nicht vor. Es steht insoweit im Einklang mit den Schlußfolgerungen, die aus der Teilnichtigkeit arbeitsvertraglicher Vereinbarungen im Arbeitsrecht gezogen werden, und mit der vollständigen Unbeachtlichkeit derartiger Verstöße für das Recht der Beitragserhebung sowie für das Leistungsrecht der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Auch bei einem Verstoß gegen die AZO behält der Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber seinen Vergütungsanspruch für bereits geleistete Arbeit (BAG AP § 611 BGB - Doppelarbeitsverhältnis Nr 1; Denecke/Neumann, aaO, § 2 RdNr 24 und § 15 RdNr 29 mwN). Die Beitragserhebung knüpft nicht an das - evtl teilnichtige - Arbeitsverhältnis, sondern an das faktische Beschäftigungsverhältnis und den dort erzielten Lohn an. Aus diesem Lohn werden später auch die Lohnersatzleistungen erbracht. Das folgt für das Beitragsrecht der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung ebenso wie für die Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit (§ 173a AFG) und für das Leistungsrecht in Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung aus dem einheitlichen Entgeltbegriff des § 14 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung - (SGB IV), der das Entgelt nicht auf das in einer nach der AZO zulässigen Zahl von Arbeitsstunden erzielte Entgelt begrenzt.
Die Besonderheiten des AFG, für dessen Leistungsrecht das SGB IV nach § 1 SGB IV nicht gilt, können zwar zu eigenständiger Leistungsberechnung führen (BSG SozR 4100 § 68 Nr 3; § 112 Nr 30; BSGE 63, 149, 151 = SozR 4100 § 112 Nr 38); so wird für das Arbeitslosengeld und das Uhg nach § 112 Abs 3 und 4 AFG und für Kurzarbeiter- und Schlechtwettergeld nach § 69 AFG die tarifliche oder die betriebsübliche Arbeitszeit als Obergrenze der Bemessung zugrunde gelegt (vgl hierzu BSG SozR 4100 § 112 Nrn 7, 27, 41, 48; BSGE 61, 137). Das beruht auf ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung, weil nicht die Vergangenheit, sondern die zu erwartende zukünftige Entgeltzahlung zum Maßstab der Lohnersatzleistung gemacht werden soll. Außertarifliche oder betriebsunübliche Arbeitszeit soll nicht durch Kurzarbeiter- oder Schlechtwettergeld subventioniert werden; Arbeitslose, deren letztes Entgelt durch ungewöhnlich lange Arbeitszeiten bestimmt war, sollen durch die Höhe des Alg nicht davon abgehalten werden, in Zukunft zu tariflichen Bedingungen zu arbeiten. Eine in gleicher Weise die zukünftige Entwicklung nachzeichnende Berechnung wird auch im zivilrechtlichen Schadensersatzrecht vorgenommen (BGH LM § 134 BGB Nr 115 = NJW 1986, 1486 f), worauf die Revision zu Recht hinweist.
Eine solche die zukünftige Entwicklung einbeziehende Betrachtungsweise ist der Beklagten jedoch im Bereich der beruflichen Rehabilitation seit dem RehaAnglG verwehrt; seit diesem Zeitpunkt sind die Ersatzleistungen der unterschiedlichen Träger einander angeglichen und vereinheitlicht worden (BT-Drucks 7/1237 S 51 f). Seitdem ist die Berechnung der Geldleistungen in allen Bereichen der Rehabilitation einheitlich (vgl auch BSG SozR 4100 § 59 Nr 4). Ihr Berechnungsmodus entspricht nicht den Besonderheiten des AFG, sondern denen der übrigen Zweige der Sozialversicherung. Es handelt sich um eine vergangenheitsorientierte Anknüpfung an die tatsächliche Gestaltung der Verhältnisse, die aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder der zügigen Leistungsgewährung im Interesse der Versicherten keine Prüfung erlaubt, ob das frühere Entgelt dem Arbeitnehmer im Rahmen eines wirksamen Arbeitsverhältnisses zugeflossen ist, oder ob evtl Gesetzesverstöße vorgelegen haben (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung S 310 q I; Friederichs in Wannagat SGB IV, Stand Juni 1988, § 7 RdNr 18; Gitter, VSSR 1977, S 323 f; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts I, 1965 S 310). Für die Berechnung des Übg wird der Arbeitnehmer eines zivilrechtlich (teil-) nichtigen Arbeitsverhältnisses genauso behandelt, als hätte er aufgrund eines rechtswirksamen Arbeitsvertrages gearbeitet.
Rechtsstaatliche Bedenken, die möglicherweise nicht für alle Gesetzesverstöße von der Hand zu weisen sind, bestehen bei Verstößen gegen die AZO nicht. Es handelt sich im wesentlichen um Schutzvorschriften zugunsten der Arbeitnehmer, die als Ordnungswidrigkeit geahndet werden (vgl im einzelnen hierzu Denecke/Neumann aaO § 1 RdNr 1; § 25 RdNr 5; OLG Düsseldorf, Zeitschrift für Schadensrecht 1987 S 317 f). Die Kürzung des Übg wäre zudem ein untaugliches Mittel, auf die Einhaltung der AZO hinzuwirken. Eine Kürzung der Rehabilitationsleistungen unter 70 vH des alten Nettoentgelts gefährdet vielmehr die Rehabilitation. Dem Kläger war mit den angefochtenen Bescheiden nur noch eine Nettolohnersatzquote von 53 vH zugebilligt worden. Ein derartiges Absinken hat der Gesetzgeber - trotz zahlreicher Einschränkungen auch im Reha-Recht - niemals für zumutbar gehalten. Eine erfolgreiche berufliche Rehabilitation setzt eine angemessene Sicherung des Lebensunterhalts voraus.
Die von den Vorinstanzen im einzelnen dargelegte Berechnungsmethode, die von der Beklagten in der Revisionsinstanz nochmals im einzelnen nachvollzogen worden ist, ist zutreffend. Das jeweils weniger als 80 vH des Bruttoarbeitsentgelts betragende Nettoarbeitsentgelt aus beiden Beschäftigungen ist durch die jeweils geleistete monatliche Arbeitszeit zu teilen. Die Teilbeträge sind mit den jeweils vereinbarten regelmäßigen wöchentlichen Arbeitsstunden zu vervielfachen und dann durch sieben zu teilen. Die Summe dieser beiden Regellöhne bildet den Regellohn (hier 90,78 DM), aus dem der Kläger 70 vH als kalendertägliches Übg erhält. Die Revision der Beklagten war daher in vollem Umfang abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen