Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. März 1990 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger erlitt am 4. Juni 1985 einen Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen er von der Beklagten Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH erhält. Seine Klage auf Zahlung einer Rente nach einem höheren Grad der MdE blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 16. März 1989 – L 7 U 2265/87).
Mit Schreiben vom 24. Februar 1988 beantragte der Kläger, ihm zur Prüfung von Schadensersatzansprüchen gegen seinen Arbeitgeber den Untersuchungsbericht des Technischen Aufsichtsdienstes der Beklagten über seinen Arbeitsunfall zu übermitteln.
Die Beklagte lehnte dies ab, da der Bericht Betriebsgeheimnisse und damit geschützte Sozialdaten Dritter enthalte (Bescheid vom 29. Juli 1988; Widerspruchsbescheid vom 13. September 1988). Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 19. Oktober 1989 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Einsicht in den Untersuchungsbericht des Technischen Aufsichtsdienstes zu gewähren, der über den Arbeitsunfall des Klägers vom 4. Juni 1985 angefertigt wurde.
Das LSG hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 1. März 1990 als unzulässig verworfen. Es hat die begehrte Akteneinsicht als einmalige Leistung und deshalb die Berufung nach § 144 Abs 1 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für nicht zulässig angesehen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision macht die Beklagte geltend, das LSG habe zu Unrecht die Berufung als unzulässig verworfen, da es sich bei der begehrten Akteneinsicht nicht um eine Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG handele.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 1. März 1990 und das Urteil des SG Stuttgart vom 19. Oktober 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Berufung zwar für zulässig, da die von ihm begehrte Einsicht nicht eine bloße einmalige Sozialleistung sei, sondern Ausfluß und Ausgestaltung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Das Bundessozialgericht (BSG) könne jedoch in der Sache selbst entscheiden, da die dazu notwendigen Tatsachen vom SG festgestellt seien. Die Revision stelle weiterhin zu stark auf die angeblich notwendige Zustimmung der Mitgliedsfirma ab. Dabei werde verkannt, daß es in unserem gesamten Rechtssystem ein derartiges stringentes Zustimmungserfordernis nicht gebe.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Entgegen der Auffassung des LSG ist die Berufung gegen das Urteil des SG zulässig, da – wovon beide Beteiligten zutreffend ausgehen – die begehrte Akteneinsicht keine einmalige Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG ist und andere Berufungsausschlußgründe ebenfalls nicht ersichtlich sind. Zwar sind einmalige Leistungen iS dieser Vorschrift nicht ausschließlich Geld- oder geldwerte Leistungen der Versicherungs- und Versorgungsträger (BSG SozR 1500 § 144 Nr 30).
Vielmehr werden als Leistungen iS dieser Vorschrift alle Sozialleistungen zugunsten des einzelnen unabhängig davon angesehen, ob sie nun als Sozialleistungsansprüche (BSGE 11, 102, 107) oder als typische Sozialleistungen (BSG SozR aa0 Nr 26) bezeichnet wurden (s BSG SozR aaO Nr 30; Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, § 144 RdNr 5; Bley in SGB-SozVers-Gesamtkommentar, § 144 SGG Anm 3). Dienstleistungen können auch dazu gehören, als behördliche Handlungen aber nur solche, die den Behörden durch das Sozialrecht auferlegt sind (BSG SozR Nr 30 zu § 144 SGG, SozR 1500 § 144 Nr 39).
Das BSG hat dementsprechend in seinem – vom LSG nicht übersehenen – Urteil vom 14. Dezember 1988 (BSG SozR 1500 § 144 Nr 39; zustim. Tannen DRV 1990, 440, 441) entschieden, daß zu den behördlichen Handlungen, auf die ein Leistungsanspruch iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG bestehen könnte, nicht solche Handlungen gehören, die den Sozialleistungsträgern durch das Verwaltungsverfahrensrecht auferlegt sind, das dafür sorgt, daß über die sozialrechtlichen Leistungen in einem rechtsstaatlichen Verfahren entschieden wird. Zu diesen von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG nicht erfaßten Handlungen hat das BSG in dieser Entscheidung die Übersendung von Fotokopien gerechnet, die, wie sich aus § 25 Abs 5 des Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren – (SGB X) ergibt, von dem Anspruch auf Akteneinsicht umfaßt wird (BSG SozR aaO).
Im vorliegenden Fall ist Rechtsgrundlage für die vom Kläger begehrte Akteneinsicht allerdings nicht § 25 SGB X. Nach dieser Vorschrift hat die Behörde den Beteiligten Einsicht in die das Verfahren betreffenden Akten zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Das Recht auf Akteneinsicht nach dieser Vorschrift beschränkt sich somit auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens (Schroeder-Printzen/ von Wulffen, SGB X, 2. Aufl 1990, § 25 Anm 4; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 231 s I). Der Kläger hat die Akteneinsicht noch im Klageverfahren und somit in einem Zeitpunkt beantragt, in dem das Verfahren über seine Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß seines Arbeitsunfalls vom 4. Juni 1985 noch nicht rechtskräftig abgeschlossen war. Es kann dahinstehen, ob Akteneinsicht nach § 25 SGB X bis zum Eintritt der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes (so VG Berlin NVwZ 1982, 576, 577; Reha RV 1982, 125, 128 und 130; Grüner, SGB X, § 25 Anm III 1) oder auch bei einem anschließenden Klageverfahren nur für die Dauer des Verwaltungsverfahrens selbst zu gewähren ist (so Jahn, SGB für die Praxis, § 25 SGB X RdNr 1). Jedenfalls betrifft die vom Kläger begehrte Einsicht in den Bericht des Technischen Aufsichtsdienstes über seinen Arbeitsunfall keine Akteneinsicht iS des § 25 SGB X. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift hat die Behörde den Beteiligten Einsicht in „die das Verfahren betreffenden Akten” zu gestatten, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist. Gemeint sind die für das „jeweilige, konkrete Verfahren” angefertigten Akten (Schroeder-Printzen/ von Wulffen aa0 § 25 Anm 4). Der Untersuchungsbericht des Technischen Aufsichtsdienstes über den Arbeitsunfall des Klägers vom 4. Juni 1985 hat jedoch – entgegen der Auffassung des LSG – nicht zu den das Entschädigungsverfahren des Klägers betreffenden Akten gehört. Der Bericht war weder Teil der die Entschädigung des Klägers betreffenden Akten der Beklagten noch war er in diesem Verwaltungsverfahren oder im anschließenden gerichtlichen Verfahren beigezogen (vgl Kopp, VwVfG, 4. Aufl 1986, § 29 RdNr 5; Stelkens/Bonk/ Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl 1990, § 29 RdNr 20; Obermayer, Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Aufl 1990, § 29 RdNr 10; Brackmann aa0 S 231 s; Schroeder-Printzen/von Wulffen aa0; Hauck/Haines, SGB X, 1, 2, § 25 RdNr 20; Grüner aa0 § 25 Anm III 2). Er war nicht im inneren Zusammenhang mit dem Entschädigungsverfahren des Klägers angelegt, so daß er auch nicht unter diesem von Schwab (Das Recht auf Akteneinsicht, 1989, S 22) für maßgebend erachteten Kriterium zu den Akten des Entschädigungsverfahrens des Klägers gerechnet werden kann. Eine allgemeine, umfassendere – wie das LSG meint -”Unfallakte” hat es für das den Kläger betreffende Entschädigungsverfahren nicht gegeben.
Der Kläger begehrt somit die Akteneinsicht außerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens. Sie ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Fraglich ist nur, ob auf sie ein Rechtsanspruch besteht oder ob sie – wie überwiegend angenommen wird – im Ermessen der Behörde steht (s BVerwGE 30, 154, 160; Stelkens/Bonk/Leonhardt aaO § 29 RdNr 10; Obermayer aaO § 29 RdNr 5; Kopp aaO § 29 RdNr 3; Schoenemann DVBl 1988, 520). Diese Frage kann im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit der Berufung offen bleiben; denn beide möglichen Rechtsansichten hierzu rechtfertigen es nicht, die begehrte Akteneinsicht anders als die Akteneinsicht nach § 25 SGB X als eine einmalige Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG anzusehen; denn diese „behördliche Handlung” ist dem Sozialleistungsträger nach allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätzen und somit noch weniger als die Akteneinsicht nach § 25 SGB X „durch das Sozialrecht” (BSG SozR aa0 Nr 39) auferlegt. Das BSG hat zwar das Begehren auf Verurteilung der Bundesanstalt für Arbeit zur Auskunftserteilung über die einem Bundesministerium gemeldeten Stellen als eine Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG angesehen, da zu den Sozialleistungen iS des § 11 des Sozialgesetzbuches – Allgemeiner Teil – (SGB I) auch die Leistungen der Arbeitsförderung und hierunter ausdrücklich die Arbeitsberatung und Arbeitsvermittlung nach den §§ 13 bis 23 des Arbeitsförderungsgesetzes gehören, ohne daß es einer inhaltlichen Klärung bedarf, ob und in welcher Weise sie im einzelnen zur Verwirklichung sozialer Rechte dienen (BSG SozR 1500 § 144 Nr 30). Während man jedoch die Auskunft über soziale Angelegenheiten iS des SGB jedenfalls als eine – sogar ausdrücklich geregelte – Sozialleistung iS des § 11 SGB I ansehen muß, betrifft die Gewährung von Akteneinsicht außerhalb eines Verwaltungsverfahrens iS des § 8 SGB X eine Verwaltungshandlung, die der Akteneinsicht iS des § 25 SGB X nähersteht als den Sozialleistungen iS des § 11 SGB I, zu denen auch die Auskunft iS des § 15 SGB I speziell im Rahmen eines bestehenden Sozialrechtsverhältnisses gehört.
Anders als der 7. Senat des BSG in seinem Urteil vom 25. Juli 1985 (SozR 1500 § 144 Nr 30) und der 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 14. Dezember 1988 (SozR aa0 Nr 39), hatte allerdings der 11. Senat des BSG in seinem Urteil vom 25. Oktober 1984 (SozR aa0 Nr 27) es als kein Kriterium für die Auslegung des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG erachtet, ob die Leistung iS dieser Vorschrift eine Sozialleistung iS des § 11 SGB I ist. Aber auch insoweit unterscheidet sich die Gewährung von Akteneinsicht wesentlich von dem Anspruch auf Erstattung der Kosten eines Vorverfahrens, der Gegenstand des dem Urteil des 11. Senats zugrundeliegenden Streites war und als „Leistung” iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG angesehen wurde. Deshalb sieht der Senat entgegen der Auffassung des LSG entsprechend der Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 14. Dezember 1988 (aa0) die Berufung nicht nach § 144 Abs 1 Nr 1 SGG als unzulässig an, auch wenn sie das Begehren auf Akteneinsicht außerhalb eines Verwaltungsverfahrens betrifft.
Der Senat kann in der Sache selbst nicht zugunsten der Beklagten durchentscheiden und unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Klage abweisen. Zwar sind behördliche Verfahrenshandlungen grundsätzlich nicht isoliert anfechtbar (BSG SozR 1500 § 144 Nr 39; Schroeder-Printzen/von Wulffen aa0 § 25 Anm 1; Grüner aa0 § 25 Anm X; Jahn aa0 § 25 SGB X Anm 9; Pickel, Das Verwaltungsverfahren, § 25 Anm 6; krit Tannen aa0; aA Brackmann aa0 S 231 s VI, 231 c IV). Unabhängig von den vom Bundesverfassungsgericht (NJW 1991, 415) aufgezeigten Grenzen bei einer entsprechenden Anwendung des § 44a der Verwaltungsgerichtsordnung betrifft dies jedoch nur Verfahrenshandlungen innerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens, dessen abschließende Verwaltungsentscheidung der gerichtlichen Überprüfung unterliegt und in deren Rahmen dann auch über die Rechtmäßigkeit der Verfahrenshandlung – nur – gleichzeitig mit dem gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelf entschieden werden kann. Eine derartige Prüfung gleichzeitig mit der Sachentscheidung, zu deren Zweck die Akteneinsicht begehrt wird, ist aber nicht möglich in einem Verfahren, das ausschließlich die Rechtmäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht außerhalb eines Verwaltungsverfahrens betrifft. Deshalb ist in solchen Fällen der Verwaltungsakt, mit dem die Akteneinsicht abgelehnt wird, selbständig anfechtbar ist (s BSG SozR 3900 § 35 Nr 1; ebenso das LSG NRW in der hier angefochtenen Entscheidung; Kopp aa0 § 29 RdNr 36; Stelkens/Bonk/Leonhardt aa0 § 29 RdNr 20; Obermayer aa0 § 29 RdNr 19; s auch VG Berlin NVwZ 1982, 576; Mengel, Die Verwaltung 1990 ≪Bd 23≫, 377, 388).
Ungeachtet der Frage eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius (vgl Meyer-Ladewig aa0 § 123 RdNr 5), vermag der Senat auch nicht zugunsten des Klägers die Revision der Beklagten deshalb zurückzuweisen, weil er deren Berufung als zwar zulässig, aber unbegründet ansieht. Eine Entscheidung in der Sache zugunsten des Klägers vermag der Senat schon deshalb nicht zu treffen, weil das LSG – nach seiner Rechtsauffassung zu Recht – nicht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, nach deren Abwägung erst die Frage entschieden werden kann, ob die Beklagte die Akteneinsicht zu Recht verweigert hat. In diesem Zusammenhang sieht der Senat es für untunlich iS des § 170 Abs 2 Satz 2 SGG an, für das Berufungsgericht bindend bereits die Frage zu entscheiden, ob die Akteneinsicht außerhalb eines laufenden Verwaltungsverfahrens, insbesondere wenn sie die Schweigepflicht betreffen kann, zu der die von der Berufsgenossenschaft beauftragten Personen nach § 715 RVO verpflichtet sind, im Ermessen steht oder ob der Antragsteller ebenfalls einen Rechtsanspruch darauf hat. Schließt sich das LSG der vorherrschenden Auffassung an, bedarf es noch der Entscheidung, ob der Beklagten im Rahmen der Entscheidung über die Akteneinsicht ein Ermessen auch insoweit zusteht, als es die Berücksichtigung des Schutzes der Sozialdaten Dritter betrifft (s ua Prochnow in Beiträge zum Sozialrecht ≪Festgabe für Hans Grüner≫, 1982, 463; Bühler RV 1988, 141, 144; Schoenemann DVBl 1988, 520). Auch über die von der Beklagten aufgeworfene Frage der notwendigen Beiladung des betroffenen Arbeitgebers nach § 75 Abs 2 Alternative 1 SGG hat das LSG noch zu entscheiden. Das LSG hat grundsätzlich die ihm bei einer zulässigen Berufung obliegende umfassende Prüfung der Klage in tatsächlicher und, damit verbunden, in rechtlicher Hinsicht wahrzunehmen, bevor das BSG als Revisionsgericht unter Beachtung auch der Argumente des Berufungsgerichts den Rechtsstreit in der Sache abschließend entscheidet.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen